Auch die zwei Anläufe vom Halbmarathon-Weltrekordler und Olympiasieger Sammy Wanjiru in London (2:05:10) und Chicago (2:05:41) waren nach furiosen Starts letztlich erfolglos
Was für ein Jahr! Anmerkungen zur internationalen Marathonlaufszene im Jahr 2009 – Helmut Winter berichtet
Auch wenn der Weltrekord im Marathon von Haile Gebrselassie aus dem letzten Jahr (2:03:59, Berlin) allen Angriffen widerstand, ist die Bilanz des Jahres 2009 in vielfacher Hinsicht einmalig. In der Breite und in den Spitzenzeiten ist die rasante Leistungsentwicklung der internationalen Marathonszene auch in diesem Jahr weitergegangen, wobei dies allerdings weitgehend auf die Männer beschränkt blieb.
Streckenrekorde als wichtiges Leistungskriterium gab es bei der Mehrzahl der weltweit bedeutenden Läufe, wobei dabei die Bestmarken Regionen erreicht haben, die vor zehn Jahren noch zu Weltrekorden gereicht hätten. Dazu gehörten an der Spitze Rotterdam (2:04:27), London (2:05:10), Fukuoka (2:15:18), Chicago (2:05:41), Paris (2:05:47), Frankfurt (2:06:14) und Amsterdam (2:06:18).
Gleich mehrfach scheiterten die Angriffe auf den aktuellen Weltrekord recht knapp. Zweimal war das Wetter gegen Haile Gebrselassie, der sowohl in Dubai (2:05:29) bereits im Januar und in Berlin (2:06:08) im September wegen strömenden Regens bzw. zu hohen Temperaturen erst in der Schlussphase scheiterte.
Hailes Zeit von Dubai reichte bei dem hohen Niveau im Spitzenbereich nicht aus, zum fünften Mal hintereinander der Weltjahresschnellste zu sein. Haile landete diesmal nur auf dem achten Platz, wobei allerdings mit hoher Sicherheit keiner der vor ihm platzierten Konkurrenten unter den für Haile angetroffenen Witterungsbedingungen eine bessere Zeit erzielt hätte. Der Superstar der Szene musste in dieser Saison realisieren, dass der Marathonlauf eine Freiluftveranstaltung ist und ein Geschenk der Natur wie beim Weltrekord 2008 in Berlin nicht der Regelfall ist.
Auch die zwei Anläufe vom Halbmarathon-Weltrekordler und Olympiasieger Sammy Wanjiru in London (2:05:10) und Chicago (2:05:41) waren nach furiosen Starts letztlich erfolglos. Leider musste ein weiterer Aspirant auf den Rekord, der mehrfache London und New York Sieger Martin Lel, seine Starts über den Marathon jeweils absagen, nachdem er kurz zuvor noch glänzende Vorstellungen über die halbe Distanz zeigte.
Den schnellsten Lauf an der Spitze erlebte in diesem Jahr Rotterdam, wo man nach den Weltrekorden vor zwei Dekaden den Anschluss an die Weltspitze verlor. Bei idealen äußeren Bedingungen lieferten sich die Kenianer Duncan Kibet und James Kwambai ein Duell bis ins Ziel und wurden in tollen 2:04:27 hinter Haile die schnellsten Marathonläufer der Geschichte. Damit geht erstmals nach vielen Jahren die Krone der Jahresweltbestzeit wieder an die holländische Hafenstadt.
In diesem Lauf vollzog dort der noch junge Abel Kirui mit gleichfalls sehr beachtlichen 2:05:04 seinen Aufstieg in die absolute Elite, vier Monate später stellte er das dann bei der WM in Berlin mit dem Gewinn des Titels eindrucksvoll unter Beweis. Seine Siegerzeit von 2:06:54 in der Mittagshitze auf dem Rundkurs durch das Brandenburger Tor sind in einem Meisterschaftsrennen bei einer WM bisher auch nicht in Ansätzen erreicht worden.
Hervorragende Bedingungen wurden in Paris zu einer Fülle sehr guter Zeiten genutzt, die es in dieser Breite bisher kaum gab. In einem sehr gleichmäßig absolvierten Rennen gab es durch Vincent Kipruto (KEN) in exzellenten 2:05:47 einen neuen Streckenrekord, wobei bereits kurz nach dem Sieger in dichter Folge seine Mitstreiter das Ziel erreichten. Sechs Läufer unter 2:07, elf unter 2:09 und 18 unter 2:13 sind in der Tat einmalig, wie auch das Zehnermittel des Laufs von glänzenden 2:07:07. Damit liegt man sogar vor den Rekordläufen beim London und Rotterdam Marathon mit 2:07:35 und 2:08:02.
Neben den etablierten Läufen im Spitzenfeld machten auch viele Läufe aus der zweiten Reihe von sich Reden und produzierten hervorragende Zeiten. So lief Jackson Kipkoech (KEN) in Tiberias am See Genezareth in Israel sehr gute 2:08:06, gleichfalls einen Streckenrekord gab es in Rom durch Benjamin Kiptoo (KEN) in 2:07:17, der schnellsten jemals in Italien erzielten Zeit, und auch in Prag durch Patrick Ivuti (KEN) in 2:07:48 und in Houston durch Deriba Merga (ETH) in 2:07:54 haben die Bestmarken internationale Standards erreicht. Vielstarter Merga gewann dann drei Monate später souverän den Boston Marathon in 2:08:42.
Und auch der Marathon-Novize Gilbert Kirwa (KEN) gewann 2009 zweimal, zunächst in 2:08:21 den Wien Marathon und im Oktober den Frankfurt Marathon mit Steckenrekord von beachtlichen 2:06:14. In beiden Läufen war auch der Österreicher Günter Weidlinger dabei, der nach dem Debut in 2:12:39 den österreichischen Rekord auf 2:10:47 steigerte und damit aktuell zu den besten Europäern auf dieser Distanz zu zählen ist. Auch Los Angeles meldete einen Streckenrekord durch Wesley Korir (KEN) in 2:08:24, wobei er auch das Verfolgungsrennen mit den zuvor gestarteten Elitefrauen und fast 200000 $ an Preisgeld gewann.
Erwähnenswert aus der japanischen Marathonszene ist die konsequente Entwicklung von den traditionellen Eliteläufen zu Massenveranstaltungen. Der Tokyo Marathon ist dort eindrucksvoller Vorreiter dieser Veränderungen, 260000 Anmeldungen lagen für den diesjährigen Lauf vor, von denen dann 30000 akzeptiert wurden, für 2010 liegen diese Zahlen noch höher. Durch ungünstiges Wetter waren allerdings die diesjährigen Läufe in Japan eher Mittelmaß, Salim Kipsang (KEN) gewann in Toyko in 2:10:27, Adil Annani (MAR) in Beppu-Oita in 2:10:15 und Altmeister Paul Tergat am Lake Biwa in 2:10:22.
Der Fukuoka-Marathon im Dezember kompensierte diese Bilanz maßgeblich mit einer tollen Vorstellung des Äthiopiers Tsegaye Kebede, der im April mit 2:05:20 als härtester Widersacher von Wanjiru beim London Marathon überzeugte. Durch fehlende japanische Konkurrenz wurde das Rennen diesmal deutlich schneller angelaufen als in den Vorjahren (Halbmarathon 1:03:05) und mit einem furiosen Finale stürmte Kebede zum neuen Streckenrekord von 2:05:18, der schnellsten jemals auf japanischem Boden gelaufenen Zeit. Im selben Rennen zeigte der Ukrainer Dmytro Baranovskyy ein erfreuliches Comeback, und seine 2:08:19 konnte in diesem Jahr keine europäischer Läufer unterbieten.
Welches Leistungsniveau weltweit im Jahr 2009 erreicht wurde, veranschaulichen eindrucksvolle Zahlen. Acht der 15 schnellsten jemals erzielten Zeiten im Marathon wurden in diesem Jahr erzielt, nur Haile Gebrselassie war zuvor schneller als Kibet und Kwambai in Rotterdam. Aber auch die Leistungsbreite entwickelt sich in beeindruckender Rasanz. Bezieht man sich auf den internatonalen Qualifikationsstandard von 2:13 so gab es diesbezüglich nach einer langen Periode mit typisch 250 Zeiten pro Jahr im letzten Jahr eine neue Bestmarke von 336 Zeiten.
Aber diese Bestmarke wurde in 2009 nochmals deutlich übertroffen, 376 Athleten waren bis zu Ende dieses Jahrs schneller. Eine in der Tat beeindruckende Zahl, die weitgehend auf ostafrikanischen Athleten basiert. Schon seit fast 10 Jahren hat ein deutscher Läufer diese Zeit nicht mehr unterboten, obgleich beim Düsseldorf Marathon Andre Pollmächer in 2:13:09 dieses Regime nur sehr knapp verfehlte.
Beim Kampf um die schnellste Stecke (das Mittel der zehn besten jemals auf einer Strecke erzielten Zeiten) behielt Berlin mit leicht verbesserten 2:05:30 die Nase vorn, durch die diesjährige hohe Leistungsdichte rückte allerdings London mit 2:05:36 sehr dicht auf. Rang 3 belegt nun Rotterdam mit 2:05:56, das durch die tollen Zeiten an der Spitze Chicago mit 2:06:02 von diesem Platz verdrängte. Auch Paris machte einen rasanten Sprung nach vorne und liegt jetzt mit 2:06:31 auf Platz fünf, knapp vor Amsterdam mit 2:06:36. Dabei ist festzustellen, dass bei den sechs schnellsten Strecken nur noch Zeiten von unter 2:07 in die Wertung kommen.
Erinnert man sich, dass vor einigen Jahren die Weltrekorde der Männer in den Dimensionen der aktuellen Mittelwerte lagen, sind das beeindruckende Entwicklungen. Nach diesen Fakten auch nur konsequent kam dann Anfang Juli die Auszeichnung „Marathon des Jahrzehnts“ für den Berlin-Marathon durch die AIMS, der internationalen Vereinigung der größten Laufveranstalter.
Weniger erfolgreich waren im Jahr 2009 die Bemühungen durch die World Marathon Majors, der sog. Eliteliga des Marathons (Boston, London, Berlin, Chicago, New York), die Akzeptanz in der Öffentlichkeit für diesen Sport zu erhöhen. Bei dem Punktesystem, das kaum ein Außenstehender begreift, geschweige denn verfolgt, setzten sich in der in diesem Jahr endenden Wertungsperiode Sammy Wanjiru bei den Männern und Irina Mikitenko bei den Frauen durch; für die Gewinner der jeweils 500000 $ eine lohnende Aktion, mehr aber auch nicht.
Wie gering die Erfolge auch 2009 in dem Bemühen waren, den Marathon neben dem übermächtigen Angebot an Fußballübertragungen in den Medien zu präsentieren, zeigt sich am Beispiel des Berlin Marathons, der auf Kosten des Trachten- und Schützenumzugs vom Oktoberfest in der ARD nicht mehr übertragen wurde. Eine Entscheidung, die auch inhaltlich nicht in Ansätzen nachzuvollziehen ist: Ca. 1.1 Millionen Seher interessierten sich für wackere Schützen und stramme Brauereihengste, aber fast genau so viele Zuschauer waren im Oktober beim Frankfurt Marathon im dritten Programm des Hessischen Rundfunks dabei.
Zum eigentlichen Termin des Berlin-Marathons übertrug dann die ARD am Sonntag über die gesamte Mittagszeit einen Sommer-Biathlon mit nur der halben Zahl an Zusehern. Quotenargumente scheinen in der Tat hier nicht der wahre Grund zu sein, zumal in der Invertierung der Logik ein Marathonlauf bei Eis und Schnee sicher niemals übertragen würde. Es ist in der Tat beschämend festzustellen, wie leichtfertig sich die öffentlich rechtlichen Medien der Pflicht einer ausgewogenen Berichterstattung entziehen. In 2010 kann das nur besser werden!
Von den weiteren Marathon Majors Läufen waren lediglich London bei Eurosport live zu sehen, beim New York Marathon übertrug man nur den ersten Teil und wechselte dann zum Tennis über. Das sollte ein Sender mal bei einem Fußballspiel umsetzen und nach der ersten Halbzeit wegschalten. Kaum denkbar, aber beim Laufsport muss man medientechnisch mittlerweile mit allem rechnen.
Abgesehen von der Verpflichtung öffentlich rechtlicher Medien zu einer ausgewogenen Berichterstattung bahnt sich hier eine Entwicklung an, die insbesondere über die Rückwirkung auf Sponsoren für die großen Veranstaltungen kritisch werden dürfte. Wie dramatisch sich die Dinge entwickeln können, zeigte sich in diesem Jahr bereits beim Hamburg Marathon, der durch den temporären Fortfalls eines Hauptsponsors erhebliche Einbußen in den Teilnehmerzahlen zu verzeichnen hatte und vom hohen Leistungsniveau der Vorjahre in die Zweitklassigkeit zurückfiel.
Statistik der Zeiten unter h:mm seit 2002. Die Anzahlen der Zeiten im Jahr 2009 (rote Balken) übertreffen die Leistungen der vorangegangenen Jahre sehr deutlich. In diesem Jahr blieben zudem 376 Läufer unter 2:13, aber kein Deutscher.
Im Marathon der Frauen waren die Dinge weniger spektakulär, wenn man einmal davon absieht, dass mit Irina Mikitenko eine deutsche Läuferin ganz vorne in der internationalen Szene mitmischt. Beeindruckend ihr Sieg gegen hochkarätige Konkurrenz beim London Marathon im April in 2:22:11, das ist zugleich die deutlich beste Zeit, die in diesem Jahr erzielt wurde.
Schade, dass durch persönliche Gründe der Start bei der WM in Berlin nicht möglich war. Dort gewann dann die noch junge Chinesin Xue Bai in 2:25:15 das Hitzerennen über die Mittagszeit, und auch Sabrina Mockenhaupt schlug sich mit Platz 17 in 2:30:07 ganz beachtlich. Im Oktober ging Irina Mikitenko beim Chicago Marathon wieder an den Start und wurde dort in einem sehr langsam angelaufenen Rennen in 2:26:31 Zweite. Dass sie diesen Lauf nicht gewinnen konnte, lag an einem in der Geschichte des Marathons einmaligen Finale der Russin Liliya Shobukhova (2:25:56), die die letzten 2195 m in phantastischen 6:36 zurücklegte, d.h. 3 Minuten pro km. Damit war sie am Ende sogar schneller als alle (!) Männer, auch der Sieger Wanjiru war mit 6:45 hier deutlich langsamer. So etwas hatte es bei einem Lauf mit internationaler Elite noch nie gegeben.
Insgesamt waren die Frauen im Bereich der Topzeiten sehr zurückhaltend. Keine Läuferin durchbrach 2009 das 2:20 Limit und realistische Angriffe auf die Bestmarke von Paula Radcliffe (2:15:25) dürften auf absehbare Zeit nicht zu erwarten sein. Das sah bei den Männern ganz anders aus, dort scheiterten zwar alle Versuche, Hailes Berliner Bestmarke zu unterbieten, aber das Potential ist zweifellos vorhanden, auch noch deutlich unter 2:04 zu laufen.
Den nächsten Angriff auf die Bestmarke wird Haile selbst starten, beim Dubai Marathon am 22. Januar 2010 stehen die Chancen bei besserem Wetter als im Vorjahr sicherlich nicht schlecht. Und auch Sammy Wanjiru hat weitere Ambitionen in dieser Sache angemeldet. Ferner sollte man diesbezüglich auch den Halbmarathon-Weltmeister Zersenay Tadese (ERI) auf der Rechnung haben, dessen Debut über die volle Distanz in London noch misslang.
Auszüge dieses Berichts finden sich im aktuellen Heft von RUNNING (1/2010)
Helmut Winter
Bestenliste für das Jahr 2009 Marathon Männer
1. Duncan Kibet KEN 02:04:27 Rotterdam
2. James Kwambai KEN 02:04:27 Rotterdam
3. Abel Kirui KEN 02:05:04 Rotterdam
4. Sammy Wanjiru KEN 02:05:10 London
5. Tsegaye Kebede ETH 02:05:18 Fukuoka
6. Tsegaye Kebede ETH 02:05:20 London
7. Jaouad Gharib MAR 02:05:27 London
8. Haile Gebrselassie ETH 02:05:29 Dubai
9. Sammy Wanjiru KEN 02:05:41 Chicago
10. Vincent Kipruto KEN 02:05:47 Paris
Ewige Bestenliste Marathon Männer
1. Haile Gebrselassie ETH 02:03:59 Berlin 28.09.2008
2. Haile Gebrselassie ETH 02:04:26 Berlin 30.09.2007
3. Duncan Kibet KEN 02:04:27 Rotterdam 05.04.2009
4. James Kwambai KEN 02:04:27 Rotterdam 05.04.2009
5. Haile Gebrselassie ETH 02:04:53 Dubai 18.01.2008
6. Paul Tergat KEN 02:04:55 Berlin 28.09.2003
7. Sammy Korir KEN 02:04:56 Berlin 28.09.2003
8. Abel Kirui KEN 02:05:04 Rotterdam 05.04.2009
9. Sammy Wanjiru KEN 02:05:10 London 26.04.2009
10. Martin Lel KEN 02:05:15 London 13.04.2008
11. Tsegaye Kebede ETH 02:05:28 Fukuoka 06.12.2009
12. Tsegaye Kebede ETH 02:05:20 London 26.04.2009
13. Samuel Wanjiru KEN 02:05:24 London 13.04.2008
14. Jaouad Gharib MAR 02:05:27 London 26.04.2009
15. Haile Gebrselassie ETH 02:05:29 Dubai 16.01.2009
Die schnellsten Marathonläufe im Jahr 2009
(Mittel der zehn schnellsten Zeiten)
1. Paris Marathon 2:07:07
2. London Marathon 2:07:35
3. Rotterdam Marathon 2:08:02
4. Amsterdam Marathon 2:08:21
5. Frankfurt Marathon 2:08:51
6. Eindhoven Marathon 2:09:11
7. Rom Marathon 2:09:56
8. Berlin Marathon 2:10:12
9. Chicago Marathon 2:10:15
10. Wien Marathon 2:10:47