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02
09
2007

Doch ein Weltrekord, und darauf schien der Maschinenmensch Wariner programmiert zu sein, wurde es letztlich nicht.

WM – Aktuell: Mann ohne Atem – Weltmeister Jeremy Wariner läuft in Osaka die drittschnellste Stadionrunde der Geschichte – Jens Weinreich in der Berliner Zeitung

By GRR 0

OSAKA. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass der Mensch keine Maschine ist, dann gilt dieser als erbracht: Am Freitagabend rannte der US-Amerikaner Jeremy Wariner, dem mancher Beobachter maschinengleiche Eigenschaften zuweist, zwar wie gewohnt eine rasante Stadionrunde.

Doch ein Weltrekord, und darauf schien der Maschinenmensch Wariner programmiert zu sein, wurde es letztlich nicht. Die ewige Weltbestenliste sieht deshalb nun wie folgt aus: Michael Johnson (USA) 43,18 Sekunden; Harry Butch Reynolds (USA/des Dopings überführt) 43,29 Sekunden; Jeremy Wariner (USA) 43,45 Sekunden. „Ich wollte hier nur gewinnen“, sagte Wariner nach dem WM-Finale. „Vom Weltrekord haben andere gesprochen. Ich lasse mich nicht verrückt machen. Wenn er kommt, dann kommt er.“

Wie üblich distanzierte Olympiasieger Wariner, der erst 23 Jahre alte Texaner, die Kollegen deutlich. Für die Amerikaner war es bereits der achte Titel in Osaka. Jeweils eine runde halbe Sekunde zurück lagen seine Landsleute LaShawn Merritt und Angelo Taylor. Irgendwann trudelten auch die restlichen Läufer ins Ziel. Das ist ja typisch für einen Wettrennen mit Jeremy Wariner. Wie hatte der deutsche Rundenläufer Kamghe Gaba am Morgen noch gesagt? „Wenn ich ins Ziel komme, gibt er meistens schon Interviews.“

Es ist wohl ganz gut so, dass einer der WM-Sponsoren die Weltrekordprämie von 100 000 Dollar sparen kann. Was hätte das erst für Diskussionen gegeben, wenn Wariner die acht Jahre alte Bestleistung seines Vorbilds und Beraters Michael Johnson gebrochen hätte. Fabelläufer Johnson wurde, wie heute Wariner, vom inzwischen 73 Jahre alten Clyde Hart trainiert. Dieser wehrt sich nach Kräften gegen Verdächtigungen und äußert sich gern wie folgt: „Wir machen es sauber. In meinen fünfzig Jahren als Trainer hatte ich nie einen positiv getesteten Athleten.“ Michael Johnson hat früher gar Interviews abgebrochen, wenn das Thema Doping angesprochen wurde. Sein Klient und Nachfolger Wariner gibt gar nicht erst Interviews, jedenfalls nur sehr selten.

Michael Johnson lief bei den Sommerspielen 1996 in Atlanta mysteriöse 19,32 Sekunden über 200 Meter. Über die doppelte Distanz stellte er bei der WM 1999 in Sevilla den Weltrekord auf: 43,18 Sekunden, noch so eine Wunderzeit. Schon der Umstand, dass Wariner der schnellste Rundenläufer seit jenem andalusischen Rennen war, wirft Fragen auf – wie übrigens am Freitag in Osaka auch der Fakt, dass 200-m-Siegerin Allyson Felix mit ihren 21,81 Sekunden so schnell raste, wie seit Sevilla keine Frau. Denn Zahlen erzählen immer auch eine Geschichte. Und die Geschichten hinter solchen Zahlen verheißen meist nichts Gutes.

Doch man will nicht zu ungerecht sein. Denn Wariner hat am Freitag gleich mehrere menschliche Eigenschaften nachgewiesen. Er hat gelacht. Ja, tatsächlich, sogar mehrmals. Zum Beispiel, als ihn auf der Pressekonferenz der Conferencier des öfteren unterbrach und barsch darum ersuchte, er solle doch bitte die Dolmetscher ausreden lassen. Spätestens hier muss man Jeremy Wariner verteidigen – denn aus unerfindlichen Gründen ist es üblich, dass die Dolmetscher selbst eine Antwort von wenigen Worten oft mit einer minutenlangen Satz-Kaskade ins Japanische übersetzen.

Jeremy Wariner, der lachende vermeintliche Maschinenmensch, aber hat nach seinem Finale sogar geatmet. Man sah es ganz deutlich, als er mit der US-Flagge um die Schultern für die Fotografen Modell stand: Der Brustkorb bewegte sich. Bemerkung wie diese scheinen gemein und überflüssig zu sein, doch weit gefehlt: In der Szene wird sogar öffentlich darüber diskutiert, dass Wariner ausgerechnet nach seinen wundersamen Läufen kaum jemals eine Regung zeigt: Weder verzerrt er das Gesicht vor Schmerzen, noch jappst er nach Luft, während die Sportkameraden völlig ausgepumpt über die Laufbahn purzeln.

Die deutschen Rundenläufer, die am Wochenende das Unmögliche möglich machen und sich mit Jeremy Wariner und seinen Amerikanern im Finale messen wollen, beobachten den Überläufer sehr aufmerksam. „Mit einer Mischung aus Respekt und Ungläubigkeit“, sagte Ingo Schultz. „Dass er ins Ziel kommt und nicht atmet, löst halt die Ungläubigkeit aus. Also, mir geht es anders.“ Es staunte auch Sebastian Swillims: „Er spult das mit einer Lockerheit ab, die beeindruckend ist.“ Und Kamghe Gaba wunderte sich: „Der Mensch muss doch atmen, oder? Atmen muss sein. Also, ich habe nach einem Rennen noch ganz andere Sachen gemacht.“ Gaba hat sich übergeben, wie so viele 400-Meter-Läufer. Zur Verteidigung von Jeremy Wariner ließe sich sagen: Der Mann hat einfach Manieren.

Jens Weinreich
Berliner Zeitung,
Sonnabend, dem 01.09.2007
Berliner Zeitung

author: GRR

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