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11
08
2017

„Es ist ein schönes Gefühl, die Nummer eins zu sein“: Rico Freimuth findet an seiner Favoritenrolle Gefallen ©Victah Sailer

Zehnkämpfer Rico Freimuth Stark wie noch nie – Michael Reinsch, London in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0
Das muss wohl Freiheit sein. „Favoritenrolle?“, fragt Rico Freimuth, „was für eine Favoritenrolle?“ Der kraftstrotzende Athlet aus Halle an der Saale ist seit seinem Sieg in Ratingen mit der neuen Bestleistung von 8663 Punkten stärkster Zehnkämpfer des Jahres.
 
Ashton Eaton, jahrelang überragend der Erste unter den Königen der Athleten, ist nach seinem zweiten Olympiasieg im vergangenen Jahr abgetreten. Als kommenden Weltmeister sieht Freimuth sich bei den Titelkämpfen in London dennoch nicht. „Ist ein schönes Gefühl, die Nummer eins zu sein. Das kannte ich noch nicht“, sagt der 29-Jährige. „Aber das heißt gar nichts. Ich sehe mich nicht als den Stärksten.“

Nach einer durch und durch verkorksten Olympia-Saison, in der er alle drei Wettbewerbe vorzeitig beenden musste und in Rio de Janeiro wegen eines Rückenmarködems nach drei Disziplinen ausschied, ist Freimuth so stark zurückgekehrt wie noch nie.

Doch er hütet sich, hohe Erwartungen auszudrücken oder gar forsche Prognosen abzugeben für den zweitägigen Wettkampf, der an diesem Freitag (11.00 Uhr) beginnt. Er weiß nur zu gut, wie sehr unerfüllte Hoffnung und uneingelöste Versprechen, wie Erwartungsdruck selbst den talentiertesten Sportler lähmen können.

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„Jahrelang habe ich darum gekämpft, mich von meinem Vater zu befreien“, sagt der Athlet. „Er hat viel falsch gemacht. Als ich zwölf war, hat er mir schon gesagt, dass ich 8700 Punkte machen muss. Mehr Druck geht nicht.“

Der Gewinn der Bronzemedaille bei den Weltmeisterschaften vor zwei Jahren in Peking – im Wettkampf mit Eaton, der dort seinen bis heute gültigen Weltrekord von 9045 Punkten aufstellte – war Freimuths Durchbruch, die Befreiung vom ewigen Vergleich mit dem Über-Vater Uwe Freimuth. „Eine Medaille, das war mein Lebenstraum“, sagte er wenige Minuten nach dem abschließenden 1500-Meter-Lauf, dem bislang stärksten seines Lebens. „Ich war immer an mir gescheitert, hatte mein Potential nicht ausgeschöpft. Jetzt habe ich mein Ziel erreicht.“

Familie als Belastung

Wie auch hätte Freimuth zu sich selbst finden können, solange der Maßstab nicht sein eigenes Leistungsvermögen oder das seiner Konkurrenten war, sondern der geballte sportliche Erfolg seiner Familie? Uwe Freimuth, ein renommierter Sportwissenschaftler, war vier Mal Zehnkampf-Meister der DDR und ihr Rekordhalter gewesen mit einer Bestleistung von 8792 Punkten. Dessen Zwillingsbruder Jörg Freimuth gewann bei den Olympischen Spielen von Moskau 1980 mit 2,31 Meter die Bronzemedaille im Hochsprung.

Rico Freimuths Mutter war Siebenkämpferin; unter ihrem Mädchennamen Anke Tröger brach sie den Junioren-Weltrekord und wurde U-20-Europameisterin. Kein Wunder, dass die Kinder einem Vergleich über die Jahre und Jahrzehnte aus dem Weg gingen. Ricos ältere Schwester spielte Volleyball, sein Zwillingsbruder Basketball. Beide brachten es bis in die Junioren-Nationalmannschaft.

Rico Freimuth entschied sich erst spät, mit vierzehn, für die Leichtathletik. Fünfzehn Jahre später – zwei Jahre nach seinem Durchbruch von Peking – belegt er, dass er immer noch Entwicklungspotential hat. Sein Trainer Wolfgang Kühne betreut in Halle auch die derzeit verletzten Cindy Roleder und Michael Schrader, die WM-Zweite von Peking im Hürdensprint und den WM-Zweiten von Moskau im Zehnkampf. Weil Kühne und Freimuth in diesem Jahr an seinen verhältnismäßig schwachen Disziplinen gearbeitet haben, wartete der Zehnkämpfer in Ratingen mit drei Bestleistungen auf: 7,60 Meter im Weit-, 2,01 Meter im Hochsprung und 51,56 Meter im Diskuswerfen.

Im Stabhochsprung stellte er seine Bestleistung von London 2012 ein, 4,90 Meter. Die Sprints sind seine Stärke. 10,40 Sekunden ist er schon auf den hundert Meter gelaufen, 13,63 über die 110 Meter Hürden. Im Kugelstoßen stehen für Freimuth 15,62 Meter zu Buche, im Speerwurf 65,04 Meter. 400 Meter ist er vor fünfeinhalb Jahren in Götzis in 47,51 Sekunden gelaufen, die 1500 Meter vor vier Jahren in Ratingen in 4:34,69 Minuten. Was könnte man aus der Addition der Bestzeiten für ein großartiges Resultat errechnen!

„Das wollte ich immer werden: König der Athleten“, sagt Freimuth. Doch er meint damit die Beherrschung der komplexen zehn Disziplinen, nicht seinen Anspruch auf Platz eins. Den Durchbruch von Peking führt er auch darauf zurück, dass er sein Mobiltelefon im Hotel liegen ließ, um nicht ständig darauf mitzurechnen, wie viele Punkte er schon hat, welche Position das ergibt und welche Leistung dies vor allem in der nächsten Disziplin nötig macht. Statt zu kalkulieren, erzählt er, habe er seine Chance gerochen. „Ich bin nicht physisch stärker als in den vergangenen Jahren“, sagte er damals. „Aber ich bin reifer. Ich gehe die Dinge anders an.“

Noch im Jahr davor, bei den Europameisterschaften von Zürich, wollte er auf Biegen und Brechen den Titel holen – und wurde Siebter. „Eigentlich waren mein Trainer und ich schon geschiedene Leute“, sagt er. Nun gehen sie, nachdem der Trainer eine schwere Erkrankung durchgestanden hat, eine neue Phase in der Entwicklung eines Königs der Leichtathleten an.

Den perfekten Zehnkampf, sagt Freimuth, wolle er in zwei Jahren liefern. Bloß keine Erwartungen aufbauen, heißt das, auch für die bevorstehenden Titelkämpfe.

Michael Reinsch, London in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Donnerstag, dem 10. August 2917

Michael Reinsch  

author: GRR

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