Silber und Bronze am Ende einer Zitterpartie Von Michael Reinsch, Osaka
WM-Aktuell: Silber und Bronze am Ende einer Zitterpartie – Michael Reinsch, Osaka in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Eine Goldmedaille sollte es werden, zwei Podiumsplätze sind herausgekommen. Christina Obergföll und Steffi Nerius haben am Freitagabend im Speerwerfen, als Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Rückweg vom Staatsbesuch in China im Nagai-Stadion vorbeischaute, eine Silber- und eine Bronzemedaille gewonnen. Weltmeisterin wurde Barbora Spotakova, die zwei Mal den tschechischen Rekord verbesserte, auf schließlich 67,07 Meter.
Christina Obergföll, die überlegene Werferin der Saison, schien zunächst einzubrechen, steigerte sich bei letzter Gelegenheit aber immerhin auf 66,46 Meter. „Beim letzten Versuch hatte ich gedacht, es reicht vielleicht gerade so, aber jetzt bin ich trotzdem froh“, sagte sie nach dem Wettkampf im Fernsehen. „Auch den zweiten Versuch hatte ich wesentlich weiter gefühlt. Das hat mir ein bisschen den Zahn gezogen.“
Die zwei schlimmsten Tage ihres Lebens
Die überlegene Werferin der Saison schien zunächst einzubrechen
Bis zum Mittwoch war sich Christina Obergföll noch sicher gewesen, Gold zu gewinnen. Dann scheiterte die überlegene Speerwerferin dieser Saison beinahe in der Qualifikation, weil sie ihr Arbeitsgerät nicht einmal 61 Meter weit werfen konnte. In einer Zeitungskolumne schrieb sie daraufhin, sie würde der Kanzlerin gern einen Goldwurf zeigen. „Mein Motto lautet: Jetzt erst recht!“ Nun jedoch gestand sie, die zwei schlimmsten Tage ihres Lebens hinter sich zu haben. „Nach dieser Qualifikation habe ich schon angefangen zu zweifeln, das hat an mir gezehrt.“ Vor zwei Jahren in Helsinki war Christina Obergföll mit der Europarekordweite von 70,03 Meter Zweite der Weltmeisterschaften geworden; beim Europacup in München verbesserte sie in diesem Jahr den Rekord auf 70,20 Meter.
Auch für Steffi Nerius glich der Wettkampf eine Zitterpartie (Siehe auch: Leichtathletik kompakt: Allyson Felix hängt alle ab). Nach dem ersten Wurf lag sie auf dem achten Rang und musste um den Einzug in den Endkampf bangen. „Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich aus dem Alter raus bin, in dem man zittern muss“, sagte sie später. „Außerdem hatte ich ein gutes Gefühl beim Wurf und wusste gar nicht, was ich falsch gemacht hatte.“ Schließlich reichte es doch, aber Steffi Nerius war trotzdem froh, „dass dieser schreckliche Wettkampf vorbei ist und ich Dritte bin.“ Es ist ihre sechste Medaille bei einem internationalen Wettkampf seit den Europameisterschaften 2002 in München. Wenn das kein Muster an Konstanz ist.
Erfolgreich sind nur Werfer und Stoßer
Freude nach der Zitterpartie
In Osaka hat das deutsche Team nun sechs Medaillen gewonnen. Dabei sind die Werfer und Stoßer aus Deutschland so erfolgreich, dass Bundestrainer Jürgen Mallow schon darauf aufmerksam machen muss, dass er auch Springer, Läufer und Mehrkämpfer im Team hat. Das ist an sich schon ein Erfolg, denn bis etwa der Hochspringer Eike Onnen auftauchte, war seine Disziplin international gar nicht besetzt worden. Bald könne man sogar daran denken, auch auf den Mittelstrecken wieder Teilnehmer aufzustellen, verspricht Vizepräsident Eike Emrich.
Chefbundestrainer Jürgen Mallow zitierte in seiner Halbzeitbilanz lieber seine Oma: „Mach‘ es wie die Sonnenuhr, zähl‘ die schönen Stunden nur.“ Für die sorgten Franka Dietzsch, die mit 39 Jahren zum dritten Mal Diskus-Weltmeisterin wurde, und ihre 16 Jahre jüngere Kollegin Betty Heidler, die acht Jahre gebraucht hat, sich vom gelangweilten Teenager zur Weltmeisterin im Hammerwerfen und zur verlässlichen Größe in der deutschen Leichtathletik zu entwickeln. Neu im internationalen Geschäft ist Robert Harting, der Zweite im Diskuswerfen; Nadine Kleinert, Dritte im Kugelstoßen, hatte sich schon mit einigen Erfolgen, etwa Silber in Athen, bekannt gemacht.
Nicht Spaß, sondern Freude am Sport
„Froh, dass dieser schreckliche Wettkampf vorbei ist, und ich Dritte bin”
Der Neuaufbau der deutschen Leichtathletik, findet Mallow, sei auf einem guten Weg: „Was wir vor drei Jahren“, – nach dem Debakel bei den Olympischen Spielen – „im Leistungssportkonzept formuliert haben, greift“, sagte er. Den Individualismus der Athleten respektieren, ihre Motivation fördern und ihre Leistung auch durch externe Beratung – von der Ernährung über die Psychologie bis zum Training selbst – steigern, ist die neue Marschroute. Mallow und Emrich sind entschieden gegen Zentralismus im Sport.
Nicht Spaß sollten die Athleten suchen, sondern mit Freude ihren Sport betreiben, unterscheidet der Sportwissenschaftler Emrich; das eine sei kurzfristig, das andere halte lange an. Besondere Freude macht ihm etwa Diskuswerfer Harting. Der 22 Jahre alte Berliner hat nicht nur eine Silbermedaille gewonnen, sondern, so Emrich, mache auch mit lustig verpackter Lebenserfahrung staunen: „Er hat Höhen und Tiefen erlebt wie manch anderer mit vierzig nicht.“ Mit solch einem „widerständigen Athleten“, der im Erfolg die Kosten für den Flug seines Trainers nach Osaka verlangt, setzte er sich gern auseinander. Mallow blickt zuversichtlich den Olympischen Spielen in Peking und der WM 2009 in Berlin entgegen, nach der er in den Ruhestand tritt. „Eine schöne WM“, sagt er.
Michael Reinsch
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Sonnabend, dem 1. September 2007