Mary Keitany (KEN) auf dem Weg in Ras Al Kheimah zu einem neuen Weltrekord im Halbmarathon der Frauen in 1:05:50. Foto: Victah Seiler ©Victah Sailer
Was für ein Jahr! Die Ereignisse in der Straßenlaufszene 2011 stellen bisher alles in den Schatten. Februar 2011 – Teil II – Helmut Winter berichtet
Anfang Februar begann auch die Marathonsaison in Japan, verbunden mit der Hoffnung bei den Männern wieder den Anschluss an die Weltspitze zu finden. Die Diskussion um die Misere im Elitebereich des Marathonlaufs bei den japanischen Männern wurde um einen interessanten Aspekt bereichert und bezog sich auf die zu hohen Trainingsumfänge im Jugend- und Juniorenbereich, die die zahlreichen Talente auf der Insel früh ausbrennen lässt.
Denn im Nachwuchsbereich steht der Straßenlauf im Japan von der Spitze und vor allem Breite auf höchstem Niveau; Halbmarathonläufe im Nachwuchsbereich mit mehreren 100 Läufern unter z.B. 1:10 sind in Japan kein Einzelfall. Aber auch am 6.2. beim Beppu-Oita-Marathon spielte die japanische Elite kaum eine Rolle, es siegte der Marokkaner Ahmed Badey in mäßigen 2:10:14, die allerdings auch sehr starken Windböen geschuldet waren. Eine Woche später war in Sevilla der Sieger schneller, Daniel Wedajo (KEN) lief dort mit 2:09:53 neuen Streckenrekord.
Den ersten „Kracher“ der Saison gab es dann beim Halbmarathon im Vereinigen Arabischen Emirat Ras Al Khaimah, wo man sich ähnlich wie Dubai mittlerweile in die Weltspitze des Straßenlaufs vorgearbeitet hat. Und was der Autor dieser Zeilen schon vor einigen Jahren prognostizierte, scheint sich nun in die Tat umzusetzen: die Rekorde wandern in die „Wüstenregionen“, wo im kalendarischen Winter ideale Bedingungen für Straßenläufe herrschen. Die weiterhin unabdingbaren finanziellen Ressourcen für die Verpflichtung von Weltklasseathleten waren dort bisher ebenfalls kein Problem.
Ein eindrucksvolles Resultat dieser Entwicklungen konnte man am 18. Februar im Emirat bestaunen. Schon im Vorfeld des Laufs war klar, dass für Mary Keitany (KEN) der Angriff auf den Halbmarathon-Weltrekord von Lornah Kiplagat in 1:06:25 sehr realistisch einzuschätzen war. Insb. ihr Weltrekord über 25 km bei den BIG25 im Mai 2010 deutete ihr einmaliges Leistungspotential auf den längeren Strecken an. So war es auch dann wenig überraschend, dass Mary schon bald die gesamte Frauenkonkurrenz hinter sich ließ und mit Riesenschritten in eine neue Dimension im Halbmarathon der Frauen lief.
Quasi im Vorbeilaufen wurden von ihr auch die Marken über 8 km (24:30), 10 Meilen (50:05) sowie 20 km (62:36) verbessert, bei 12 km – auch dies eine der vielen außergewöhnlichen Ereignisse des Jahres – stand der Marker falsch und ihre Zwischenzeit konnte nicht anerkannt werden. Dafür aber vor allem die Zeit im Ziel. 1:05:50 lautet nun das Maß der Dinge im Halbmarathon der Frauen, ein in der Tat gewaltiger Sprung in der Leistungsentwicklung. Auch die Durchgangzeit bei 10 km vom 30:45 belegt welches Niveau der Straßenlauf bei den Frauen mittlerweile erreicht hat. Mary deutete hier schon an, dass ihr Auftritt beim London-Marathon in andere Dimensionen gehen würde als bei ihrem verhalten gelaufenen Debut in New York City im November des letzten Jahres.
Bei den Männern erfüllten sich die Hoffnungen auf eine außergewöhnliche Zeit nicht ganz. Zwar lief der als Frontläufer bekannte Äthiopier Deriba Merga dem gesamten Feld schnell auf und davon und markierte bei 8 km in 21:51 eine neue globale Bestmarke, am Ende brach er wie auch schon bei früheren Rennen, erzielte aber mit 59:25 immer noch eine Klassezeit. Auf einem deutlich höheren Niveau lief dann allerdings 4 Wochen später Zersenay Tasdese aus Eritrea, der beim Lissabon-Halbmarathon am 20.3 seinen Weltrekord von 58:23 mit 58:30 nur knapp verfehlte.
Nachdem er ab 5 km ein einsamen Solorennen startete – am Ende war der Zweitplatzierte genau 2 Minuten hinter ihm im Ziel – lag er bald auf Weltrekordkurs, doch nach einer Wende bei 18 km war es vor allem auch ein scharfer Wind, der eine neue Bestmarke im Halbmarathon der Männer verhinderte.
Ereignisreich in mehrfacher Hinsicht war der Tokyo-Marathon am 27. Februar, bei dem 30000 Starter zugelassen wurden, fast zehnmal größer war die Zahl der Anmeldungen (im kommenden Jahr wird der parallel gestartete 10 km nicht mehr stattfinden und dafür die Zahl der Marathonstarter moderat aufgestockt). Zunächst die große Enttäuschung, da der Superstar der Veranstaltung, Haile Gebrselassie, verletzungsbedingt sein Comeback absagen musste (auf Haile kommen wir später noch zurück). Sein Landsmann Hailu Mekonnen vertrat ihn aber bestens und siegte bei endlich wieder einmal guten Bedingungen in der japanischen Hauptstadt mit 2:07:25.
Das eigentliche Highlight dieses Laufs spielte sich aber hinter den führenden Läufern ab, denn ein japanischer Amateur und Nobody kämpfte sich mit sichtbar allen Kräften bis auf den dritten Platz vor und wurde in beachtlichen 2:08:37 bester Japaner, eine Leistung, die ihn in das japanische Team für die WM in Daegu katapultierte. Damit beendete er nicht nur die Serie schwacher Leistungen japanischer Marathonläufer, sondern blamierte auch seine professionellen Mitstreiter, die nicht wie Yuki Kawauchi einem Ganztagsjob nachgehen müssen. Und den nimmt der 23 jähriger Mann aus der Nähe Tokyos sehr ernst.
Nach dem Toyko-Marathon verschwand er schon bald mit seinem zum Lauf mitgebrachtem Koffer, um am nächsten Morgen in der Schulverwaltung einer Highschool in einem Anzug gekleidet bei der Einschulung zu helfen. Es versteht sich von selbst, dass diese Story ganz auf der Linie der japanischen Mentalität lag. Yuki wurde schnell zu einem überaus sympathischen Medienstar auf der Insel, dessen Kampfgeist viele an heroische Vorfahren zu erinnern schien.
Bevor aber die Kawauchi-Hype sich in ungeahnte Höhen schrauben konnte, wurde das Land gut zwei Wochen nach dem Tokyo-Marathon von einer unfassbaren Naturkatastrophe heimgesucht. Damit war nicht nur Yuki aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden, mit dem Schock durch die Ereignisse kam auch jegliche sportliche Aktivität auf Japans Straßen zum erliegen und alle größeren Veranstaltungen wurde in der Folgezeit abgesagt, bereits gezahlte Startgelder in karitative Kanäle weitergeleitet. Doch trotzdem blieb diesbezüglich die Laufszene aktiv, denn gerade auch aus diesem Umfeld kamen weltweit viele Aktionen der Solidarität und der spontanen Hilfe.
Mittlerweile hat man in Japan wieder zu einer gewissen Normalität zurückgefunden, und auch Kawauchi wurde damit wieder in den Blick der Öffentlichkeit gerückt. Mit großem Interesse werden alle Details seiner Vorbereitungen auf den WM-Marathon Anfang September verfolgt, entsprechend hoch die Betroffenheit, als der neue Held auf Japans Straßen bei einem 50 km Testrennen völlig dehydriert zusammenbrach und stationär behandelt werden musste.
Aber Kawauchi wäre nicht Kawauchi, wenn er solche Ereignisse nicht klaglos überstehen und schon einige Tage danach wieder in den Alltag zurückfinden würde, mit Arbeit und Training.
Helmut Winter