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2023

Die Gruppe an der Zitadelle in Spandau - Foto: Sandra Bettermann-Ricke

Zehn weiße Rosen – Elf jüdische Erinnerungsorte – Sechs gelaufene Kilometer – Gedanken zum Erinnerungslauf am 9. November 2023 durch Berlin-Spandau von Dr. Erdmute Nieke

By GRR 0

Berlin hat viele Stadtteile. Die Idee ist, jedes Jahr am 9. November zur Erinnerung an die Pogromnacht von 1938, einen Stadtteil zu erlaufen und Orte zu erkunden, die an jüdisches Leben erinnern. 2021 waren wir in der Berliner Mitte unterwegs, im letzten Jahr in Charlottenburg und nun in Spandau.

Neun Menschen trafen sich nach Feierabend um 18 Uhr an der Zitadelle Spandau um auf sechs Kilometern mehr als 700 Jahre jüdische Geschichte in Brandenburg zu erlaufen.

Gleich am Start an der Zitadelle gab es einen kleinen Geschichtsrückblick von 1244 bis 1510. Denn in der Zitadelle befindet sich das älteste jüdische Zeugnis der Region: Ein jüdischer Grabstein von 1244. Um 1510 wurden alle Jüd:innen aus der Mark Brandenburg vertrieben. Ein Friedhof in Spandau wurde zerstört und 70 Grabsteine zum Bau der Zitadelle zweckentfremdet. Heute finden sich diese Grabsteine im Museum der Zitadelle, auf dem jüdischen Friedhof in der Heerstraße und im Jüdischen Museum Berlin.

Bei der ersten Laufpause erinnern wir an den zweiten jüdischen Friedhof in Spandau. Er existierte von 1859 bis 1940. Im Jahr 1940 wurden alle Toten, über 200 Spandauer Jüd:innen auf den Friedhof der Jüdischen Gemeinde Adass Jisroel in Berlin-Weißensee umgebettet. Sie erhielten ein eigenes Spandauer Feld, das bis heute existiert.

Im Jahr 1671 erlaubte der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm die Ansiedlung von 50 jüdischen Familien in der gesamten Mark Brandenburg. 1692 wurde Joseph Abraham in Spandau als erster Jude registriert. Im Todesjahr von Friedrich II. (genannt dem Großen) 1782 lebten acht jüdische Familien mit 39 Personen in Spandau.

Steine und Rose am ehemaligen Friedhof – Foto: Sandra Bettermann-Ricke

Erst nach der Französischen Revolution konnten sich in Preußen Jüd:innen frei niederlassen und leben. So entstand im 19. Jahrhundert eine jüdische Gemeinde in Spandau, die auch einen eigenen Friedhof eröffnete. An der Gedenktafel hinterlassen wir eine weiße Rose und neun kleine Steine, denn im Judentum werden keine Blumen, sondern Steine auf die Gräber gelegt.

Die zweite Laufpause widmen wir Dr. Arthur Löwenstamm (1882-1965). Er war der letzte Rabbiner der Spandauer Gemeinde. In der Reichspogromnacht vor 85 Jahren wurde er festgenommen und in das KZ Sachsenhausen verschleppt. Durch seine bereits nach London geflüchteten Töchter gelang ihm die Flucht nach Großbritannien. Ab 1954 war er zeitweilig Rabbiner in Berlin (West). An seinem letzten Wohnhaus befindet sich seit 2005 eine Berliner Gedenktafel, die leider schon zweimal geschändet wurde. Wir hinterlassen für Arthur eine weiße Rose

Die nächste Pause machen wir am jüdischen Altersheim, das die Spandauer Kaufhausfamilie Sternberg finanziert hat. Bei der Stiftung des Heimes 1929 wurde ausdrücklich festgelegt, dass Menschen aller Religionsgemeinschaften darin leben dürfen. Ab 1939 wurde das Haus von den Behörden als Zwangshaus für Jüd:innen umgewidmet. Mindestens 24 Menschen wurden von da in die Vernichtungslager deportiert. Eine Gedenktafel erinnert an diese dunkle Zeit. Auch diese Tafel schmücken wir mit einer weißen Rose.

Weiter laufen wir zu zwei Stolpersteinen, die an die Tante und den Onkel von Inge Deutschkron (1922-2022) erinnern. Sie hat im Untergrund überlebt, Tante und Onkel wurden in Riga 1942 ermordet. Inge Deutschkron ist vielen von uns von ihrem Buch „Ich trug den gelben Stern“ bzw. dem Theaterstück des Gripstheaters „Ab heute heißt du Sara“ bekannt. Sie schreibt in diesen Lebenserinnerungen über die Besuche bei der Verwandtschaft in Spandau. Wir hören uns diesen Text an. Auch hier hinterlassen wir eine weiße Rose.

Die nächste Laufpause machen wir wieder an Stolpersteinen, diesmal vor dem Kino in der Spandauer Altstadt. Bereits 1936 berichtete die Spandauer Zeitung voller Stolz, dass alle fünf Spandauer Kinos arisiert seien. Familie Zeller wohnte bis 1940 über dem Havel-Kino. Zwei Kinder konnten mit 12 und 14 Jahren 1938 über Holland nach Großbritannien fliehen und überlebten. Ihre Eltern wurden nach vergeblichen Fluchtversuchen 1941 und 1943 ermordet. An diesen Stolpersteinen liegen bereits Blumen, wir legen eine weiße Rose dazu.

 Gruppe vor dem Kino in der Altstadt – Foto: Sandra Bettermann-Ricke

Mit den nächsten zwei Laufpausen erinnern wir mit zwei Rosen an die Inhaber der Adler-Apotheke und an einen Arzt. Vier Stolpersteine: 1943 – 1944 – 1943 – 1942 Ermordung.

Dann erinnern wir an das jüdische Kaufhaus Sternberg. 1927 wurde es neu gebaut. Das Gebäude mit seiner schönen Fassade ist heute Sparkasse. 1938 waren in Spandau und Charlottenburg 381 Geschäfte arisiert und 1939 in Spandau 122 Grundstücke „entjudet“. Nüchterne Zahlen lassen uns die Schicksale der Menschen erahnen. Auch am ehemaligen Kaufhaus gibt es eine Gedenktafel, an der wir eine weiße Rose hinterlassen.

Die vorletzte Laufpause erinnert an sechs Menschen, die in einem Haus lebten: Sechs Stolpersteine. Vier Menschen der Familie Lieber werden in Auschwitz umgebracht, Mutter und Sohn Rehfeldt in Piaski. Auch hier hinterlassen wir eine weiße Rose. Alle 16 Stolpersteine, die wir am Abend erlaufen, waren bereits sehr sorgfältig auf Hochglanz poliert.

Auch das ist Spandau!

Eine Rose für sechs Stolpersteine – Foto: Sandra Bettermann-Ricke

Unsere letzte Laufpause mit der zehnten weißen Rose machen wir am Havelufer am Mahnmal für die Spandauer Synagoge, die am 15. September 1895 feierlich eingeweiht wurde und die genau vor 85 Jahren am 9. November 1938 vom NSDAP-Mitglied Walter Gerke angezündet und zerstört wurde. 1948 wurde er für seine Tat zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Das Mahnmal ist bereits mit vielen Blumen und Kerzen geschmückt.

Das Mahnmal für die Synagoge an der Havel – Foto: Sandra Bettermann-Ricke

1945 lebten noch 81 Jüd:innen in Spandau, eine jüdische Gemeinde gibt es bis heute in Berlin-Spandau nicht wieder.

Wieder am Startpunkt des Laufes angekommen, sind wir uns einig, dass wir gerade in diesen Tagen die Erinnerung an das jüdische Leben wach halten sollten und auch etwas tun müssen, damit sich die Geschichte nicht wiederholt. So sammeln wir am Ende des Laufes eine Spende für das Neve Hanna Kinderheim in Israel, welches seine Arbeit seit dem 7. Oktober 2023 unter schwersten Bedingungen fortsetzt.

https://www.nevehanna.de/ https://www.nevehanna.de/

Laufen und erinnern – an diesem 9. November 2023 mit zehn weißen Rosen und einer Spende.

Dr. Erdmute Nieke
www.lauffreude.berlin http://www.lauffreude.berlin

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https://germanroadraces.de/?p=224518

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