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04
2022

Rose für Herbert Schmeisser - Foto: Bernd Hübner

Was ist passiert? Impressionen vom Stolperstein-Lauf durch Berlin-Heiligensee, Karfreitag, 15. April 2022 von Dr. Erdmute Nieke

By GRR 0

„Stolpersteine, überall Stolpersteine, in meiner Straße, Stolpersteine, nächste Haustür Stolpersteine, stolper über Stolpersteine… Was ist passiert?“ singt Rapper Trettmann (*1973) in seinem Lied „Stolpersteine“ von 2019.

Karfreitag, morgens um 9 Uhr – das Wetter ist grau und kühl – schallt dieses Lied am Waldrand vom Tegeler Forst im Berliner Norden, aus einer kleinen Musikbox. Um den Lautsprecher herum stehen 14 Läufer:innen und drei Radfahrer:innen vom Lauftreff Bernd Hübner Berlin.

Start mit dem Stolpersteinlied vom Rapper Trettmann – Foto: Bernd Hübner

Die Einstimmung auf einen besonderen Lauf an einem besonderen Tag – die Gruppe läuft los, ausgestattet mit acht weißen Rosen, die rote Schleifen mit der Frage „Was ist passiert?“ tragen und ausgestattet mit Messingputzmittel und Schwamm und Putztuch. Nach gut zwei Kilometern durch den Forst erreicht die Gruppe Heiligensee, einen kleinen Stadtrand-Kiez im Berliner Stadtbezirk Reinickendorf.

Der erste Stolperstein: Während eine Läuferin den Stein poliert und zum Glänzen bringt, lauschen alle, was es über Rudolf Karl Behrens zu berichten gibt. Mit 34 Jahren wurde er in der sogenannten Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde im Rahmen der T4-Aktion 1944 ermordet. Am frisch polierten Stein legen wir eine weiße Rose für Rudolf nieder.

Das machen wir noch sieben Mal an diesem Vormittag. Denn in Heiligensee erinnern acht Stolpersteine an Menschen, die hier gewohnt haben und denen die Nationalsozialisten das Lebensrecht abgesprochen haben.

Wir laufen weiter zu Rosa Weißbach, als Jüdin mit 58 Jahren, 1940 in den Suizid getrieben, wir stehen direkt am Ort des grausamen Geschehens.

Eine weitere Rose für Johanna Pawiewicz, mit 60 Jahren ein Opfer der T4 Aktion, 1944 auch in Obrawalde ermordet.

Weiter zu Herbert Schmeisser, wegen seiner Homosexualität wurde er viermal verhaftet und mit 39 Jahren 1941 im KZ Sachsenhausen ermordet.

Direkt gegenüber erinnert der nächste Stolperstein an Paul Terting, mit 52 Jahren im Rahmen der T4-Aktion 1941 in Bernburg ermordet.

Die nächste Rose ist für Anna Rosalie Rochlitz, ermordet mit 56 Jahren im Jahr 1943 wieder in Obrawalde.

Dann laufen wir weiter zu Jenny Hirschbruch, Jüdin, ihr Stolpersein inmitten einer Kleingartenkolonie, 1942 mit 87 Jahren im KZ Thereisenstadt gestorben.

Putzen und hören – Stolperstein für Jenny Hirschbruch – Foto: Bernd Hübner

Der 8. Stolperstein gehört zu Frieda Wessel, zuerst zwangssterilisiert, dann in der der Gaskammer der sogenannten Pflegeanstalt Neuruppin 1941 mit 29 Jahren ermordet.

Inzwischen hat Regen eingesetzt. Doch die gehörten Geschichten bewegen uns mehr als uns das feuchte und kühle Wetter stört. Die Gruppe läuft durch den Forst zurück zum Start.

Unterwegs noch eine letzte Pause in der Waldkirche. Vor dem weißen Birkenkreuz hören wir einen aktuellen Text – ganz interreligiös – von dem muslimischen Schriftsteller Navid Kermani, in dem es um Jesu Weisheit geht und wie unerfüllbar Jesu Forderung nach der Feindesliebe ist. Navid Kermani dazu: „verstehe ich Feindesliebe so, dass ich dem Unverständlichen, dem Fremden, dem Dunklen, Ausdruck zu geben versuche… in meiner eigenen Seele, wie in der Welt…. Suche stets den Frieden.“ (zit. aus Navid Kermani, Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen – Fragen nach Gott, München 2022, S. 156)

Waldkirche im Tegeler Forst – Foto: Bernd Hübner

Treffender kann es an einem Karfreitag, an dem sich Christ:innen an die Hinrichtung Jesu erinnern, nicht formuliert sein. Wir haben uns an acht Menschen erinnert, die in Heiligensee lebten und aktuell müssen wir einen Krieg in der Ukraine erleben.

Auch auf diese Weise – laufend und gleichzeitig erinnernd – können wir dem Dunklen und dem Unverständlichen von einst und von heute gemeinsam Ausdruck verleihen.

Eine schlichte Idee zum Laufen und Erinnern, ein Stolpersteinlauf sei allen Läufer:innen zur Nachahmung ans Herz gelegt. Mögen die acht weißen Rosen noch lange an die 15 gemeinsamen Karfreitags-Kilometer erinnern!

Mitläuferin Marita hat den Lauf so treffend zusammen gefasst: „8sam an 8 Stolpersteinen, inne gehalten voller Gedenken……“

Dr. Erdmute Nieke

 

 

 

 

 

 

 

 

 

author: GRR