Heinz-Florian Oertel - Foto: Klaus Weidt
„Waldemar ist da!“ Doch nicht nur Waldemar Cierpinski machte Heinz Florian Oertel zur Reporterlegende. Vor kurzem starb „HFÖ“ mit 95 Jahren. Sein Leben aber, auch für den Laufsport, bleibt unsterblich. Klaus Weidt erinnert sich an Begegnungen
Im September 1997 lud mich Heinz Florian Oertel in ein Café am Alexanderplatz ein. Er freute sich, dass er in der Laufzeit seine Kolumnen fortführen konnte und übergab mir sein neustes Buch „Höchste Zeit“. 240 Seiten Lebens-Erinnerungen. Seine Widmung bewegt mich heute noch: „Laufzeit, Reisezeit, Höchste Zeit! Danke, Klaus!“
Wir hatten gerade das neue Laufzeitjournal in Berlin ins Laufen gebracht und dazu noch dazu mit der Reisezeit eine Laufreiseagentur gegründet, was Heinz Florian imponierte. Die Wenigsten werden wissen, dass er für die Laufzeit von 1990 bis 2017 Mitarbeiter war. Seine letzte Kolumne galt den Running-Legenden Nurmi und Zatopek. Sie hatten ihn einst in seiner frühen Reporterzeit begeistert.
In jener „Fußnote“ erinnerte er sich auch an ein Geschenk des legendären Olympiasiegers und Weltrekordlers Emil Zatopek – eine Krawatte, die ihm dann allerdings von einem Unbekannten entwendet wurde. „Davon“, so Oertel schmunzelnd, „werde ich ihm einst im Himmel erzählen.“
Natürlich sind die Reportagen über Waldemar Cierpinski unsterblich. Oertels Sprüche bleiben dabei unvergesslich. Ich fragte ihn mal vor Jahren, wie er auf die tollen Pointen gekommen ist. Er verriet schmunzelnd: Als 1976 der Hallenser zum ersten Mal Marathon-Olympiasieger wurde, riss es ihn vom Reporterstuhl, und da resümierte er spontan: “Wenn man aufsteht, wird die Verbeugung tiefer.“
Waldemar Cierpinski und Heinz Florian (r.) Oertel – Foto aus dem Buch: „Nennt eure Söhne Waldemar“ – Ausriss
„Liebe junge Väter, haben Sie Mut. Nennen Sie ihre Neuankömmlinge des heutigen Tages ruhig Waldemar.
In Moskau, ich hatte zwar „Waldis“ zweiten olympischen Triumpf selbst erleben, aber Oertels Schlussreportage aber erst später anhören können, entstanden wohl Oertels berühmteste Sätze: „Liebe junge Väter, haben Sie Mut. Nennen Sie ihre Neuankömmlinge des heutigen Tages ruhig Waldemar. Waldemar ist da!“ HFÖ erzählte mir später, dass er vor dem Eintreffen Cierpinskis im Stadion zur Stimmenlockerung das Lied von Zarah Leander „Er hieß Waldemar“ gesummt und dazu ergänzt hatte: „Weil es im Wald geschah…“
Eins der vielen Bücher, die er neben seiner Reportertätigkeit und später im Rentenalter schrieb, hat den bekannten Titel „Wenn man aufsteht, wird die Verbeugung tiefer.“ Er schenkte es mir vor fünf Jahren und verwies auf Seite 143. Dort waren einige bemerkenswerte Sätze über den Laufsport und seine Beziehung zu ihm gedruckt: „Langes Laufen gehört zu meinem Leben. Hundertprozentig zu meinem Reporterleben.“ Er erkannte das freizeitliche Laufen als „Überlebenschance“: „Und ich lief, solange die Knochen mitmachten…“
Wer weiß noch, wie der heutige Berliner Neujahrslauf entstand?
Oertel bezeichnete ihn oft als „Deutschland-Unikat“. Und dieses Unikat entwickelte sich so: In seiner einstigen Rundfunk-Dauersendung „He-he-he, der Sport an der Spree“ warb er immer wieder für das Laufen, das Joggen und nutzte die Olympischen Sommerspiele 1972 von München und den brasilianischen Silvesterlauf für eine neue Idee. „Mein Gedanke war, wenn sich seit Jahr und Tag in Sao Paulo zur Silvesternacht Läuferstars gegen Bezahlung zum Lauf ins neue Jahr begegnen, können bei uns in Berlin gerade die Urläufer, die Unbezahlten im Mittelpunkt stehen.“ Und so entstand der erste deutsche Neujahrslauf im Berliner Friedrichshain.
Dass daraus sofort nach der Wende ein Gesamtberliner Neujahrslauf geboren wurde, lag sowohl an Oertel als auch an Horst Milde, dem Chef des BERLIN-MARATHON und vieler Berliner Läufe. Ein Telefongespräch zwischen beiden, und einTreffen im Auto auf der Strasse des 17. Juni – und schon war für sie klar: Wir machen’s gemeinsam. Alles wurde unkompliziert vereinbart und gut organisiert Am 1. Januar 1990 starteten zuerst die Berliner früh am damaligen Lenin-Platz im Friedrichshain und um 14 Uhr mehr als 25.000 (!) zum ersten „Gesamtberliner Neujahrslauf“ auf der Strasse des 17. Juni mit Durchlauf des Brandenburger Tors über den Boulevard „Unter den Linden“ zum „Roten Rathaus“ und zurück.
Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen: Zum Startplatz auf der Straße des 17. Juni erhielt ich noch einen DDR-Ausreisestempel, zurück ließ ich mir einen auf die Startnummer drücken.
Oertel dazu: „Mir imponierte wie Milde reagierte. Er reichte nach der Wende die Hand und versicherte, das machen wir weiter, weil es erhalten werden muss. Mit ihm erhielt der Neujahrslauf einen neuen Impuls. und seinen neuen Startort am Brandenburger Tor und die neue Strecke auf dem Boulevard „Unter den Linden“. In seinem Buch „Höchste Zeit“ resümiert er: „Wo in der Welt gibt es Ähnliches auf so geschichtsträchtigem Terrain und von Jedermanns gelaufen?“
Eine wohl bemerkenswerte Tatsache ist, dass an diesem letzten April-Wochenende in Dresden anlässlich des Oberelbe-Marathons ein 26. Läuferwochenende ausgerichtet wird. Laufzeit und Reisezeit hatten einst, 1997, gemeinsam mit Waldemar Cierpinski die Idee hierzu gehabt. Und sofort war auch Heinz Florian Oertel von dem neuen Unternehmen angetan. Viermal nahm er daran teil. Das zeigte Wirkung.
Von einem Kuraufenthalt in Bad Wilsnack aus rief er mich an und fragte, ob ich an einer Talkrunde im dortigen Klinikum teilnehmen würde. „Waldi“ hätte schon zugesagt. Und so plauderten wir dort zwei Stunden lang über Lauferlebnisse ebenso wie über Freuden und Sorgen. Es erwies sich zum Beispiel, dass nach 1990 der Laufsport in der Prignitz fast zusammengebrochen war. Dort, wo es einst Cross-Meisterschaften mit hohen Teilnehmerfeldern gab, gab es nun – nichts mehr. Wandte sich kühn Oertel an mich: „Könnt ihr da nicht das nächste Läuferwochenende stattfinden lassen?“ Cierpinski versicherte sofort, dass er dabei sein würde.
Daraus wuchs eine neue Idee: Läuferwochenende mit einem Lauf-Fest in Bad Wilsnack! Die Grundkonzeption war klar, das Klinikum zeigte sich bereit zu sponsern, die Therme wollte Läufer mit Startnummer kostenlos empfangen, es fehlte schließlich nur noch ein zugkräftiger Titel. Der fiel mir auf der Rückfahrt ein. Rund um Bad Wilsnack wurde noch Moor gestochen. Also warum nicht „Moormeile“?
Oertel, den ich danach anrief, fand den Namen originell. Seitdem gibt es Jahr für Jahr die Prignitzer Moormeile. Und natürlich ließ es sich HFÖ nicht nehmen, auch ein nächstes Läuferwochenende in dieser herrlich gelegenen Kurstadt zu besuchen.
Zwei Reisen mit Läufern wollte Oertel mitmachen und wandte sich daher an uns. Die eine sollte ihn noch einmal in eine bittere Vergangenheit führen. Auf die Insel Sylt. Dort wurde er in den letzten Kriegstagen in die Matrosen-Uniform gesteckt. Mit 17. Er erinnerte sich an den Befehl: „Sie sind zur Kriegsmarine einberufen und melden sich in der Prinz-Eugen-Kaserne von Stralsund.“ Stralsund war nur eine Zwischenstation, dann kam er nach Sylt. „Gott sei Dank war aber der Spuk bald zu Ende!“ Auf unserer Reise, fünf Jahrzehnte später, schaute er sich noch einmal seine einstige Kaserne „Möwenberg“ an, hatte dann aber viel Freude am traditionellen Syltlauf und einer öffentlichen, vielbesuchten Talkrunde.
Die zweite Läufer-Tour war auch für ihn ein Highlight. Wir organsierten nämlich 1996 eine Reise nach Athen. Der Anlass war ein besonderer: 100 Jahre Olympia und damit 100 Jahre Marathon. Oertel wollte dabei sein, also nahmen wir ihn mit, in einer beachtlich großen Reisegruppe von 133 Läufern. Auf den Spuren des ersten Olympiasiegers Spiridon Louis, vom Dorf Marathon ins ovale Olympiastadion von Athen. Am Abend dann Talk mit HFÖ – der Saal des Hotels „Amarilia“ war bis auf den letzten Platz besetzt. „Unvergesslich“, schwärmte die Reporterlegende und schenkte mir eine griechische Grappa-Spezialität – er, der Antialkoholiker.
Und diese steht, man soll’s kaum glauben, immer noch unangetastet in meinem Arbeitszimmer. Dort wird sie wohl ungeöffnet bleiben, in Erinnerung an den für mich vielseitigsten, originellsten und sprachgewaltigsten deutschen Fernseh- und Sportreporter.
Danke, HFÖ!
Klaus Weidt
Zum Autor: Klaus Weidt, Sportjournalist und Reisemanager, war Begründer des Journals Laufzeit (1990), der Reiseagentur Reisezeit (1997) und organisierte mit Christel Schemel bisher 26 Läuferwochenenden. Er kannte Heinz Florian Oertel persönlich seit den siebziger Jahren.
Heinz Florian Oertel – Höchste Zeit pdf