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10
07
2022

Die Finals in Berlin mit wenigen Zuschauern - Foto: Horst Milde

Wandertag des deutschen Sports -Die Finals sind ein Fernsehereignis nach dem Vorbild der langen Tage des Wintersports. Kommentar von Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Gedränge am Brandenburger Tor, Betrieb an der Spree, Menschenauflauf vorm Roten Rathaus – so liebt es der Berliner. Für ein langes Wochenende war seine Stadt Mittelpunkt der Sportwelt, jedenfalls der deutschen, jedenfalls in 14 Sportarten. 2200 Sportlerinnen und Sportler gaben Freunden und Familie einen Grund, in Berlin dabei zu sein.

Wann sonst gehören die Besten unter anderem in Speed-Kanu-Polo und Trial auf dem Rad, in Bogenschießen, Trampolinturnen und Modernem Fünfkampf ohne Springreiten schon zu einem Sportereignis von nationaler Bedeutung? Zu einem solchen machen erstes und zweites Fernsehprogramm die Finals, zu denen sie 190 Entscheidungen zur selben Zeit am selben Ort zusammenfassten.

Doch was im selben Programm auf dem Bildschirm erscheint, ist längst keine gemeinsame Veranstaltung. Sportlerinnen und Sportler kämpften und feierten für sich, die einen da, die anderen dort. Wo der Eintritt frei war, bei eher randständigen Sportarten, schauen Neugierige gern vorbei. Im olympischen Kern, beim Turnen, Schwimmen und bei der Leichtathletik, kostete der Besuch so viel, dass viele entweder darauf verzichteten oder enttäuscht waren, dass – wie in der Leichtathletik – große Namen fehlten.

Zuschauer, die von Wettbewerb zu Wettbewerb eilten, konnten das malerische Gelände rund ums Olympiastadion von 1936 kennenlernen und den – heißer Tipp: – denkmalgeschützten und nicht klimatisierten Kuppelsaal, in dem schon 1936 gefochten wurde. Sie realisierten auch, dass die Schalte von einem Highlight zum anderen dem Fernsehen leichter fällt als denjenigen, die mit Rad und 9-Euro-Ticket unterwegs sind. „Beam me up, Scotty“ – das blieb unerhört. Die Weitläufigkeit Berlins verwandelte manches optimistisch geplante Sportwochenende in zwei zähe Wandertage.

Die Finals sind ein Fernsehereignis nach dem Vorbild der langen Tage des Wintersports. Dabei springen ARD und ZDF von Eiskanal zu Skisprungschanze, von Slalomkurs zu Loipe und Eisbahn, und alle sind’s zufrieden, weil sich derart gebündelt Quote, Aufmerksamkeit und Zufriedenheit der Sponsoren vergrößern – und auf Empfängerseite niemand sich veranlasst sähe, den Fernsehsessel zu verlassen. Dies mit den deutschen und den Europameisterschaften von Sommersportarten zu versuchen und daraus auch noch ein Gemeinschaftserlebnis zu schaffen ist ambitioniert. Für bekannte Athleten und große Verbände ist es auch ein Akt der Solidarität.

Vor allem die Leichtathletik ist in Berlin fehl am Platz. Die mehr als 70 000 Sitzplätze des Olympiastadions – und das ist als Kulisse fürs Fernsehen ein Muss – waren selbst bei den Welt- und Europameisterschaften von 2009 und 2018 nicht leicht zu füllen. Nun war lediglich die Haupttribüne einigermaßen besetzt. Städte wie Braunschweig und Erfurt, Wattenscheid und Nürnberg haben sich mit ihren kleinen, feinen Stadien geschickt über die Jahre als Heimstätten der Leichtathletik etabliert.

In den nächsten beiden Jahre erwarten Kassel und Dresden die deutschen Meisterschaften. Das dürfte besser passen als in diesem Jahr, da die Leichtathletik in Berlin, wie man am Ort sagt, auf dicke Hose machte, aber nicht genug Hintern hatte, sie zu füllen.

Kommentar von Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 26. .Juni 2022

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

author: GRR