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23
03
2017

In Rom wird Armin Hary 1960 zum Olympiasieger über 100 Meter. ©Bildarchiv Heinrich von der Becke im Sportmuseum Berlin.

Zum 80. Geburtstag Armin Harys – Der deutsche Vorläufer – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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Er war der schnellste Läufer der Welt. Doch auch seine Karriere war schnell vorbei. Sie währte nur drei Sommer. Bis zu seinem Olympiasieg von Rom 1960 war Armin Hary nicht nur seinen Konkurrenten, sondern auch seiner Zeit so deutlich voraus, dass sein Name bis heute nachklingt.
 
Dreimal musste er die hundert Meter in 10,0 Sekunden laufen, bis die Kampfrichter sie als Weltrekord anerkannten. Bis heute ist kein anderer deutscher Sprinter so schnell gerannt.

Armin Hary war ein Star, wie es im deutschen Sport noch keinen gegeben hatte. In Jeans und kariertem Hemd und mit kess nach hinten geschobenem Strohhut statt im Trainingsanzug reiste er in Rom an, und so betrat er auch das Olympiastadion.

Er zeigte, was er konnte. Und er zeigte, dass er wusste, was er konnte.

Der junge, wilde Hary, in Rom gerade 23 Jahre alt, vertrat wie der 18 Jahre alte Amerikaner Cassius Clay, der Olympiasieger im Boxen wurde, und der 28 Jahre alte Äthiopier Abebe Bikila, der barfüßig Olympiasieger im Marathon wurde, die Aufsteiger-Mentalität des modernen Sports.

Sie wollten dorthin, wo sie ohne ihre sportliche Durchsetzungskraft niemals hingelangt wären: zu Anerkennung, Wohlstand, Selbstbestimmung. Ihnen sind Millionen gefolgt.

„Ich hatte keine Jugend“

Im Unterschied zu denen, die Sport und Olympia vertraten, kannten sie Hunger, Perspektivlosigkeit und Schläge. Benachteiligung. Dagegen kämpften sie an.

Hary, aufgewachsen in Armut in Quierschied im saarländischen Steinkohlerevier, blickt bitter zurück. „Ich hatte keine Jugend. Ich habe meine Kindheit und Jugend dem Sport geopfert“, sagte er in einem Gespräch vor wenigen Jahren. „Dann bin ich für Deutschland gelaufen. Und anschließend bekomme ich in den Hintern getreten! Da kann ich Cassius Clay verstehen, dass er das Ding in die Isar wirft.“

Die Verzweiflung, die Muhammad Ali, wie er sich später nannte, seine Goldmedaille wegen des Rassismus in seiner Heimat angeblich in den Mississippi hat werfen lassen, verspürte auch Hary in der Auseinandersetzung mit den Funktionären vom Typ Herrenreiter. Im Herbst 1959 nahm er ein Stipendium an der University of California in Los Angeles an.

„Nach drei Monaten hätte ich Amerikaner werden können“, sagt er. „Ich Idiot hab’s nicht gemacht. Wenn ich gewusst hätte, wie alles gekommen ist, hätte ich mich anders entschieden.“

Hary war aufmüpfig, als Athleten noch behandelt wurden wie Mündel.

„Die anderen hatten sich schon die ganze Zeit aufgeregt über ihre schlechten Betten“, erzählt er von seinem Eintreffen in Rom. „Martin Lauer hat immer gesagt: Wartet, bis der Armin kommt. Früher hatte ich schon Türen ausgehängt und sie unter zu weiche Matratzen gelegt. Diesmal habe ich geguckt, wo der Präsident unseres Verbandes wohnte: in einem Zimmer mit Kühlschrank und einem wunderbaren Holzbett und schönen Matratzen. Innerhalb einer Stunde hatte ich das umgeräumt. Die hatten unsere Eisenbetten, und wir die stabilen Holzbetten. Niemand hat etwas gesagt. Aber alle haben gewusst, wer das war.“

Hary verabscheute Funktionäre, die sich im Besitz des Sportes wähnten und Athleten wie Untergebene kommandierten. Und er verabscheute Nazis. Welch ein Hohn, dass ihm der Nazi-Funktionär Karl Ritter von Halt, Mitglied des IOC, in Rom die Goldmedaille verlieh.

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Armin Hary stand unter Verdacht, als es den Generalverdacht gegenüber Athleten noch nicht gab. „Hary ist als blitzartiger Starter bekannt, ja geradezu berüchtigt“, schreibt Walter Umminger 1960 im Rom-Buch des Nationalen Olympischen Komitees. „Er hat eine Art, die Atemzüge des Starters abzuschätzen und nach dem ,Auf die Plätze!‘ – ,Fertig!‘ – in den Schuss zu fallen, die einem listigen Zehntelsekundendiebstahl schon mehr als ähnlich ist. Er hat aber ohne Zweifel auch ein ungewöhnliches Reaktionsvermögen.“

In diese Grauzone von Verdacht und Staunen fallen die vielen Abbrüche seiner Rennen und die Annullierung seines zweiten Weltrekord-Laufes von Zürich 1960.

Sein erster Lauf von 10,0 Sekunden bereits 1958 wurde für ungültig erklärt, weil die Bahn in Friedrichshafen sich auf 100 Meter Länge angeblich neun Millimeter zu stark senkte. Im Letzigrund 1960 entschieden die Kampfrichter, als sie mit ihren Stoppuhren in der Hand die Zeit des Siegers bestimmen sollten, dass ein Fehlstart vorgelegen haben musste. Der Regelkunde des Journalisten Gustav Schwenk verdankt Hary die Gelegenheit, gut eine halbe Stunde später noch einmal starten zu dürfen. Wieder mussten die Zeitnehmer anerkennen: 10,0 Sekunden.

Seinem Biographen Knut Teske erzählte Hary von einer Begegnung 43 Jahre später. Ein alter Herr, seinerzeit Zeitnehmer, habe ihm gebeichtet, dass er die Zeit, die seine Stoppuhr anzeigte, unterschlagen habe: 9,8 Sekunden. Hary mag sich nicht mit Gedankenspielen beschäftigen, wie schnell er noch hätte laufen können. Allein der Vorstellung, er hätte sich auf einer Tartanbahn ausprobieren können, hängt er manchmal nach. Umgekehrt würde ein Usain Bolt auf der Aschebahn von damals kaum in Schwung gekommen sein, so groß und schwer, wie er ist.

Ein weiterer Verdacht beendete Harys Karriere. Die Funktionäre argwöhnten, dass er Profi war in ihrer Welt des Amateurismus. Weltrekord war er in Adidas-Schuhen gelaufen, zum Olympiasieg sprintete er in Puma – und ging zur Siegerehrung in Adidas. „Ich war mit beiden Dasslers befreundet“, sagt Hary über die verfeindeten Brüder. Wenn er nach Herzogenaurach fuhr, aß er dort mit Adi zu Mittag und mit Rudolf zu Abend. Lukrative Verträge mit ihren Unternehmen habe es nicht gegeben, schon gar nicht mit beiden zugleich.

„Keine müde Mark“, habe er bekommen.

Als der Deutsche Leichtathletik-Verband nachwies, dass Hary siebzig Mark Spesen für eine Bahnfahrt abgerechnet hatte, obwohl er mit dem Auto gefahren war – seinerzeit die übliche Art, Athleten zu bezahlen –, erwartete der Leichtathletik-Weltverband IAAF weitere Enthüllungen. Sobald es eine Sperre für Hary gebe, schrieb im Januar 1961 dessen Präsident Lord Burghley an den Präsidenten des IOC, Avery Brundage, „werden wir das zu hundert Prozent unterstützen. Das wird selbstverständlich bedeuten, dass er bei den Spielen ein Profi war, und er wird damit seine Goldmedaille verwirken, und vermutlich wird ihre Staffel ebenfalls disqualifiziert werden, da er mitgelaufen ist.“

Er glaube, schrieb der Brite, dass der Ausschluss zwar einen Aufschrei auslösen, langfristig aber dem Amateurismus helfen werde. Erst 1981 schaffte Olympia die fadenscheinig gewordene Regel ab und ließ Profis zu.

Da lag der Rücktritt des verbitterten Armin Hary nach einer Sperre von sieben Monaten zwanzig Jahre zurück. Der Sprinter aber war längst eine Legende. An diesem Mittwoch wird Armin Hary achtzig Jahre alt.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 22. März 2017 

 Michael Reinsch  

author: GRR

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