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24
08
2011

Geoffrey Mutai gewinnt in sensationellen 2:03:02 den Boston-Marathon 2011. Foto: Victah Seiler ©Victah Sailer

Was für ein Jahr! Die Ereignisse in der Straßenlaufszene 2011 stellen bisher alles in den Schatten. – Teil V und Schluß – Helmut Winter berichtet

By GRR 0

Neben London war der 17.4.2011 Großkampftag in Sachen Marathon, wobei der Wien-Marathon die Aufmerksamkeit wegen des Starts von Haile Gebrselassie auf sich zog. Der Star der Szene lief dort nur einen Halbmarathon, in dem er die zwei Minuten Rückstand auf die früher gestartete Marathonspitze souverän aufholte und in seinem Sololauf beachtliche 60:18 erzielte.

Haile zeigte sich in bester Form und es erscheint gut möglich, dass er sich am 25. September in Berlin für das äthiopische Marathonteam für die Olympischen Spiele in London 2012 qualifiziert. Welche Chancen der dann bereits 39 jährige Ausnahmeathlet auf olympisches Marathongold hat, wird sich zeigen müssen. Die Konkurrenz wird stark sein, aber immer dann, wenn man Haile bereits abgeschrieben hatte, war er mit Höchstleistungen präsent. Und von seiner Persönlichkeit ist er sowieso unübertroffen, es gab kaum jemanden in Wien, der nicht von Haile schwärmte.

Den Marathon über die volle Distanz gewann John Kiprotich in 2:08:29, recht deutlich über dem Streckenrekord, aber 10 Läufer im Ziel unter 2:13 bedeuteten eine erfreuliche Breite.

Während der Streckenrekord in Wien ausblieb, gab es am gleichen Tag an anderen Orten Rekorde in Serie. In Padua gewann Aredo Tadeso (ETH) in 2:09:02, in Madrid Moses Arusei (KEN) in 2:10:58, in Annecy Benjamin Bitok (KEN) in 2:11:33, alles Streckenrekorde. Bemerkenswert die Leistung des Siegers im holländischen Enschede, dort lief der Hase Stephen Kiprotich aus Uganda durch und siegt in tollen 2:07:20. Auch dies war natürlich Kursrekord. Aber einen Tag später am 18.4.2011 – Weltrekordler Haile feierte in Wien seinen 38. Geburtstag – gab es einen Rekord, der der Marathonwelt die Sprache verschlug.

Schon im letzten Jahr hatte man auf Boston geschaut, als die Serie der unspektakulären Zeiten plötzlich durch eine 2:05:52 durchbrochen wurde. Bis dahin galt der Kurs als schwierig und für Bestzeiten ungeeignet, die mittlerweile 115 Ausgaben des Klassikers belegen dies deutlich. Zudem entspricht der Kurs bezüglich Gefälle und der Start-Ziel-Distanz nicht den Regeln der IAAF.

Seit dem 18.4. hat sich einiges geändert. Bei idealen Temperaturen und noch günstigeren Winden legte insbesondere der Amerikaner Ryan Hall nach dem Start in Hopkinton ein derartiges Tempo vor, dass zunächst die Zwischenzeiten staunend registriert wurden. Als eine große Gruppe in 1:01:58 beim Halbmarathon noch zusammen war, dachte man an die Hügel, die noch auf die Läufer warteten und üblicherweise Wirkung zeigten.

Was dann sich allerdings in Boston abspielte, hat es in der langen Geschichte des Marathons noch nicht gegeben. Es war zunächst Geoffrey Mutai, der es seinem Namensvetter beim London-Marathon gleichtat und das Tempo nochmals verschärfte, und das in der Steigung. 14:11 lief er den 5 km-Abschnitt mit dem Heartbreak Hill. Aber dann war jemand noch schneller. Moses Mosop lief mit 14:07 auf den folgenden 5 km wieder zu Mutai auf und kämpfte als Marathon-Debutant um den Sieg. Und der war hart umstritten, wobei sich Mutai erst auf der letzten Meile etwas absetzen konnte. Als Geoffrey dem Ziel schon sehr nahe kam, verschlug es den Zuschauer schlichtweg die Sprache, die Uhr zeigte noch eine „2:02“. Unfassbar!

Im Ziel scheiterte Mutai denkbar knapp in 2:03:02 an einer neuen Schallmauer, Mosop lief gleichfalls sensationelle 2:03:06. Und selbst Ryan Hall wurde als Vierter mit einer Zeit unter 2:05 für seine Tempoarbeit im ersten Teil belohnt. Als man nach einigen Tagen die unglaublichen Resultate verdaut hatte, brach eine Diskussion um diesen Lauf los, wie sie es bisher wohl kaum gegeben. Spekulationen von jeder nur möglichen Form wurden angestellt, insb. auch dahin gehend, was denn nun diese Fabelzeiten „wert“ sind und wie man mit ihnen verfährt.

Der sensationelle Kursrekord ist unbestritten, einer globalen Anerkennung stehen eindeutige Regeln entgegen, die auch die Organisatoren in Boston respektieren müssen. So werden die Zeiten den Eintrag in die Rekordlisten nur mit einem Stern indiziert erfahren, Hailes Berliner Zeit von 2:03:59 bleibt das offizielle Maß aller Dinge.

Wie immer man Boston 2011 auch bewertet und analysiert. Gesichert ist nur die Tatsache, dass keine sicheren Extrapolationen möglich scheinen. Hinsichtlich der vielfältigen Diskussionen zum Thema sei auf die zahlreichen Beiträge in der Fachpresse sowie im Internet verwiesen. Aber wie man die Dinge auch dreht, ein unbefriedigendes Gefühl verbleibt. Interessant werden die Entwicklungen sein, was die Bostoner mit ihrem „Geschenk“ anstellen.

Denn ein Lauf wie in diesem Jahr könnte sich schon bald wiederholen und wäre dann auch wieder ein Muster ohne Wert, was die Rekordtauglichkeit anbetrifft. Noch zeigt man sich gegenüber Streckenänderungen immun, aber mit 2:03 hatte in Boston vor einigen Monaten auch niemand gerechnet …

Was bei der Bewertung der Fabelzeiten in Boston unbedingt ins Kalkül gezogen werden muss, ist die Tatsache, dass neben perfekten Bedingungen mit Geoffrey Mutai und Moses Mosop sicherlich Läufer am Start waren, die ohne Zweifel zu den Besten gehören, die die internationale Laufszene aktuell zu bieten hat. Das zeigte sich im Juni wieder in Boston bei einem 10 km Lauf, den Mutai gegen seine Boston-Marathon-Mitstreiter überlegen in der schnellsten auf amerikanischem Boden gelaufenen Zeit von 27:19 gewann.

Auch das Duell gegen Namensvetter Emmanuel Mutai über 10 km im sizilianischen Castelbuono gewann Geoffrey überlegen, wie auch den Bogota-Halbmarathon gegen Deriba Merga. Geoffrey Mutai ist ohne Zweifel der Topfavorit beim New York City Marathon im November.

Ein erster Anwärter auf den Marathon-Weltrekord dürfte allerdings Moses Mosop sein, der am 9. Oktober in Chicago starten will und Regionen von 2:02 anpeilt. Das Vorhaben scheint vielleicht etwas überzogen, denn dazu muss er auch im zweiten Teil das Tempo hoch halten, woran man in den letzten Jahren in Chicago immer wieder gescheitert war. Dass sein Unterfangen aber durchaus möglich erscheint, zeigt sein Auftritt auf der Bahn Anfang Juni in Eugene, wo er Weltrekorde über 25 km (1:12:25,4) und 30 km (1:26:47,4) erzielen konnte.

Dabei ging er zunächst unterstützt vom amtierenden Marathon-Weltmeister Abel Kirui in 14:40 Abschnitten für die 5 km recht verhalten, um dann aber das Tempo im zweiten Teil zu steigern. Leider musste er den Lauf bei 30 km beenden, hätte aber sicher das Tempo noch einige Zeit halten können und die 40 km Marke unter 1:56 passiert. Eine Zeit von 2:02 über den Marathon wäre dann in der Tat möglich gewesen. Aber die Erfahrung zeigt, dass solche Spekulationen nur bedingt taugen, im Oktober warten die Straßen Chicagos auf den neuen Shooting Star der Marathonszene.

Und mit Chicago verbindet man auch ein Ereignis, das im Mai die Marathonwelt erschütterte. In einem der dramatischsten Rennen der jüngeren Geschichte kämpfte er beim Chicago Marathon am Oktober 2010 (10-10-10) seinen Kontrahenten Tsegaye Kebede (ETH) nieder und gewann damit nicht nur zum zweiten Mal den Chicago-Marathon sondern auch die Marathon Majors Wertung verbunden mit einem Preisgeld von 500.000 US$. Niemand konnte da ahnen, dass dies sein letzter Marathonlauf sein sollte. Samuel Kamau Wanjiru verstarb am 15. Mai 2011 unter bis heute nicht ganz geklärten Umständen.

Dass diese Entwicklung nicht ganz überraschend kam, deuteten vielfache Meldungen aus den Monaten davor an, die andeuteten, dass Sammy den Verlockungen des plötzlichen Reichtums nicht widerstehen konnte, ein Drama folgte dem nächsten. Am Ende beendete der Sprung oder Sturz vom Balkon seines Hauses (das soll er übrigens öfters praktiziert haben, nachdem er vom Lauftraining zurückkam und sich im Haus Getränke besorgte) eine Karriere, die Laufgeschichte schrieb und 2003 mit einem (Lauf-) Stipendium in Japan begann und seinen Höhepunkt mit seinem Sieg im Marathon bei den Olympischen Spielen in Beijing 2008 in der Klassezeit von 2:06:32 fand, der erste Olympiasieg eines Kenianers über diese Distanz.

Beeindruckend auch seine Bestmarken von 58:33 im Halbmarathon (2007) und 2:05:10 im Marathon (2009), womit er vermutlich aber sein wahres Leistungspotential noch nicht erschöpft hatte. Der Anfang vom Ende des zweimaligen Marathon-Majors-Sieger vollzog sich allerdings schon 2008, als er von Japan nach Kenia zurückkehrte und damit nicht mehr unter der Obhut seines Trainers Morishita stand.

Wanjiru wird als einer der großen Läufer der Geschichte in Erinnerung bleiben, als Persönlichkeit fehlte ihm aber die charakterliche Stärke.

 

Helmut Winter

 

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author: GRR

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