Horst Milde, Gründer des Berlin-Marathons und Sprecher der deutschen Lauf-Veranstalter, hatte vor vier Jahren Jan Fitschen und Ulrike Maisch noch zu \"nationalen Helden\" ausgerufen. Nun stellt er ernüchtert fest, dass von den Helden nichts zu sehen war. Milde fordert eine konzertierte Aktion von Verband, Veranstaltern und Sponsoren nach amerikanischem Vorbild
Wo laufen sie denn? Beim Laufen, der elementarsten und einfachsten Form des sportlichen Wettkampfs, klaffen eklatante Lücken im Deutschen Leichtathletik-Verband. Vor der Europameisterschaft in Barcelona äußern sich Athleten, Funktionäre und Veranstalter sehr vielschichtig zu den Gründen der \“Laufkrise\“. Erkennbar mangelt es an professionellen Strukturen. Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
BARCELONA. "Eine partiell schwierige Situation" mag Clemens Prokop eingestehen. Aber eine Krise? "Wir haben immer noch die Europameisterin im Marathon und den Europameister über 10 000 Meter." Die Leichtathletik kehrt achtzehn Jahre nach den Olympischen Spielen auf den Montjuic zurück, da erinnern sich Sportfreunde an die Siege von Heike Henkel im Hochsprung, Heike Drechsler im Weitsprung, Silke Renk mit dem Speer und Dieter Baumann im Endspurt der 5000 Meter mit anschließendem Purzelbaum.
Ein Olympiasieg ist etwas Bleibendes. Doch wie Jan Fitschen am Dienstag seinen Titel als Europameister über 10 000 Meter verlieren und wie am Samstag das Europameisterschaftsrennen im Marathon der Frauen ohne Titelverteidigerin Ulrike Maisch, überhaupt ohne deutsche Teilnehmerin, über die Bühne gehen wird, kann Prokop, der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), nun miterleben. Fitschen ist nach langer Verletzung nicht in Form, Ulrike Maisch ist seit dem Titelgewinn vor vier Jahren praktisch nie wieder in Tritt gekommen. Und Irina Mikitenko, 2008 und 2009 die erfolgreichste Marathonläuferin der Welt, läuft lieber im Herbst in New York als jetzt in Barcelona.
Die goldenen Tage nach der Vereinigung des deutschen Sports sind vergangen. Aber aus den Tiefs bei den Olympischen Spielen von Athen 2004 und Peking 2008, bei denen die deutschen Leichtathleten im ersten Fall zwei Silbermedaillen und im zweiten eine einzige bronzene gewannen, hat sich der DLV bei der Weltmeisterschaft von Berlin im vergangenen Jahr mit zwei Titeln und sieben weiteren Plazierungen auf dem Podium eindrucksvoll herausgearbeitet. Speerwurf-Weltmeisterin Steffi Nerius hat zwar aufgehört, doch die Nationalmannschaft, die Diskus-Weltmeister Robert Harting anführt, hat auch ohne sie gute Chancen.
Beim Laufen allerdings, der elementarsten und einfachsten Form des sportlichen Wettkampfs, klaffen eklatante Lücken, größer als beim diesmal verwaisten Zehnkampf und dem Dreisprung der Männer. Chef-Bundestrainer Rüdiger Harksen erinnert gern daran, dass DLV früher einmal als "Deutscher Läufer-Verband" übersetzt wurde. Doch die ruhmreichen Zeiten eines Sprint-Olympiasiegers Armin Hary, eines (steroidbefeuerten) Fräuleinwunders mit Marlies Göhr und Marita Koch, eines Patriz Ilg und eines Willi Wülbeck und einer Katrin Krabbe sind vorbei.
"Nach der Laufkrise werde ich am häufigsten gefragt", sagt Harksen. Seine Antwort lautet: Die Globalisierung ist dafür verantwortlich. 78 Medaillen wurden in den 26 Laufwettbewerben der Weltmeisterschaft von Berlin vergeben. Nur zehn gingen an Läuferinnen und Läufer aus Europa; das entspricht zwölf Prozent. Anders als im Wintersport, wo Klima und aufwendige Technik für Exklusivität sorgen, haben die olympischen Großmächte es im Lauf mit Herausforderern auch aus den ärmsten Ländern der Welt zu tun. Die Sprinter aus Jamaika und die Langläufer aus Kenia und Äthiopien gewannen allein 32 Medaillen, davon 13 goldene. Eine gebürtige Äthiopierin und ein gebürtiger Kenianer siegten zudem unter der Flagge von Bahrein.
Eine der zehn WM-Medaillen für Europa gewannen die deutschen Sprinterinnen. Sie und ihre Trainer hatten aus der Staffel einen Mannschaftswettbewerb gemacht, in dem sie dank perfekter Wechsel mit stärker eingeschätzten Läuferinnen mithalten konnten. Vor den Russinnen wurden sie hinter Jamaika und den Bahamas Dritte. "Wir haben mit unserer Bronzemedaille gezeigt, was wir können", sagt Startläuferin Verena Sailer. "Jetzt haben wir Caro Nytra und Sabrina Mockenhaupt. Ich würde den Laufbereich nicht abschreiben."
Doch selbst bei der Europameisterschaft wird der DLV in sieben Laufdisziplinen keine Athleten ins Rennen schicken. Am auffälligsten ist die Lücke bei den 400 Metern, einer Disziplin, die von Rudolf Harbig über Thomas Schönlebe bis Ingo Schultz, von Monika Zehrt über Marita Koch bis Grit Breuer immer auch eine deutsche Domäne war. Niemand konnte auf den 800 Metern für Robin Schembera einspringen, auf der Distanz von 2000er-Olympiasieger Nils Schumann. Über 200, 400, 1500 und 5000 Meter sowie 3000 Meter Hindernis und im Marathon geht nicht eine deutsche Läuferin ins Rennen.
Dieter Baumann konstatierte im Winter: "Unsere Disziplin befindet sich in einer Krise." Für die Olympischen Spiele in London prognostiziert er: "2012 werden wir baden gehen, weil in den vergangenen Jahren nichts passiert ist."
Horst Milde, Gründer des Berlin-Marathons und Sprecher der deutschen Lauf-Veranstalter, hatte vor vier Jahren Jan Fitschen und Ulrike Maisch noch zu "nationalen Helden" ausgerufen. Nun stellt er ernüchtert fest, dass von den Helden nichts zu sehen war. Milde fordert eine konzertierte Aktion von Verband, Veranstaltern und Sponsoren nach amerikanischem Vorbild: "Es wäre eine nationale Aufgabe, Laufen wieder attraktiv zu machen." Er erlebt das Phänomen, dass Woche für Woche Tausende von Freizeitläufern Marathonläufe bewältigen, allerdings überwiegend reifere Jahrgänge ohne jede leistungssportliche Perspektive.
Prokop will auch deshalb mit einem nationalen Staffeltag Schulen und Schüler im ganzen Land auf die Beine bringen. Für das ehrgeizige Projekt fehlt es noch an Sponsoren. Als Kampf gegen den Zeitgeist scheint Sabrina Mockenhaupt, eine der besten Langstreckenläuferinnen Europas, solche Mühen zu empfinden. "Man kann sich Läufer nicht backen", sagt sie. "Warum sollten Jugendliche sich fürs Laufen entscheiden?" Von einem gewissen Niveau an tut Laufen weh und kostet Zeit. "Für die eine Hälfte unserer Gruppe war nach 15 Kilometern Schluss", bloggte Fitschen aus dem Trainingslager in den Alpen. "Unsere Marathonis durften noch eine kleine Schleife von 20 Kilometern dranhängen."
Und das war nur der Morgenlauf. Bei Wochenleistungen von hundert Kilometern an aufwärts allein für die Mittelstrecke sind zwei Läufe pro Tag plus Krafttraining und Physiotherapie üblich. "Laufen ist ein Fulltimejob", sagt Trainer Harksen. "Wenn wir mithalten wollen, müssen wir professionelle Bedingungen schaffen." Junge Athleten müssten sich dazu bekennen, einige Jahre lang nichts anderes zu tun, als zu trainieren und zu rennen. "Dieses Investment bedarf einer wirtschaftlichen Absicherung."
Carsten Schlangen aus Berlin, ein Späteinsteiger auf der Mittelstrecke, hat sich in der vergangenen Saison darauf eingelassen. Er ließ sein Architekturstudium ruhen und bestritt neun Trainingslager zur Vorbereitung auf die WM. Ein Sponsor des DLV beschäftigte ihn einige Monate lang. Schlangen drückte seine persönliche Bestzeit über 1500 Meter beim Istaf in Berlin auf 3:34,60 Minuten. Im selben Rennen kam Stefan Eberhardt nach 3:33,92 Minuten ins Ziel. So schnell war zwölf Jahre zuvor kein Deutscher gelaufen, und seitdem ist es auch keiner mehr. Zum Vergleich: Beim Diamond-League-Meeting in Monaco hat der Kenianer Silas Kiplagat die Weltjahresbestzeit gerade auf 3:29,27 verbessert.
Unter Schmerzen erreichte Schlangen bei der WM den Vorlauf und schied aus. Er hatte sich, wie er Wochen später realisierte, einen Ermüdungsbruch im Schienbein zugezogen. Nicht genug damit: Am Ende der Saison, als der vom DLV vermittelte Fördervertrag auslief, kündigte ihm auch sein Ausrüster. Schlangen, in den vergangenen fünf Jahren im Stadion, in der Halle und im Cross sieben Mal deutscher Meister, ist zu der Erkenntnis gekommen: "Training ist nicht beliebig steigerbar."
In diesem Jahr will der 29-Jährige sein Diplom machen. Er stand vor der Grundsatzfrage, ob er die Olympischen Spiele von London 2012 angehe oder nicht. "Laufkrise? Wenn man das auf Medaillen bezieht und auf die Chance, ganz vorn mitzulaufen, muss man die Frage mit Ja beantworten", sagt Schlangen. "Aber vielleicht sollte der DLV nicht nur Athleten unterstützen, die alles rausholen. Schnell rennen ist nicht alles."
Eigentlich ist das auch das Credo von Prokop. "Man sollte sich hüten, existentiell nur auf die Karte Hochleistungssport zu setzen", warnt der Verbandspräsident. Er glaube, sagt er, dass eine duale Karriere nicht zwangsläufig zu schwächeren Leistungen führe. Doch wie anders soll man Baumann verstehen, der den Läufern von heute zugesteht, im Training genau so viel zu laufen wie er früher. "Der entscheidende Unterschied ist", sagt er, "ich war Profi und hatte keine zusätzlichen Belastungen."
Auf einer Skala vom Freizeitläufer bis zum Vollprofi nach kenianischem Vorbild ordnet sich Schlangen, ohne zu zögern, ein: "Mit meinen zehn Trainingseinheiten pro Woche liege ich bei 70 Prozent." Weniger genetische Vorteile der Afrikaner sieht er als Grund für deren Überlegenheit, und auch von Doping spricht er nicht a priori, sondern von der großen und frühzeitigen Auswahl unter den Talenten.
In Deutschland erlebt er dagegen so etwas wie eine umgekehrte Auslese. "Ich kenne viele talentierte Läufer", sagt er, "die den Sport zugunsten ihrer Ausbildung aufgegeben haben."
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 27. Juli 2010