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29
05
2007

Ob er nicht weniger Muskeln habe als im Moskauer Winter, als er mit 6192 Punkten den Siebenkampf der Hallen-Weltmeisterschaft gewann, mußte sich Niklaus fragen lassen. Und kalauert: "Die Zahl wird wohl die gleiche sein." Doch dann verrät er, dass er mit dem Aufbau der Kraft noch nicht am Ende ist.

Zehnkämpfer André Niklaus will zeigen, dass ich wieder da bin – Das Ende der Zurückhaltung – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)

By GRR 0

BERLIN. „Ich bin hungrig“, sagt André Niklaus, „ich freue mich auf Götzis.“ Seit einem Jahr hat der Zehnkämpfer aus Berlin keine Wettkämpfe mehr bestritten. Als Hallen-Weltmeister kam er vor einem Jahr nach Österreich, wurde wie bei der Weltmeisterschaft in Helsinki Vierter, mit 8239 Punkten – und musste seinem schmerzenden Fuß nachgeben. Ein entzündetes Knorpelplättchen in der Sohle machte eine Kortisonbehandlung und eine lange Pause notwendig.
Seitdem bereitet sich der Fünfundzwanzigjährige auf seine Rückkehr vor. An diesem Wochenende will er sich wieder einreihen bei den Besten der Welt.

Ob er nicht weniger Muskeln habe als im Moskauer Winter, als er mit 6192 Punkten den Siebenkampf der Hallen-Weltmeisterschaft gewann, mußte sich Niklaus fragen lassen. Und kalauert: „Die Zahl wird wohl die gleiche sein.“ Doch dann verrät er, dass er mit dem Aufbau der Kraft noch nicht am Ende ist. Vor allem zur technischen Weiterentwicklung hat Niklaus die Zeit ohne Wettkämpfe genutzt. „Das Problem war, den Körper herauszufordern“, sagt er, „aber nicht zu viel, sonst platzt gleich wieder alles auf.“

In Spanien, in Südafrika und zuletzt in Südfrankreich hat er sich in den vergangenen Monaten vorbereitet. Am Wochenende bestritt er acht Disziplinen eines Jedermann-Zehnkampfes. „Wo man Konkurrenz findet, sollte man sich herausfordern lassen“, sagt er. „Das ist das beste Training.“ Seine Bestleistung im Diskuswerfen von 46,13 Meter übertraf er dabei um fast einen Meter. Nun ist er zuversichtlich, auch die 8316 Punkte, die er bei der Weltmeisterschaft in Helsinki erreichte, übertreffen zu können. „Damit würde ich zeigen, dass ich wieder da bin.“
Sein Ziel, jedes Jahr hundert Punkte draufzulegen, will er gleichwohl erst zu den Saisonhöhepunkten erreichen: dieses Jahr bei der Weltmeisterschaft in Osaka, nächstes Jahr bei den Olympischen Spielen in Peking und 2009 bei der Weltmeisterschaft in seiner Heimatstadt Berlin. Wenn nicht dieses, sollte es nächstes Jahr für eine Medaille reichen.

Die Zeit der Zurückhaltung ist vorbei. „Trockenübungen“ nennt André Niklaus sein Techniktraining. Als er mit Tim Lobinger in Südafrika trainierte, ersetzte er den Stabhochsprung durch konzentrierten Anlauf mit Stab: acht Schritte, Ansatz und Schluss. „Man konzentriert sich so auf jedes Zehntel des Einstiches, dass man es verinnerlicht“, erklärt Niklaus. Stabhochsprung, seine Domäne mit der Bestleistung von 5,30 Meter, will er so ausbauen. Auch Weit- und Hochsprung trainierte Niklaus zeitweise „theoretisch“: ohne zu springen.

Im Hürdensprung hat Niklaus bei Idriss Gonschynska in Leipzig gelernt, dass es nicht reicht, „ran an die Hürde zu laufen und irgendwie drüberzuspringen“. Gemeinsam analysierten sie Aufnahmen des Chinesen Liu Xiang. „Er ist Weltrekordler. Irgendwas macht er richtig.“ Gelernt hat er: „Man muss ein bisschen Harakiri sein.“ Damit meint er die Automatisierung des Anlaufs, die absolute Verlässlichkeit des Starts. „Bei Liu Xiang sitzen die ersten acht Schritte“, erklärt Niklaus, „auf die kann er sich verlassen und sich auf die Hürde konzentrieren. Ich mache vier, fünf Schritte und denke: Oh, gleich kommt die Hürde.“ Tiefstart, drei Hürden – so übte Niklaus, „Druck in die Hürden zu machen statt einfach drüberzuspringen“.
Sogar den 1500-Meter-Lauf kann man simulieren: im Aquakanal. „Man rennt im Wasser, die Strömung presst auf einen und belastet die Lunge“, so Niklaus. „Man macht den Lauf, aber man belastet nicht die Füße.“

Gerade bei den kraftintensiven Übungen Kugelstoßen, Diskus- und Speerwurf ersparte er sich die enormen Belastungen, indem er sie ohne Kugel, Diskus und Speer trainierte. Um einer muskulären Dysbalance entgegenzuwirken und um das Verständnis für die Bewegung zu intensivieren, hält Trainer Rainer Pottel seinen Athleten auch zu Würfen und Sprüngen mit links an. Bei der Kopfsteuerung, die unerlässlich ist für einen Zehnkämpfer – er hat zum Beispiel in der Vorbereitung Zeit für höchstens 500 Speerwürfe, während ein Speerwerfer an die 3000 macht -, hilft der spiegelverkehrte Bewegungsablauf dem Verständnis.

„Meine Bestleistung im Hochsprung mit dem falschen, dem linken Bein ist 1,95 Meter zu 2,07“, sagt Niklaus. „Ich kann mit mir selbst einen Wettkampf austragen, wenn es um Sprünge geht. Mit links bin ich, glaube ich, ein kleines bisschen stärker, obwohl rechts mein Sprungbein ist.“ Noch als Siebzehnjähriger sprang er immer mit links. Den Speer wirft er mit links 30 Meter, mit rechts mehr als doppelt so weit.

Diese Art von Flexibilität birgt auch Gefahren. In Südafrika rannte André Niklaus einmal aus dem Startblock in die erste Hürde und verletzte sich. Erst verstand er nicht, warum er nicht hatte abspringen können. Dann fragte der Trainer: „Läufst du nicht sonst mit dem anderen Bein los?“ In Götzis wird Niklaus, da darf man sicher sein, den Zehnkampf nicht mit links erledigen.

MICHAEL REINSCH
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)
Sonnabend, dem 26. Mai 2007

author: GRR

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