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20
09
2007

Der Oberbürgermeister Wolfgang Schuster war der letzte, der sich für die Leichtathletik eingesetzt hatte. Aber auch er musste sich der Macht des Fußballs beugen

„Wir verlieren das schönste Leichtathletik-Stadion der Welt“ – Prof. Helmut Digel in Leichtathletik – Gespräch mit Jörg Wenig

By GRR 0

Helmut Digel, Council-Mitglied des Internationalen Leichtathletik-Verbandes IAAF, nimmt Stellung zu der als sicher geltenden Entscheidung Stuttgarts, das Daimler-Stadion dem VfB Stuttgart zu verkaufen.

Der Fußball-Bundesligist will dann im Jahr 2009 die Arena, in der 1986 die Europa- und 1993 die Weltmeisterschaften stattfanden, in ein reines Fußballstadion umbauen und die Laufbahn herausreißen. Stuttgart ist am nächsten Wochenende zum zweiten Mal nach 2006 Schauplatz des World Athletics Finals (WAF) – und der Vertrag mit der IAAF läuft auch noch 2008.

Herr Digel, wird das am nächsten Wochenende die Abschiedsvorstellung für Leichtathletik in Stuttgart?

Helmut Digel:
„Das ist noch eine offene Frage. Einerseits gibt es einen Vertrag bis 2008 zwischen der IAAF, den Stuttgarter Veranstaltern und dem DLV. Es gibt darin Bedingungen, die einerseits der Veranstalter und andererseits die IAAF erfüllen müssen. Die IAAF hat dies getan, und es gibt daher für sie keinen Grund, Stuttgart vorzeitig zu verlassen. Andererseits: Wenn Stuttgart das WAF nicht mehr ausrichten möchte, dann gibt es keinen Grund dort zu bleiben.“

Sehen Sie noch eine Rettungsmöglichkeit für die Leichtathletik in Stuttgart?

Helmut Digel:
„Aufgrund der Lage ist das Stadion nur durch ein Wunder noch zu retten. Wer die politischen Verhältnisse kennt, wird auf dieses Wunder nicht hoffen.“

Die Stadt ist offenbar auch nicht mehr gewillt, ein mögliches weiteres Defizit im Jahr 2008 zu decken. Es heißt, es wurden für drei Jahre 1,1 Millionen Euro einkalkuliert, die aber nach zwei Jahren bereits aufgebraucht sein werden. Sollte es nun eine mit 60- bis 70.000 Zuschauern deutlich stärkere Zuschauerresonanz geben – könnte das dazu führen, dass das WAF 2008 noch in Stuttgart stattfindet?

Helmut Digel:
„Ich sehe nicht, dass höhere Zuschauerzahlen das bewirken könnten. Das Problem ist anderer Natur: Eine lokale Vermarktung des WAF hat so gut wie nicht stattgefunden. Angesichts des Wirtschaftsraumes Stuttgart ist dies nicht nachvollziehbar. Die Stadt denkt, dass sich solche Ereignisse kostenneutral finanzieren lassen. Das funktioniert aber nirgendwo auf der Welt.“

Wie kam es überhaupt dazu, dass Stuttgart entscheiden wird, die Leichtathletik aufzugeben?

Helmut Digel: „Der Oberbürgermeister Wolfgang Schuster war der letzte, der sich für die Leichtathletik eingesetzt hatte. Aber auch er musste sich der Macht des Fußballs beugen. Es gibt ja im Stuttgarter Gemeinderat in dieser Frage inzwischen nicht mal mehr eine Opposition. Hinzu kommt, dass Kampagnen zugunsten des Stadions nur mit begrenztem Engagement geführt wurden. Hier fehlte es besonders auch an der Solidarität der olympischen Sportverbände. Die Leichtathletik ist die wichtigste olympische Sportart. Daher hätte ich mir zudem gewünscht, dass auch die Bundesregierung, speziell der Innenminister, sich für den Erhalt der Bahn einsetzt.
Die internationale Leichtathletik verliert mit dem Stuttgarter Stadion in meinen Augen das schönste Leichtathletik-Stadion weltweit und das, das für internationale Veranstaltungen am besten geeignet ist. Es hat die richtige Größe und eine ideale Infrastruktur.“

Sie haben sich immer für Stuttgart stark gemacht – wie trifft Sie persönlich diese Entwicklung?

Helmut Digel:
„Ja, ich habe mich immer für Stuttgart eingesetzt – ich habe aber auch gemerkt, dass Solidarität innerhalb der Sport-Organisationen inzwischen ein Fremdwort ist. Die Politik und die Medien sind zudem nahezu ausschließlich auf Fußball fokussiert. Wenn dies den Zeitgeist prägt und man erkennen muss, dass bestimmte Ziele nicht mehr erreichbar sind, so muss man einsehen, dass ein weiteres Engagement keinen Sinn mehr macht.“

Sehen Sie deutsche Alternativen zu Stuttgart, eventuell auch im Hinblick auf das WAF 2008?

Helmut Digel:
„In München sehe ich keine echte Perspektive, denn dem Olympiastadion fehlt eine komplette Überdachung. Vielleicht sollte man sich auf Nürnberg konzentrieren. Aber auch dort kann ich mir vorstellen, dass sehr bald die Diskussion um ein reines Fußballstadion beginnt. Zurzeit bleibt alles an einem Stadion hängen: Berlin. Aber was passiert nach der WM 2009? Dann wird Hertha auch dort wieder die Diskussion um ein reines Fußballstadion beginnen. Wir müssen dieses Problem nicht regional sondern national sehen und überlegen, wo wir Leichtathletik noch stattfinden lassen können.
Das ist sogar ein internationales Problem für unsere Sportart – denn wir können es uns nicht leisten, solche Stadien wie Stuttgart zu verlieren.“

Kann dies auch Auswirkungen haben für zukünftige deutsche Bewerbungen um internationale Ereignisse?

Helmut Digel: „Das glaube ich nicht, denn deutsche Bewerbungen sind immer kompetente. Wir haben gute Kampfrichter, eine gute Organisation und viel Erfahrung.“

Das Gespräch führte Jörg Wenig,
Leichtathletik Nr. 38,
dem 18. September 2007

author: GRR

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