2011 IAAF World Outdoor Championships Daegu, South Korea August 27-September 5, 2011 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET
Zu viel Training schadet nur – Matthias de Zordo gewinnt Gold im Speerwerfen und beweist damit erneut, wie man auch mit bemerkenswert wenig Aufwand zu Top-Weiten kommt – Frank Bachner im Tagesspiegel
Berlin – Einer der Konkurrenten wollte ihm gratulieren, er wollte ihm einfach nur kurz die Hand gegen. Aber es war der falsche Moment. Matthias de Zordo saß auf seiner Bank und blickte verwirrt auf. Es sah aus, als hätte man ihn gerade aus einem Trancezustand geholt. Er wollte jetzt einfach mal für sich bleiben, ganz allein, mitten im Stadion von Daegu.
Weltmeister im Speerwerfen, das muss man erstmal verarbeiten.
Dann erhob er sich langsam, ein 23-jähriger alter Mann. Sekundenlang bewegt er sich, als wäre das alles so unwirklich. Später dann sagte er lachend: „Es fühlt sich fantastisch an.“ 86,27 Meter weit hatte er den Speer gleich im ersten Versuch geschleudert, ein Ausrufezeichen, wie schon bei der EM 2010 in Barcelona.
Da hatte de Zordo 86,22 Meter vorgelegt, dann auf 87,81 Meter erhöht und am Ende Silber gewonnen. Das war eine Sensation. De Zordo hatte seine Bestweite um dreieinhalb Meter übertroffen.
Dieses Gold von Daegu ist eine Riesenüberraschung. Auf Gold war eigentlich Andreas Thorkildsen gebucht, der Doppel-Olympiasieger, der Europameister von Barcelona. Aber der Norweger schwächelte, weiter als 84,78 Meter kam er nicht. Aber damit sicherte er sich immerhin noch Silber vor dem Kubaner Guillermo Martinez (84,30). De Zordo musste zwischenzeitlich sogar mal zum Physiotherapeuten, weil er den rechten Fuß überstreckt hatte.
Gold für de Zordo, das ist noch aus einem anderen Grund eine Riesenüberraschung. Hinter seinem Satz: „Ich lasse es ab und zu ein bisschen locker angehen“, da steckt eine Geschichte, die sein Trainer Boris Henry in einem Satz bündelt: „Er ist ein Phänomen.“
Kein Weltklasseathlet trainiert so wenig und wirft so weit wie der 23-Jährige aus Saarbrücken. Im Frühjahr war de Zordo in San Diego in einem Trainingslager. Dort schwitzte zu der Zeit auch Thorkildsen. De Zordo beobachtete den Norweger beim Sprungtraining, seine Augen wurden immer größer. Danach sagte er beeindruckt, er komme nicht halb so hoch. Schon in Barcelona erzählte Henry kopfschüttelnd: „In meinem Bundeskader ist er der Schlechteste im Sprint, der Schlechteste im Sprung, und er hat Kraftwerte wie ich mit 16 Jahren.“ Nur hat sich seither nicht viel verändert. Trotzdem hatte de Zordo schon Ende Mai in Ostrau 85,78 Meter geworfen.
De Zordo überraschte seinen Trainer auch mit der durchaus interessanten Theorie, gesunde Ernährung werde total überbewertet. Sicher, über mehr Krafttraining hatte er schon mal nach der EM nachgedacht, aber das kommt für ihn 2011 und 2012 trotzdem nicht in Frage. Er wird sich doch nicht ausgerechnet in solch wichtigen Jahren auf Experimente einlassen, sagte er überzeugt. Funktioniert doch auch so sehr gut. Daegu ist der Beweis.
Und mit der Technik hat er’s eigentlich auch nicht so. „Vorne hinrennen, rechtes Bein stehen lassen und draufdreschen“, mehr braucht’s doch nicht. „Ich bin eher der grobe Typ.“ Na, wenigstens wirft er den Speer nicht mehr „50 Meter in den Himmel“, wie Henry dankbar feststellt.
Die enormen Weiten verdankt de Zordo seinem Armzug. „Er kann eine ungeheure Spannung aufbauen“, sagt Henry. Das kommt von den Zeiten, als der Sportsoldat de Zordo noch Handballspieler war und als A-Jugendlicher in der Oberliga Tore warf. Lange hatte er sowieso geschwankt, ob er zum Speerwerfen wechseln soll. Aber dann wurde er 2007 mit dem Speer U-20-Europameister, danach war der Wechsel eingetütet. Und Henry sagte: „Wenn Du athletisch zulegst, wirst du mal einer der Tollsten.“
Nachdem de Zordo in Barcelona 87,81 Meter geworfen hatte, klatschte Thorkildsen Beifall. Es war die großzügige Geste eine Weltstars gegenüber einem Nobody, der plötzlich mal kurz aufgetrumpft hatte. In Daegu zog sich Thorkildsen unmittelbar nach dem Ende des Finals das Trikot aus und beachtete den Mann nicht groß, der zwei Meter weiter ziemlich verwirrt in die Gegend blickte. Aber der registrierte das wahrscheinlich gar nicht.
Sekunden später setzte sich Matthias de Zordo auf seine Bank und wollte eigentlich nur seine Ruhe.
Frank Bachner im Tagesspiegel, Sonntag, dem 4. September 2011