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15
08
2009

Es hat sich ja erwiesen, dass die vor dem Einlass in die Hall aufgebauten Hürden nicht eben niedrig sind. Sie soll ja ein Forum sein „für Persönlichkeiten, die durch Leistung und Haltung Vorbild geworden sind“ und ihren „Erfolgswillen mit Prinzipien des Sports in Einklang gebracht haben“.

Von Hanns Braun bis Ingrid Mickler-Becker – Die Leichtathleten in der Hall of Fame des deutschen Sports – Michael Gernandt

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Die Leichtathletik mit ihrem komplexen Angebot von 47 internationalen Disziplinen kann für ihre Protagonisten wie eine Wundertüte sein. Aus der lassen sich sowohl das große Los ziehen als auch Nieten, je nachdem wie Talent und Fügung den Weg geebnet haben.

Nicht jeder Sieger taugt zum Helden, und nicht alle Verlierer fallen der Missachtung anheim. Man wird jetzt wieder verfolgen können, wie bei der Weltmeisterschaft vom 15. August an im Berliner Olympiastadion die Würfel fallen – und irgendwann einmal in noch ferner Zukunft fragen, ob jemand von denen, die im Sommer nullneun aktiv dabei waren, denn würdig wäre, in die Hall of Fame (HoF) des deutschen Sports aufgenommen zu werden.

Es hat sich ja erwiesen, dass die vor dem Einlass in die Hall aufgebauten Hürden nicht eben niedrig sind. Sie soll ja ein Forum sein „für Persönlichkeiten, die durch Leistung und Haltung Vorbild geworden sind“ und ihren „Erfolgswillen mit Prinzipien des Sports in Einklang gebracht haben“.

Immerhin, vier Leichtathleten von nun 44 HoF-Mitgliedern des gesamten Sports haben sie überspringen können: die beiden schon lange nicht mehr lebenden Mittelstreckler Hanns Braun (Jahrgang 1886) und Rudolf Harbig (1913) sowie die herausragenden Vertreter des Nachkriegssports, Sprinter Manfred Germar (1935) und Mehrkämpferin Ingrid Mickler-Becker (1942).

Und in der Kandidatenliste für die zweite Berufungsrunde stehen unter 36 Namen schon wieder 14 aus der Leichtathletik!

Die Leichtathletik dieser Tage tut sich bekanntlich schwer, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken. In Deutschland wird das Problem unter anderem mit einem Mangel an aktuellen Vorbildern und so genannten Typen erklärt. Sollte es so sein, drängt sich die Rückbesinnung auf die vier aus der Hall of Fame geradezu auf.

Das ist zunächst der Münchner Hanns Braun; er war mit seinen drei Olympiamedaillen über 400 m (Silber 1912), 800 m (Bronze 1908) und als Mitglied der damals noch auf dem Programm stehenden Olympischen Staffel (Silber 1908) gleichsam der erste Star der deutschen Leichtathletik. Ein Feingeist – Bildhauer, Kunst- und Architekturstudent – aus dem (heute noch existierenden) Nobelklub MSC im Münchner Norden. Ein Athlet, der mit seinen für die damalige Zeit fantastischen Bestleistungen (400 m 48,3 sek., 800 m 1:53,2 min.) bahnbrechende deutsche Rekorde aufstellte.

Braun liebte indes nicht nur seinen Sport und den Beruf, auch die sich gerade entwickelnde Fliegerei hatte es ihm angetan – und wurde ihm zum Verhängnis. Kurz vor dem Ende des ersten Weltkriegs, dem die Spiele 1916 zum Opfer fielen, welche die dritten für den Läufer aus Bayern gewesen wären, kollidierte Leutnant Brauns Maschine über Cambrai (Frankreich) mit einem Flugzeug des eigenen Kampfgeschwaders. Der Tod ereilte Braun mit 32 Jahren.

Geradezu auffällig: die Parallelen zur Vita des wie Braun die Kombination 400/800 m bevorzugenden Dresdners Rudolf Harbig. Der nach Auffassung von Fachleuten größte deutsche Mittelstreckler aller Zeiten wurde ebenfalls Opfer eines unsinnigen Kriegs, fiel im frühen März 1944 als Oberfeldwebel einer Fallschirmjägerdivision in der Ukraine. Wie Braun 1916 wurde Harbig 1940 die Chance verbaut, Olympiasieger zu werden. Er wäre vermutlich in Tokio nicht zu schlagen gewesen. Und schließlich lassen sich die überlieferten Charaktereigenschaften von Braun – bescheiden, hilfsbereit, heiteren Gemüts, humorvoll, wie ihn Zeitzeugen beschrieben – ohne weiteres auch auf Harbig übertragen.

Als sensationell muss man den Aufstieg des arbeitslosen und deshalb bei der Reichswehr einrückenden Schreinergesellen Harbig bezeichnen. Nur zwei Jahre nach seiner Entdeckung durch Trainer Woldemar Gerschler vom Dresdener SC beim „Tag des unbekannten Sportsmannes“ war der Handballer Harbig bereits Bronzemedaillengewinner in der Leichtathletik, über 4×400 m bei den Spielen 1936 und nach weiteren drei Jahren Weltrekordler über 400 m (46,0) und 800 m (1:46,6). Vor allem die 800-m-Zeit, ein lange nicht wankendes Monument der Weltrekordhistorie, überstieg damals die Vorstellungskraft der Leichtathletikfreunde in einem Maße, das gleichzusetzen ist mit dem Staunen über Bob Beamons 8,90-m-Weitsprung 1968.

Weltrekorde dieser Güteklasse hatten Manfred Germar (immerhin stellte er 1958 die 200-m-Höchstleistung ein) und Ingrid Mickler-Becker (1972 Weltrekord 4×100 m) nicht zu bieten. Aber doch immerhin Olympiasiege (Mickler-Becker im Fünfkampf 1968 und über 4×100 m 1972) und EM-Titel (Germar 200 m, 4×100 m 1958 und 1962, Mickler-Becker Weit, 4×100 m 1971).

Nein, über die sportlichen Meriten hinaus offenbarten beide Qualitäten, die das Profil ihrer Persönlichkeitsstruktur beherrschten: Germar Charisma und Untadeligkeit, Mickler-Becker Klugheit und Eloquenz, beide zusammen Zielstrebigkeit und Erfolg im Beruf. Auch wenn die Verhältnisse weiland ganz anders waren als heute:

Wie der Rheinländer Germar und die Westfälin Mickler-Becker es geschafft haben, Spitzensport, Beruf und Ehrenämter unter einen Hut zu bringen, sollte der heutigen Athletengeneration zum Vorbild gereichen.

Michael Gernandt in der DOSB Presse

author: GRR

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