BMW BERLIN-MARATHON - Photo: Horst Milde
Wo laufen sie denn? Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
In Berlin, in Europa werden plötzlich zahlreiche Laufveranstaltungen angeboten. Angeblich gibt es allein in Deutschland zehn Millionen Einsteiger. Trotzdem ringen Veranstalter ums Überleben
Berlin, Berlin – läuft jetzt alles in Berlin? Löst sich der Bewegungsstau auf? Sind Straßenläufe, in der Hauptstadt und im Rest der Welt, Ventil für gebremsten Bewegungsdrang? Als während Pandemie und Lockdown Sporthallen, Fitnessstudios und sogar Sportplätze geschlossen waren, erlebte Laufen einen Boom. Wer nicht stillsitzen konnte, machte sich auf die Socken.
Nun kommen, lange nach den Topathleten, die sich auf Olympia vorbereiten durften, Jogger und Hobbyläufer aus dem Busch, von Feld- und Waldwegen und nehmen wieder die Straßen in Besitz. Oder ist dies alles Wunschdenken der Veranstalter, die aus dem Stand ein Überangebot an Bewegung schaffen?
Berlin bietet den spektakulärsten Auslauf. Am 31. Juli hatten 4800 Läuferinnen und Läufer gemeldet, um auf dem Kurfürstendamm den Marathon-Assen Rabea Schöneborn und Philipp Pflieger zehn Kilometer lang zu folgen: City Night des SCC Berlin. 3000 kamen ins Ziel. An diesem Sonntag geht es mit dem Halbmarathon und womöglich 21 000 Teilnehmern weiter. Ob alle kommen, die dürfen? Die gemeldet haben? Der Lauf führt vom Start des Berlin-Marathons kurz vor der Siegessäule 21,1 Kilometer weit zum Ziel des Marathons hinter dem Brandenburger Tor: Generalprobe für die Rückkehr des großen Stadtlaufs in fünf Wochen.
Seit 1981 gehen in Berlin am letzten Sonntag des Septembers die Menschen zum Marathon auf die Straße; 50 000 laufen, Hunderttausende, vielleicht Millionen feiern und feuern sie an. Vorn geht’s dabei zur Sache. Stars wie Tegla Loroupe, Paul Tergat, Haile Gebrselassie, Wilson Kipsang, Patrick Makau, Dennis Kimetto und Eliud Kipchoge sind über die Jahre auf den 42,195 Kilometern von Berlin Weltrekord gelaufen. Elf Bestmarken stehen dank der flachen Strecke zu Buche.
Im vergangenen Jahr fiel der Marathon aus.
Ein Verlust nicht nur im Sinne der begeisterten Läufer. Die Anreise von Teilnehmern aus aller Welt, oft mit Familie, sowie die Aufmerksamkeit auf allen Kanälen führt zu einer geschätzten Wertschöpfung von 380 Millionen Euro. Einsam drehten einige Staffeln im Kreisverkehr ihre Runden um die Siegessäule. Mehr als hundert Umrundungen waren nötig, um die Distanz zu schaffen.
In der Ausdauer drückte sich auch das politische Durchhaltevermögen der Berliner aus, die Blockade und Mauer überstanden. „Das Signal ist wichtig, dass es wieder losgeht“, sagte der Regierende Bürgermeister Michael Müller, als er die Veranstaltung besuchte: „Das Publikum kann wieder Sport erleben beim Istaf, beim Fußball und beim Marathon.“
Vor acht Wochen forderte Andreas Geisel, der Berliner Innensenator, eine Vorwärtsbewegung: „Wir müssen uns auf den Weg machen, um Zukunft möglich zu machen“, sagte der für die Sportförderung in der Stadt zuständige SPD-Politiker. „Wir wollen europaweit diejenigen sein, die das gewuppt haben“, verspricht nun Jürgen Lock. In normalen Jahren setzt er als Geschäftsführer der SCC Events GmbH mit dem Marathon und rund einem Dutzend weiterer Laufveranstaltungen knapp 22 Millionen Euro um. Nun investiert Lock fast eine Million in ein Hygienekonzept für drei Straßenläufe. Bei weiteren Absagen wäre sein Unternehmen gefährdet. Auch um die siebzig Arbeitsplätze zu retten, holte er im Mai die letzten Angestellten aus der Kurzarbeit zurück und begann mit der Vorbereitung der Läufe.
Um seinen Anspruch zu untermauern, stützt der Berliner Senat Veranstalter und Profiklubs im Sport mit drei Millionen: „Offensive Sportmetropole“ heißt das Programm. Darüber hinaus ermöglicht er Testläufe für Hygienekonzepte mit wissenschaftlicher Begleitung. Wie Clubs und die Philharmonie, die mit Sondererlaubnis und striktem Konzept Publikum zulassen durften, schicken nun die Veranstalter des Marathons Zehntausende durch die Stadt.
Der Test: Läuft’s?
Mit ihrem 3G-Konzept sind die großen Läufe als Experimentierfeld ausgewiesen, der nächsten Stufe des Versuchs; für den Marathon sind 35 000 Teilnehmer im Gespräch. Selbst steigende Inzidenzen werden nicht zu einer Absage führen, über so viel Planungssicherheit verfügt der SCC. Wer nicht zu den 85 bis 90 Prozent vollständig Geimpften oder nachweislich Genesenen unter den gemeldeten Läuferinnen und Läufern gehört, muss einen negativen PCR-Test vorweisen, um mitlaufen zu dürfen. Zuschauer dürfen nur in sogenannten Cheer-Zonen jubeln, falls sie geimpft, genesen oder getestet sind, und müssen – das macht das Jubeln nicht leichter – einen Mund-Nase-Schutz tragen.
Läuferin Rabea Schöneborn trägt die Maske im BH zum Ziel. Lock sieht seinen Marathon als Vorreiter. „Kleine Veranstaltungen in ganz Deutschland“, sagt er, „warten auf ein positives Zeichen.“ Den Lauf-Boom, der im vergangenen Jahr einsetzte, haben die Veranstalter allerdings noch nicht auf die Straße gebracht.
Runner’s World berichtete über Schlangestehen vor den Lauf-Läden, als diese im Mai 2020 öffnen durften, und von Lieferschwierigkeiten der Hersteller besonders beliebter Laufschuhe. Die Zahl der Klicks auf der Website des Magazins stieg bei Einsteigerthemen um vierzig Prozent: Wie schaffe ich einen Lauf von fünf Kilometern am Stück? Wie finde ich die richtigen Schuhe? In diesem Jahr steigt die Zahl der Abonnenten.
Zehn Millionen Lauf-Einsteiger soll es während der Pandemie gegeben haben – das wäre, legt man die Zahl von 19 Millionen zugrunde, die der Leichtathletik-Verband vor der Pandemie nannte, ein Zuwachs um fast fünfzig Prozent. „Man kann die Bedeutung und die Symbolik der Läufe, die in Berlin stattfinden, gar nicht überschätzen“, sagte Urs Weber, Redakteur von Runner’s World. Ambitionierte Läuferinnen und Läufer setzten sich Ziele und suchten Bestätigung bei Veranstaltungen. „Sich virtuell zu vergleichen ist schön“, sagt er: „Aber was ist das im Vergleich zu einem Wochenende in Berlin?“ Das Berliner Hygienekonzept lobt Weber als großen Wurf.
SCC-Race-Director Mark Milde ist es gelungen, für den Marathon die äthiopische Legende Kenenisa Bekele zu verpflichten, dreimal Olympiasieger und fünfmal Weltmeister auf der Bahn. Gut möglich, dass Bekele im Spätherbst seiner Karriere die Marathon-Bestzeit von 2:01:41 Stunden verbessern will, die er 2019 in Berlin erzielte und mit der er zwei Sekunden über dem Weltrekord von Eliud Kipchoge lag, aufgestellt in Berlin 2018.
Die Verpflichtung ist ein Coup.
Wegen der Verschiebung der Läufe von London und Boston auf den Herbst kommt es zu einer Ballung und enormen Konkurrenz der Veranstaltungen. Fünf der sechs größten Marathons der Welt finden innerhalb von drei Wochen statt. Auf Berlin folgt London (3. Oktober), folgen Chicago und Boston (10. und 11. Oktober), folgt Tokio (17. Oktober). In diesen 22 Tagen gehen zudem vierzehn kleinere, jedoch nicht kleine Marathons über die Bühne, von Amsterdam bis Wien, von Bonn bis Paris, von Prag bis Warschau. New York, Nummer sechs der Majors, findet am 7. November statt.
Nicht nur die Zuschauer, auch die Teilnehmer haben etwas von der Verpflichtung von Stars. Selbst wer am 26. September in Berlin erst um halb vier am Nachmittag ins Ziel kommt, 6:15 Stunden nach dem Startschuss, selbst wer den Favoriten Bekele gar nicht sieht, so schnell, wie er mit einem Durchschnittstempo von rund 20,5 Kilometer pro Stunde weg sein wird, kann bis an sein Lebensende stolz darauf sein, im selben Rennen gelaufen zu sein wie der Mann, der mehr als fünfzehn Jahre lang die Weltrekorde über 5000 und 10 000 Meter hielt. In welcher anderen Sportart ist so etwas möglich?
„Das ist ein Märchen“ sagt Steffny
„Ich glaube nicht an den kommenden Marathon-Boom“, sagt Manfred Steffny: „Das ist ein Märchen.“ Der Achtzigjährige, Olympiateilnehmer von Mexiko 1968 und München 1972, hat 1974 das erste Lauf-Magazin Deutschlands gegründet, Spiridon. Er leitet es noch heute. Menschen, die in Jeans joggten, habe er in den vergangenen Monaten gesehen, sagt Steffny: „Die kehren in ihre Fitnessbuden zurück, sobald sie können.“
Die Läufe von Berlin sind seiner Überzeugung nach zu kurzfristig angekündigt worden. „Man kann nicht aus der kalten Hose einen Halbmarathon oder Marathon laufen“, sagt er: „Wer sollte ohne Vorbereitung nach Berlin fahren?“ Nicht mangelndes Angebot, sondern Vorsicht und Zögern der Läuferinnen und Läufer bestimmten die Szene.
Baisse herrsche statt Boom
Steffny beschreibt am eigenen Beispiel, dass Baisse herrsche statt Boom. Für Anzeigen der Sportartikelhersteller sei sein Blatt zu klein, erzählt er, und die Einzelhändler litten unter der wachsenden Konkurrenz der Versender mit Internetpräsenz. Die großen und kleinen Veranstalter, von denen er lebte, hätten mangels Veranstaltungen nichts zu annoncieren. Gut fünfzig gestrichene Läufe seit Jahresbeginn weist die Website marathon.de aus, darunter die von Frankfurt, Köln und Dresden. 120 Marathon-Läufe sind bis Anfang Dezember als geplant aufgeführt – allein in Deutschland. Am 12. Juni war Neubeginn. An jenem Samstag führten auf einer weniger als zweieinhalb Kilometer langen Runde verschiedene Läufe durch Drebber, eine Gemeinde mit 3000 Einwohnern bei Diepholz, darunter ein Marathon. Fünfhundert Läuferinnen und Läufer waren erlaubt, 101 kamen. „Wir sind wieder da!“, rief Veranstalter Jürgen Lübbers ins Mikrofon. Und lief mit.
„Man kann nur einen einzigen Marathon laufen im Herbst“, sagt Jo Schindler. Er ist Veranstalter des Frankfurt Marathons, eigentlich für den 31. Oktober geplant. Doch der Termin ist abgesagt, die sieben Angestellten seiner Motion Events GmbH sind seit April vergangenen Jahres in Kurzarbeit. Dank eines Halbmarathons mit fünfzig Teilnehmern auf dem verwaisten Messegelände von Frankfurt im September 2020, dank der ebenso sterilen deutschen Geher-Meisterschaft im Frühjahr 21 und dank Überbrückungshilfe vom Bund existiert das Unternehmen noch.
Warum engagiert sich der Deutsche Leichtathletik-Verband nicht gegen den Stillstand bei Veranstaltungen?
Den Verdrängungswettbewerb im Herbst nennt Schindler ein Unding. „Man muss doch sehen: Wie geht es der gesamten Laufbewegung? Es hilft nichts, wenn nur der Stärkste überlebt.“ Er hätte sich gewünscht, dass der Deutsche Leichtathletik-Verband sich engagiert gegen den Stillstand bei Veranstaltungen. Als Gegenleistung für den halben Euro Laufmaut, den jeder Veranstalter pro Finisher abführen muss, hätte der Verband wissenschaftlich untersuchen lassen können, ob Straßenläufe unter pandemischen Bedingungen gefährlich sind.
2020 blies Schindler seinen Marathon ab, weil er die Verantwortung für die Nachverfolgung von möglichen Infektionen unter den Zuschauern hätte übernehmen sollen – praktisch für alle, die in der Stadt unterwegs waren. Die Regeln sind weniger rigoros in diesem Jahr, doch werden sie alle vier Wochen neu beschlossen. Was zum Marathon-Termin gilt, ist nicht absehbar. Für eine Veranstaltung mit einem Budget von dreieinhalb Millionen Euro ist das schädlich. „Das Risiko ist nicht zu tragen“, sagt Schindler.
Wie in Berlin ließ der Frankfurter Schindler denen, die für den Marathon 2020 gemeldet hatten, die Wahl zwischen Erstattung der Meldegebühr und Übertragung des Startrechts ins folgende Jahr. Gut die Hälfte, 3500, verlangte keine Rückgabe und setzte auf 2021: Macht einen zinslosen Kredit von 280 000 Euro. „Das hat uns die Liquidität gerettet“, sagt Schindler. Seinem Aufruf, den Marathon mit der Spende des Startgelds zu unterstützen, folgten tausend Läuferinnen und Läufer. Diese Marathon-Retter, wie Schindler sie nennt, sollen im Oktober 2022, wenn es am Main endlich wieder auf den langen Lauf zum roten Teppich in der Festhalle gehen soll, mit goldenen Startnummern ausgezeichnet werden.
Lieber weiter im Wald
Das merkwürdige Gefühl zwischen Vollbremsung und Vorwärtsdrang, das den Sport lange quälte, ist auch in Berlin noch zu spüren. Viele, die ihr Startgeld von 125 Euro zurückverlangt hatten, wollen nun doch laufen. Andere, deren Startplatz reserviert ist, reagieren nicht auf die Aufforderung, die neuen Geschäftsbedingungen mitsamt Hygieneregeln zu akzeptieren.
Er hoffe, dass in der Pandemie viele Menschen zum Laufen gekommen seien, sagt Race Director Milde: „Aber in Meldezahlen drückt sich dies nicht aus.“ Vielleicht traben die Millionen alte und neue Läuferinnen und Läufer lieber weiter im Wald als Unter den Linden.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung , Sonnabend, dem 21. August 2021