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20
07
2013

Muskelverletzung löst Dilemma

Wer ist Homiyu Tesfaye? Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

08.07.2013 ·  Ein aus Äthiopien stammender Mittelstreckenläufer startet seit vergangener Woche für Deutschland – und steht im Mittelpunkt einer Kontroverse.

Der Endspurt im Rennen über 800 Meter war brutal. Er begann zwei Runden vor dem Ziel, mit dem Startschuss. Homiyu Tesfaye rannte los, als säße ihm der Teufel im Nacken, und Robin Schembera jagte ihm nach. Die ersten 200 Meter absolvierten sie in 24,17 Sekunden. Hätten sie dieses Wahnsinnstempo beibehalten, wäre bei der deutschen Meisterschaft in Ulm der Weltrekord von David Rudisha, unfassbare 1:40,91 Minuten, um Sekunden unterboten worden.

Aber niemand hält solch eine Gangart durch. Aus der letzten Kurve schob sich Schembera an seinem Gegner vorbei auf die Zielgerade, die letzten hundert Meter. Tesfaye stampfte ihm nach. Vom Anfangstempo war nichts geblieben. Es begann, wie Schembera scherzte, ein „Wett-Stehen“. Doch erst hinter der Linie, nach 1:47,05 Minuten, gingen beide zu Boden; erst sank der Sieger in die Knie, dann legte sich der Geschlagene auf die Bahn, die linke Hand fasste an den Oberschenkel.

Während Tesfaye sich wälzte, um Hilfe zu rufen schien und schließlich auf einer Trage von der Bahn gehoben wurde, gab Schembera den Journalisten Antworten. Antworten, die hintergründig wirkten, fast doppelbödig: Ja, erwiderte er auf die Frage, ob es um mehr gegangen sei als um die Meisterschaft. „Das war eine Frage der Ehre.“ Was er damit meine? „Die 800 Meter sind meine Disziplin, nicht die eines 1500-Meter-Läufers.“

Er habe mit Homiyu darüber gesprochen, fügte er an, dass dieser die Liegestütze weglasse – eine Anspielung auf die Triumphe seines Gegners, über die noch zu reden sein wird. „Ich habe gezeigt, dass er schlagbar ist. Ich muss sagen“, fügte Schembera noch an, „er ist ein netter Junge.“

Identisch mit mit Henok Tesfaye Hey?

Das erwähnt man nur, wenn andere es bestreiten. Homiyu Tesfaye ist seit Monaten Gegenstand einer bitteren Debatte, die nicht wirklich öffentlich stattfindet; nicht in Zeitungen, Rundfunk oder Fernsehen, sondern in privaten Gesprächen von Läufern und Trainern, in Internet-Foren und in juristischen Schreiben, Anzeige und Abmahnung.

Im Kern geht es um die Frage, ob Homiyu Tesfaye Heyi, geboren am 23. Juni 1993 und seit Freitag vergangener Woche deutscher Staatsbürger, identisch ist mit Henok Tesfaye Hey, drei Jahre und vier Monate älter, und bei den Jugend-Weltmeisterschaften 2007 in Ostrava sowie bei der Junioren-WM 2008 in Bydgoszcz für Äthiopien am Start. Nicht nur die Namen klingen erstaunlich ähnlich, auch die Fotos, die von Henok Tesfaye im Internet zu sehen sind, zeigen eine verblüffende Ähnlichkeit mit Homiyu.
 
Homiyu Tesfaye startet für Eintracht Frankfurt

Es gibt keine Zeugnisse von der Existenz oder von Wettkämpfen Henoks seit April 2010 im Netz, als er einen 15-Kilometer-Straßenlauf in Istanbul gewann. Und es gibt verstörende Details wie die blaue Hose mit gelbem Streifen, die Homiyu bei seinem ersten Rennen in Deutschland trug, den 1500 Metern bei der Mannheimer Junioren-Gala im Juli 2011. Genau so eine Hose hatte Henok Tesfaye bei seinem letzten Lauf an, dem in der Türkei. Dazwischen liegt das Asylgesuch von Homiyu Tesfaye im Juli 2010 in Frankfurt am Main.

Nimmt er Startplätze weg?

Homiyu Tesfaye und seine Förderer führen die Debatte auf die Verbitterung des Frankfurter Trainers zurück, dem der talentierte Läufer damals wie ein Geschenk des Himmels zufiel. Nach einem Jahr wechselte der Athlet zu Landes- und Bundestrainer Wolfgang Heinig. Es folgten eine Anzeige wegen Sozialbetrugs und Hinweise in Internet-Foren. Sportler, Verband und Verein verstehen dies als Racheakte. Der Trainer ist abgemahnt; er darf über den Läufer nicht sprechen.

Mit den Liegestützen eskalierten Verdächtigungen und Ärger. Der körperlich deutlich überlegene Tesfaye machte sie im Ziel, als er bei den deutschen U-23-Meisterschaften über 1500 Meter vor drei Wochen in Göttingen mit Riesenvorsprung siegte – bis der Letzte durch war. Athleten und Trainer empfanden das als Verhöhnung. Bundestrainer Heinig sagt: „Das hat man in Deutschland nicht verstanden, weil wir ein unterkühltes Volk sind.“

Ein anderer Insider erzählt, dass Tesfaye rassistisch beleidigt worden sei und zeigen wollte, dass er nicht klein beigebe. Doch immer schwang der Verdacht mit, dass Tesfaye jüngeren Läufern Titel und Startplätze wegschnappe. „Wenn seine Angaben der Realität entsprechen, hat Tesfaye ein Recht darauf, dass wir ihn einbürgern“, sagt Schembera. „Aber das mit den Liegestützen geht gar nicht.“

„Ich kenne ihn nicht“

So gut spricht Tesfaye inzwischen Deutsch, dass er seinem Hauptschulabschluss die Abendschule folgen lassen will. „Ich bin glücklich“, sagt er, als er in Ulm auf dem Rasen des Einlaufplatzes sitzt, seit zwei Tagen Deutscher und Sieger seines Vorlaufs. „Ich will nicht über die Vergangenheit sprechen. Das ist privat.“ Weitere Fragen beantwortet er klar und deutlich. Wer ist Henok Tesfaye? „Ich kenne ihn nicht. Es gibt so viele äthiopische Läufer. Ich kenne Haile Gebrselassie und Kenenisa Bekele.“ Persönlich? „Nein. Aus dem Fernsehen.“ Die Bilder von Henok Tesfaye seien ihm im Jugendamt vorgelegt worden. „Er sieht mir nicht ähnlich.“

Es war nicht leicht, Homiyu Tesfaye die Gelegenheit zu geben, offene Fragen zu beantworten und Verdächtigungen zu widersprechen. Trainer Heinig warnte: „Wenn unsere Staatsmacht bescheinigt, dass jemand der ist, der er sagt, dass er es sei, ist jede andere Behauptung kriminell.“ Auf Verleumdungen werde er mit Klage reagieren. Eine Taufbescheinigung aus Äthiopien anzuzweifeln, so klingt er, muss so etwas wie Gotteslästerung sein.

Gespräch in Ulm

Ein Gesprächstermin vor der Meisterschaft in Ulm beim Hessischen Leichtathletik-Verband in Frankfurt scheiterte. Der Sportwart wurde mit einem Redeverbot belegt, der Trainer ließ ausrichten, er wäre gern dabei: also in Ulm. Der Läufer war plötzlich nicht mehr zu erreichen. Homiyu Tesfaye gehöre zu den erfolgreichsten Mittelstrecklern seiner Altersklasse in Europa und in der Welt, attestierte der Deutsche Leichtathletik-Verband; an seiner beschleunigten Einbürgerung schon nach drei Jahren bestehe ein besonderes öffentliches Interesse.

Der Mann gilt als Medaillenkandidat für die Olympischen Spiele 2016 in Rio.

Das Gespräch in Ulm kam dann unter der Bedingung zustande, dass DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen dabei sitzt und es zeitlich befristet ist. Nun also konnte Homiyu Tesfaye erzählen, dass er aus einem Ort in der Nähe von Addis Abeba komme, zwei Brüder und zwei Schwestern habe und in der Schule viel gelaufen sei. Wettbewerbe seien deshalb nichts Neues für ihn. Und die Hose? Die habe er vom Verein in Frankfurt bekommen, der werde von Nike ausgestattet.

Muskelverletzung löst Dilemma

Das Regime in Äthiopien verfolgt seine Bürger aus verschiedenen Gründen; das reicht von der sexuellen Orientierung über die Verweigerung des Kriegsdienstes bis zur politischen Betätigung. Niemanden als das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geht das im Einzelfall etwas an. Es ist üblich, dass Flüchtlinge, nicht nur aus Äthiopien, Deutschland ohne Pass erreichen. Sie nennen einen Namen und ein Geburtsdatum, und nicht wenige fühlen sich geschützt, wenn sie den Namen, den das Regime in ihrer Heimat zur Fahndung ausgeschrieben hat, verändern.

Sie wissen, dass Minderjährige vor Abschiebung geschützt sind und besser untergebracht werden als Erwachsene. Hessen verzichtet im Gegensatz zu anderen Ländern darauf, das Alter anhand des Gebisses, der Handwurzelknochen oder der Körperbehaarung zu bestimmen. Es gibt mehr als eine Wahrheit in dieser Welt der politischen Verfolgung und des Asyls. „Dokumente können echt sein“, sagt jemand, der damit tagtäglich zu tun hat. „Aber ob sie zur Wahrheit beitragen? Diese Frage ist müßig.“

“Jeder hat sein Recht“, heißt die gleiche Aussage bei Homiyu Tesfaye. Er blinzelt in die Sonne über Ulm. Wie soll er verstehen, dass sich in seiner Person die Ambivalenz des politischen Asyls und der Anspruch des Sports begegnen, dass jede Zahl konkret und korrekt ist? Es gibt Erste, Zweite, es gibt Rekorde, es gibt Altersklassen. Sein Dilemma wäre nun auch noch ins Nationaltrikot gekleidet worden, hätte er seinen Startplatz über 1500 Meter bei den U-23-Europameisterschaften eingenommen, die am Mittwoch in Tampere beginnen.

Es war wohl das Schicksal, das dies verhinderte. Wegen einer Muskelverletzung, teilt der Verband mit, müsse Homiyu Tesfaye auf die Teilnahme verzichten.

 

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 8. Juli 2013

 

author: GRR

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