Das Titelblatt der Zeitschrift „Der Leichtathlet“ (der DDR) - Ausgabe 32/1984 ©Helmut Winter
„Vergessene Rekorde“ – Weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit gab es am 21. Juli 1984 im Berlin-Grünauer Forst einen Marathonlauf der Extraklasse. Helmut Winter berichtet
Fährt man in Berlin durch den Grünauer Forst über das Adlergestell an die südliche Stadtgrenze nach Karolinenhof und Schmöckwitz, liegt auf der linken Seite ein Radweg, auf dem man Läufer, Inlineskater oder Radfahrer beim Training antrifft. Keinem dieser Sportler dürfte dabei aber bekannt sein, auf welcher historischen Strecke sie ihre Freizeitaktivitäten ausüben.
Der schnurgerade knapp 3 km lange Weg ist nämlich Teil eines Rundkurses, auf dem vor fast 30 Jahren, am 21. Juli 1984, ein Marathonlauf stattfand, der in allen Belangen zu den Kuriositäten der Sportschichte zu zählen ist. Und auch von den Leistungen der Aktiven war dieser Lauf von außergewöhnlicher Qualität. Bei Männern und Frauen wurden damals herausragende neue deutsche Rekorde aufgestellt, und bis heute sind auf deutschem Boden heimische Athleten niemals schneller gelaufen.
Bei einem aufmerksamen Studium von Marathon-Bestenlisten findet man ihn immer wieder, diesen Lauf in Grünau. Aber nähere Informationen über diese einmaligen Leistungen am frühen Morgen eines Sommertags sind kaum zu finden, und selbst im Laufsport ausgewiesene Experten mussten zum Thema „Grünau" passen. Eine noch junge Laufveranstaltung im Grünauer Forst an gleicher Stelle war dann aber Motivation genug, den Dingen von damals auf den Grund zu gehen.
Was dabei zunehmend ans Licht der Öffentlichkeit kam, war eine Ansammlung von Ereignissen, Fakten und politischer Einflussnahme, die schon sehr außergewöhnlich waren. Die Umstände dieser Veranstaltung und dessen Ablauf erklären aber auch, warum die Erinnerung an diesen großartigen Lauf in den Bestenlisten verschwand.
Und diese Geschichte begann bereits im Sommer 1980 mit den Olympischen Spielen in Moskau, die von vielen westlichen Staaten boykottiert wurden und wo Waldemar Cierpinski für die DDR seinen Olympiasieg im Marathon von Montreal 1976 wiederholen konnte. Es war bereits im Vorfeld der nächsten Olympischen Spiele in Los Angeles 1984 klar, dass sich die Ostblockstaaten entsprechend revanchieren würden. Die historische Chance eines möglichen dritten Olympiasiegs für den Hallenser wurde somit politisch vereitelt. Schon im Frühjahr 1984 deutete aber die Staatsführung der DDR an, dass es für diesen Schritt eine „Kompensation" geben würde.
Im Rahmen „Olympischer Tage" sollten sich im Sommer 1984 die sozialistischen Staaten zu sportlichen Wettkämpfen in Berlin und Potsdam treffen. Aus dieser Zeit ist vor allem der legendäre Speerwurf von Uwe Hohn im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark in Erinnerung. Am 20. Juli 1984 warf er unvorstellbare 104,80 m weit, was letztlich zu einer Modifikation der Speere führte. Dieser Wurf ist auch heute noch sehr gegenwärtig in der Sportgeschichte.
Was dann am kommenden Tag in Berlin-Grünau geschah war gleichfalls spektakulär, die Geschehnisse dort wurden aber kaum bekannt gemacht und gerieten schnell wieder in Vergessenheit. Dort sollten im Rahmen dieser Wettkämpfe die Läufe der Männer und Frauen über die Marathondistanz stattfinden. Der Kurs am Ufer der Regattastrecke der Olympischen Spiele 1936 und durch den Grünauer Forst lag im Bereich der Trainingsstrecken der Geher und Läufer des TSC Berlin und war für eine solche Laufveranstaltung ideal geeignet.
Das Höhenprofil der Strecke wies Differenzen von nur wenigen Metern auf, das nahe Ufer sorgte in den Morgenstunden für leistungsfördernde Frische und der dichte Waldbestand lieferte Schutz vor Wind. Die Luft war gegenüber Stadtgebieten klar und sauerstoffreich und der Rundkurs von gut 8 km Länge hatte lange gerade Passagen mit insgesamt nur einer schärferen Kurve.
Unter diesen nahezu idealen Randbedingungen gingen die Sportler bereits um 8 Uhr morgens an den Start. Bei bedecktem Himmel betrug die Temperatur zu dieser Stunde für den Monat Juli sehr moderate 15°C. Doch diesen vielversprechenden Voraussetzungen standen Entwicklungen entgegen, die den Erfolg dieses Laufes maßgeblich in Frage stellten. Im Februar 1984 war bei den Olympischen Winterspielen in Sarajevo die DDR mit Abstand beste Nation und ließ dort auch den „großen Bruder" UdSSR hinter sich. Und diese Dominanz wollte man auch bei den Sommerspielen in Los Angeles auf dem Boden des „Klassenfeindes" USA demonstrieren.
Der aus Moskau diktierte Verzicht auf Olympia wurde widerwillig akzeptiert, aber nach dieser Entscheidung im Frühjahr 1984 eine Kompensation in Form von vergleichenden Gegenspielen gesucht. Ein wirklicher Ersatz für Los Angeles war dies kaum, entsprechend groß war die Enttäuschung bei vielen Kaderathleten, die aber mit Versprechungen und auch Zwang zur Teilnahme delegiert wurden.
Noch bevor man im Rahmen dieser Gegenspiele auf die Marathonstrecke in Berlin-Grünau ging, hagelte es Absagen aus den am Olympiaboykott beteiligten sozialistischen Ländern. Am Start fand sich dann eine sehr überschaubare Anzahl von Läuferinnen und Läufern ein. Hier ist vor allem die Absage von Doppel-Olympiasieger Waldemar Cierpinski zu nennen, der im Februar 1984 beim Tokio-Marathon mit 2:12:00 Platz 8 belegte und sich zu dieser Zeit noch Hoffnungen auf einen dritten Olympiasieg machte. Aber vermutlich nicht nur durch den Boykott enttäuscht, sagte Cierpinski seine Teilnahme ab, obwohl Verband und Staatsführung Prämien für diese Veranstaltung in Aussicht stellten, wie es sie auch für einen Olympiasieg gegeben hätte.
Dafür waren am Start Jörg Peter aus Dresden und der mit 22 Jahren für den Marathonlauf unüblich junge Michael Heilmann aus Kleinmachnow, der damals für den TSC Berlin startete. Peter war bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau noch als Bahnläufer über 10000 m dabei und wurde in 28:05,53 Sechster. Im gleichen Jahr schaffte er bei seiner Marathonpremiere in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) beachtliche 2:15:56. Noch beachtlicher waren allerdings seine 2:10:57 beim Tokio Marathon 1984, wo er eine gute Minute vor Cierpinski einlief.
Michael Heilmann lief schon mit 21 Jahren als Fünfter beim Europa-Cup in Laredo 2:12:55, verbesserte sich dann am Jahresende in Fukuoka auf 2:11:49 (Platz 9) und startete ebenfalls beim Tokio-Marathon 1984. Mit 2:11:32 lag er dort zwar knapp hinter Peter, erreichte aber vor Cierpinski (2:12:00) das Ziel. Übrigens wurde bei diesem Lauf der bundesdeutsche Meister Ralf Salzmann in 2:11:21 Vierter. Diese Zeit war bis zum April 1985 (Herle 2:09:23 in London) Rekord für die Bundesrepublik.
Auch auf Grund ihrer Trainingsergebnisse erschienen im Juli 1984 Peter und Heilmann als ernsthafte Konkurrenten für Waldemar Cierpinski, der aber – wie schon angemerkt – auf einen Start verzichtete. In seinem Buch „Meilenweit bis Marathon" beschreibt der Doppel-Olympiasieger aus Halle viele Details aus der Marathonszene, aber zu Grünau finden sich darin keine Informationen. In einem Zeitungsartikel in der „Jungen Welt" von Ende Juli 1984 finden sich Hinweise auf seinen Trainingsausfall in den zurückliegenden Wochen, der seine Absage wesentlich motiviert haben mag. Auch die verpasste Chance noch ein drittes Mal bei Olympia im Marathon zu starten, hatte ihn demotiviert, eine Höchstleistung unter den genannten Bedingungen anzustreben.
Auf Grund des Leistungsniveaus von Peter und Heilmann waren deren Vorgaben von 3:05 pro km sehr realistisch, d.h. man wollte zunächst in Richtung einer Endzeit im Bereich von etwa 2:10:15 anlaufen. Nach Aussage von Michael Heilmann hatte man den deutschen Rekord von 2:09:55, den Waldemar Cierpinski bei seinem ersten Olympiasieg in Montreal 1976 erzielte, nicht im Visier. Dazu ist anzumerken, dass im Sommer 1984 die Weltbestleistung über die Marathondistanz bei 2:08:18 lag. Der Australier Robert de Castella gewann im Dezember 1981 mit dieser Zeit im südjapanischen Fukuoka. Somit lag die damals in Grünau angestrebte Zeit auf sehr hohem Niveau.
Wie wenig den Veranstaltern nach den Entwicklungen im Vorfeld an der Öffentlichkeit lag, kann man an der Zuschauerzahl ersehen, die man mit wenigen Händen abzählen konnte. Man hatte sich offensichtlich keine Mühe gegeben, den Lauf groß anzukündigen. Die wenigen Anwohner in den Orten Grünau und Karolinenhof, die schon zu so früher Stunde aus ihren Häusern kamen, waren jedenfalls sichtlich überrascht. Zu dieser tristen Szenerie gehörten dann auch Fernsehkameras, die für die später am Tag stattfindenden Ruderwettbewerbe an der benachbarten Regattastrecke aufgebaut worden waren, für eine mögliche Übertragung vom Marathon aber ausgeschaltet blieben. Möglichst wenig sollte von dem eher peinlichen Umfeld an die Öffentlichkeit gelangen.
Trotz dieser ungünstigen Vorzeichen legten Peter und Heilmann von Beginn an ein sehr flottes Tempo vor, dem schon nach 2 km keiner der wenigen Mitstreiter folgen konnte. An internationaler Konkurrenz waren nur die zwei Bulgaren Nonew und Letschew am Start, die aber im Ziel über 8 Minuten hinter den beiden Deutschen lagen. Und die Zwei erreichten fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Tempomacher die 5 km Marke unterhalb der geplanten Durchgangszeit von 15:25, liefen auf diesem Niveau weiter und vergrößerten zunehmend den Vorsprung auf die Vorgaben.
Als die beiden bei 35 km mit einer Zeit von knapp über 1 Stunde 47 Minuten schon 45 Sekunden schneller waren als geplant, war mindestens den beiden Läufern an der Spitze klar, was an diesem Tag möglich war. „Das wird unser großes Ding", soll Michael Heilmann seinem Mitstreiter zugerufen haben, und man hielt das Tempo hoch. Doch bevor der Lauf in die entscheidende Phase kam, galt es eine weitere Kuriosität zu überstehen, die in der Normübererfüllung eines Kollektivs zur Straßenreinigung begründet war. Ohne Absprachen mit den Organisatoren war man am Samstagmorgen zu einer Sonderschicht ausgerückt, und die Läufer wurden plötzlich von einer Kehrmaschine mitten auf der Strecke überrascht, der es auszuweichen galt.
Die beiden Läufer an der Spitze zeigten sich davon aber kaum irritiert und ließen sich auf der Rekordjagd nicht mehr aufhalten. Kurz vor der 40 km-Marke konnte sich Jörg Peter auf Grund der größeren Erfahrung und der in seiner Karriere als Bahnläufer erworbenen Tempohärte absetzen. Er erreichte das Ziel nach der kaum für möglich gehaltenen Zeit von 2:09:14. Michael Heilmann lief mit 2:09:30 als Zweiter gleichfalls eine Weltklassezeit.
Die Überraschung dürfte bei allen Beteiligten groß gewesen sein, denn ohne großes Aufsehen hatte Peter dem Doppel-Olympiasieger Cierpinski um 41 Sekunden seinen deutschen Rekord entrissen. Eine Leistung, die zwar eigentlich perfekt zur ursprünglichen Intention der „Gegen-Olympiade" passte – denn selbst der einen Monat später gekürte Olympiasieger, der legendäre Portugiese Carlos Lopez, war in Los Angeles mit 2:09:21 langsamer. Aber der Rekord wurde aus der Sicht der Funktionäre vom „falschen" Athleten erzielt. Wie großartig die Zeit von Jörg Peter seinerzeit war, zeigt der Vergleich mit der damaligen Weltbestmarke von 2:08:18. Ein aktueller Vergleich mit dem Weltrekord von Makau auf der Berliner Strecke durch die Innenstadt aus dem Jahr 2011 (2:03:38) würde eine Zeit von 2:04:32 ergeben.
Dieser Vergleich besagt eigentlich alles. Zwar rangiert heute die Zeit aus dem Grünauer Forst nur noch soeben unter den besten 1000 jemals erzielten Zeiten über die Marathondistanz, aber auch nach der „Invasion" der Ostafrikaner ist der Lauf in Grünau noch heute der schnellste im Monat Juli in der langen Geschichte des Marathons. Im gleichen Monat 1984 war das auch Jahres-Weltbestzeit, die erst im Oktober durch den Weltrekord durch Steve Jones beim Chicago Marathon in 2:08:05 sowie den hochkarätigen Nächstplatzierten Carlos Lopez (2:09:09) und Rob de Castella (2:09:09) noch auf den vierten Platz geschoben wurde.
Auch ein Vergleich mit dem Berlin-Marathon belegt das außergewöhnliche Niveau im Grünauer Forst. Im Westteil der Stadt war man 1981 vom Grunewald in die Innenstadt gezogen und hatte damit die Weichen für eine einmalige Erfolgsgeschichte in der internationalen Marathonszene gestellt.
Weltrekorde, Teilnehmerzahlen von mehreren 10.000 und bis zu 1 Million Zuschauer sagen diesbezüglich alles. Aber zwei Monate nach dem Grünauer Lauf lief Ende September 1984 bei leichtem Nieselregen, aber ansonsten besten Bedingungen der Sieger John Skjovbjerg aus Dänemark neuen Streckenrekord. Da waren aber damals „nur" 2:13:35. Erwähnt wurden die Leistungen in Grünau im Westteil im Programmheft schon deshalb als sie zu dieser Zeit noch an der Spitze eines weltweiten Rankings standen. Weitere Informationen gab es aber auch hier nicht, die Ereignisse im Juli 1984 verschwanden schnell in den Bestenlisten und gerieten dabei zunehmend in Vergessenheit.
Eine weitere der wenigen Quellen mit Informationen zum Grünauer Lauf sind die Buchserie „Marathonlauf" von Karl Lennartz, das wohl vollständigste Kompendium, wenn es um den Marathonlauf auf den Straßen Deutschlands geht, d.h. hier BRD und (!) DDR. Aber auch in diesen großartigen Büchern findet man im Band 2 auf Seite 600 gerade mal zwei Sätze über diese „Ersatzveranstaltung" und ein kleines Foto der beiden Sieger vom Cover des „Leichtathleten" 35 (1984) 1.
Dabei beschränkten sich die herausragenden Leistungen im Grünauer Forst nicht nur auf den Lauf der Männer. Auch bei den Frauen, wo das Teilnehmerfeld noch ausgedünnter war, lief die erste Läuferin einen neuen deutschen Rekord. Katrin Dörre lief ihr Marathondebut zwei Jahre zuvor mit 2:45:54 in Chemnitz und siegte im Januar 1984 in 2:31:41 beim Marathon im japanischen Osaka und war damit am 21.7.1984 die klare Favoritin. Dieser Rolle wurde die Leipzigerin auch gerecht und lief den wenigen Frauen im Feld sofort auf und davon. Nach 2:26:52 war sie im Ziel, deutscher Rekord. Auch hier zeigt der Vergleich mit der damaligen Weltbestleistung von 2:25:28, die die legendäre Norwegerin Grete Waitz ein Jahr zuvor beim London-Marathon aufgestellt hatte, auf welchem hohen Niveau Katrin Dörre an jenem Tag in Berlin-Grünau agierte.
In diesem Lauf war auch eine junge Läuferin vom ASK Potsdam dabei, die im Grünauer Forst mit ihrem ersten Marathon den Startpunkt einer einmaligen internationalen Karriere legte: Siege bei den prestigeträchtigen Marathons in Berlin (1990, 1992, 1995), New York (1993) sowie Boston (1994, 1995, 1996) sind eine in der Tat einmalige Bilanz.
Ihr Name: Uta Pippig. Uta schaffte damals als 18jährige eine Zeit von 2:47:42, wurde damit Fünfte und gewann eine Wette mit ihrem Trainer, in der es um die Unterbietung einer Zeit im „4er-Schnitt" (2:48h) ging. Den Preis gab es dann in Form eines Abendessens in einem Hotel in Potsdam, wo auch der zweite Teil der leichtathletischen Wettkämpfe des Olympischen Tags stattfand und wo die Nachrichten von den Fabelzeiten aus dem Grünauer Forst mit Erstaunen aufgenommen worden sein sollen.
Doch damit war die Geschichte um den schnellsten Marathon den deutsche Läufer jemals auf deutschen Boden bewältigten noch nicht zu Ende.
Durch die großartigen Zeiten lag man international im Olympiajahr 1984 ganz vorne. Eine Tatsache, die offensichtlich sehr unerwartet kam und die Rangordnung der Marathonszene in der DDR auf den Kopf stellte. Dies war schon insofern ein Politikum, als die erfolgreichsten Athleten bei dieser Gegen-Olympiade mit einer lukrativen Schiffsreise von Kuba zurück in die Heimat belohnt werden sollten. Und deshalb kamen zusätzliche Kriterien ins Spiel, die mehr mit vergangenen als aktuellen Leistungen in Bezug standen.
Am Ende dieser Posse im offiziellen Umgang mit den herausragenden Leistungen auf der Strecke durch den Grünauer Forst kam die Behauptung einer zu kurzen Strecke auf, die in der Tat die Topzeiten relativiert hätte. Mit dem Argument des Eingangs der Grünauer Zeiten in die internationalen Bestenlisten wurde die Runde von einem Vermessungsbüro nochmals vermessen und erwies sich als insgesamt 40 Meter zu lang. Damit waren alle Zweifel ausgelöscht.
Aber die Tatsache, dass weder Michael Heilmann noch Katrin Dörre zu der Kreuzfahrt eingeladen wurden, macht deutlich, mit welcher Willkür auch mit Topathleten in dieser Zeit in der DDR umgegangen wurde. Umso höher sind die großartigen Leistungen einzuschätzen. Und dass die Zeiten von Grünau keine Zufallsprodukte waren, bewiesen die Erstplatzierten schon bald danach.
Michael Heilmann schraubte im Jahr danach beim Weltcup im japanischen Hiroshima den deutschen Rekord auf 2:09:03 (das ist noch heute die zweitbeste Zeit eines deutschen Läufers), und im Februar 1988 lief sein Mitstreiter von Grünau, Jörg Peter, beim Tokyo-Marathon mit 2:08:47 den noch heute (!) gültigen deutschen Rekord.
Dieser Zeit ist in den Folgejahren kein deutscher Läufer auch nur in Ansätzen nahegekommen. Sie ist auch deshalb bemerkenswert, als Peter nach dem Fukuoka-Marathon 1987 in 2:11:22 gezwungen wurde, die noch fehlenden 37 Sekunden für die Olympianorm von Seoul 1988 neun Wochen später in Tokyo zu erbringen. Seine Leistung im Jahr 1988 in der japanischen Hauptstadt spricht somit für sich. Beim Olympischen Marathon in Seoul musste er verletzt aufgeben, beim legendären Berlin-Marathon 1990 im Jahr nach dem Fall der Mauer lief er aber als Dritter mit 2:09:23 noch einmal eine Topzeit. Bis heute lief Peter von den schnellsten vier Zeiten deutscher Marathonläufer drei und zusammen mit Heilmann sogar von den ersten sechs fünf Zeiten. Eine großartige Bilanz!
Der erfolgreichste deutsche Marathonläufer aller Zeiten und sein langjähriger Kontrahent, der aber im Sommer 1984 in Grünau zum Wettkampf nicht antrat, Waldemar Cierpinski, hatte bereits fünf Jahre zuvor seine aktive Karriere beendet. Im Oktober 1985 lief er beim Friedensmarathon im tschechischen Košice als Fünfter 2:19:52. Und es ist sicher auch eine gewisse Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Michael Heilmann drei Jahre später diesen Marathon gewann, nachdem er kaum nachvollziehbar bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul für die DDR nicht starten durfte. Am 12. September 1987 gab es in Grünau auf der gleichen Strecke noch einmal einen Marathonlauf, bei dem Michael Heilmann in 2:11:43 ebenfalls siegte.
In der Rückschau stellt der Marathon im Grünauer Forst vom 21.7.1984 ein Stück deutscher Sportgeschichte dar, der sicher zu den kuriosesten Veranstaltungen im Marathonlauf zu zählen ist. Aber vor allem auch die einmaligen Leistungen der beteiligten Athleten machten diesen Tag zu einem Ereignis, das es verdient, nicht in Vergessenheit zu geraten. Übrigens hat der extrem schnelle Kurs die politische Wende unbeschadet überstanden, ist heute in bestem Zustand, und könnte für Wettkämpfe wieder genutzt werden. Vielleicht ist das 30jährige Jubiläum im Juli 2014 eine ausreichende Motivation, auf der Strecke wieder aktiv zu werden.
Der Kurs gehört sicher zu den schnellsten Strecken, die dem Autor bekannt sind. Weltweit!
Der Autor dieses Berichts bedankt sich bei Jörg Peter, Michael und Horst Heilmann, Klaus Goldammer, Thomas Steffens, Horst Milde, Gerd Steins sowie Uta Pippig und Kerstin Hasse.
Helmut Winter
Die besten Zeiten deutscher Marathonläufer
1. |
Jörg Peter |
2:08:47 |
Tokyo |
14.2.1988 |
2. |
Michael Heilmann |
2:09:03 |
Hiroshima |
14.4.1985 |
3. |
Jörg Peter |
2:09:14 |
Grünau |
21.7.1984 |
4. |
Jörg Peter |
2:09:23 |
Berlin |
30.9.1990 |
5. |
Christoph Herle |
2:09:23 |
London |
21.4.1985 |
6. |
Michael Heilmann |
2:09:30 |
Grünau |
21.7.1984 |
7. |
Stephan Freigang |
2:09:45 |
Berlin |
30.9.1990 |
8. |
Waldemar Cierpinski |
2:09:55 |
Montreal |
31.7.1976 |
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Fährt man in Berlin durch den Grünauer Forst über das Adlergestell an die südliche Stadtgrenze nach Karolinenhof und Schmöckwitz, liegt auf der linken Seite ein Radweg, auf dem man Läufer, Inlineskater oder Radfahrer beim Training antrifft. Keinem dieser Sportler dürfte dabei aber bekannt sein, auf welcher historischen Strecke sie ihre Freizeitaktivitäten ausüben.
Der schnurgerade knapp 3 km lange Weg ist nämlich Teil eines Rundkurses, auf dem vor fast 30 Jahren, am 21. Juli 1984, ein Marathonlauf stattfand, der in allen Belangen zu den Kuriositäten der Sportschichte zu zählen ist. Und auch von den Leistungen der Aktiven war dieser Lauf von außergewöhnlicher Qualität. Bei Männern und Frauen wurden damals herausragende neue deutsche Rekorde aufgestellt, und bis heute sind auf deutschem Boden heimische Athleten niemals schneller gelaufen.
Bei einem aufmerksamen Studium von Marathon-Bestenlisten findet man ihn immer wieder, diesen Lauf in Grünau. Aber nähere Informationen über diese einmaligen Leistungen am frühen Morgen eines Sommertags sind kaum zu finden, und selbst im Laufsport ausgewiesene Experten mussten zum Thema „Grünau" passen. Eine noch junge Laufveranstaltung im Grünauer Forst an gleicher Stelle war dann aber Motivation genug, den Dingen von damals auf den Grund zu gehen.
Was dabei zunehmend ans Licht der Öffentlichkeit kam, war eine Ansammlung von Ereignissen, Fakten und politischer Einflussnahme, die schon sehr außergewöhnlich waren. Die Umstände dieser Veranstaltung und dessen Ablauf erklären aber auch, warum die Erinnerung an diesen großartigen Lauf in den Bestenlisten verschwand.
Und diese Geschichte begann bereits im Sommer 1980 mit den Olympischen Spielen in Moskau, die von vielen westlichen Staaten boykottiert wurden und wo Waldemar Cierpinski für die DDR seinen Olympiasieg im Marathon von Montreal 1976 wiederholen konnte. Es war bereits im Vorfeld der nächsten Olympischen Spiele in Los Angeles 1984 klar, dass sich die Ostblockstaaten entsprechend revanchieren würden. Die historische Chance eines möglichen dritten Olympiasiegs für den Hallenser wurde somit politisch vereitelt. Schon im Frühjahr 1984 deutete aber die Staatsführung der DDR an, dass es für diesen Schritt eine „Kompensation" geben würde.
Im Rahmen „Olympischer Tage" sollten sich im Sommer 1984 die sozialistischen Staaten zu sportlichen Wettkämpfen in Berlin und Potsdam treffen. Aus dieser Zeit ist vor allem der legendäre Speerwurf von Uwe Hohn im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark in Erinnerung. Am 20. Juli 1984 warf er unvorstellbare 104,80 m weit, was letztlich zu einer Modifikation der Speere führte. Dieser Wurf ist auch heute noch sehr gegenwärtig in der Sportgeschichte.
Was dann am kommenden Tag in Berlin-Grünau geschah war gleichfalls spektakulär, die Geschehnisse dort wurden aber kaum bekannt gemacht und gerieten schnell wieder in Vergessenheit. Dort sollten im Rahmen dieser Wettkämpfe die Läufe der Männer und Frauen über die Marathondistanz stattfinden. Der Kurs am Ufer der Regattastrecke der Olympischen Spiele 1936 und durch den Grünauer Forst lag im Bereich der Trainingsstrecken der Geher und Läufer des TSC Berlin und war für eine solche Laufveranstaltung ideal geeignet.
Das Höhenprofil der Strecke wies Differenzen von nur wenigen Metern auf, das nahe Ufer sorgte in den Morgenstunden für leistungsfördernde Frische und der dichte Waldbestand lieferte Schutz vor Wind. Die Luft war gegenüber Stadtgebieten klar und sauerstoffreich und der Rundkurs von gut 8 km Länge hatte lange gerade Passagen mit insgesamt nur einer schärferen Kurve.
Unter diesen nahezu idealen Randbedingungen gingen die Sportler bereits um 8 Uhr morgens an den Start. Bei bedecktem Himmel betrug die Temperatur zu dieser Stunde für den Monat Juli sehr moderate 15°C. Doch diesen vielversprechenden Voraussetzungen standen Entwicklungen entgegen, die den Erfolg dieses Laufes maßgeblich in Frage stellten. Im Februar 1984 war bei den Olympischen Winterspielen in Sarajevo die DDR mit Abstand beste Nation und ließ dort auch den „großen Bruder" UdSSR hinter sich. Und diese Dominanz wollte man auch bei den Sommerspielen in Los Angeles auf dem Boden des „Klassenfeindes" USA demonstrieren.
Der aus Moskau diktierte Verzicht auf Olympia wurde widerwillig akzeptiert, aber nach dieser Entscheidung im Frühjahr 1984 eine Kompensation in Form von vergleichenden Gegenspielen gesucht. Ein wirklicher Ersatz für Los Angeles war dies kaum, entsprechend groß war die Enttäuschung bei vielen Kaderathleten, die aber mit Versprechungen und auch Zwang zur Teilnahme delegiert wurden.
Noch bevor man im Rahmen dieser Gegenspiele auf die Marathonstrecke in Berlin-Grünau ging, hagelte es Absagen aus den am Olympiaboykott beteiligten sozialistischen Ländern. Am Start fand sich dann eine sehr überschaubare Anzahl von Läuferinnen und Läufern ein. Hier ist vor allem die Absage von Doppel-Olympiasieger Waldemar Cierpinski zu nennen, der im Februar 1984 beim Tokio-Marathon mit 2:12:00 Platz 8 belegte und sich zu dieser Zeit noch Hoffnungen auf einen dritten Olympiasieg machte. Aber vermutlich nicht nur durch den Boykott enttäuscht, sagte Cierpinski seine Teilnahme ab, obwohl Verband und Staatsführung Prämien für diese Veranstaltung in Aussicht stellten, wie es sie auch für einen Olympiasieg gegeben hätte.
Dafür waren am Start Jörg Peter aus Dresden und der mit 22 Jahren für den Marathonlauf unüblich junge Michael Heilmann aus Kleinmachnow, der damals für den TSC Berlin startete. Peter war bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau noch als Bahnläufer über 10000 m dabei und wurde in 28:05,53 Sechster. Im gleichen Jahr schaffte er bei seiner Marathonpremiere in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) beachtliche 2:15:56. Noch beachtlicher waren allerdings seine 2:10:57 beim Tokio Marathon 1984, wo er eine gute Minute vor Cierpinski einlief.
Michael Heilmann lief schon mit 21 Jahren als Fünfter beim Europa-Cup in Laredo 2:12:55, verbesserte sich dann am Jahresende in Fukuoka auf 2:11:49 (Platz 9) und startete ebenfalls beim Tokio-Marathon 1984. Mit 2:11:32 lag er dort zwar knapp hinter Peter, erreichte aber vor Cierpinski (2:12:00) das Ziel. Übrigens wurde bei diesem Lauf der bundesdeutsche Meister Ralf Salzmann in 2:11:21 Vierter. Diese Zeit war bis zum April 1985 (Herle 2:09:23 in London) Rekord für die Bundesrepublik.
Auch auf Grund ihrer Trainingsergebnisse erschienen im Juli 1984 Peter und Heilmann als ernsthafte Konkurrenten für Waldemar Cierpinski, der aber – wie schon angemerkt – auf einen Start verzichtete. In seinem Buch „Meilenweit bis Marathon" beschreibt der Doppel-Olympiasieger aus Halle viele Details aus der Marathonszene, aber zu Grünau finden sich darin keine Informationen. In einem Zeitungsartikel in der „Jungen Welt" von Ende Juli 1984 finden sich Hinweise auf seinen Trainingsausfall in den zurückliegenden Wochen, der seine Absage wesentlich motiviert haben mag. Auch die verpasste Chance noch ein drittes Mal bei Olympia im Marathon zu starten, hatte ihn demotiviert, eine Höchstleistung unter den genannten Bedingungen anzustreben.
Auf Grund des Leistungsniveaus von Peter und Heilmann waren deren Vorgaben von 3:05 pro km sehr realistisch, d.h. man wollte zunächst in Richtung einer Endzeit im Bereich von etwa 2:10:15 anlaufen. Nach Aussage von Michael Heilmann hatte man den deutschen Rekord von 2:09:55, den Waldemar Cierpinski bei seinem ersten Olympiasieg in Montreal 1976 erzielte, nicht im Visier. Dazu ist anzumerken, dass im Sommer 1984 die Weltbestleistung über die Marathondistanz bei 2:08:18 lag. Der Australier Robert de Castella gewann im Dezember 1981 mit dieser Zeit im südjapanischen Fukuoka. Somit lag die damals in Grünau angestrebte Zeit auf sehr hohem Niveau.
Wie wenig den Veranstaltern nach den Entwicklungen im Vorfeld an der Öffentlichkeit lag, kann man an der Zuschauerzahl ersehen, die man mit wenigen Händen abzählen konnte. Man hatte sich offensichtlich keine Mühe gegeben, den Lauf groß anzukündigen. Die wenigen Anwohner in den Orten Grünau und Karolinenhof, die schon zu so früher Stunde aus ihren Häusern kamen, waren jedenfalls sichtlich überrascht. Zu dieser tristen Szenerie gehörten dann auch Fernsehkameras, die für die später am Tag stattfindenden Ruderwettbewerbe an der benachbarten Regattastrecke aufgebaut worden waren, für eine mögliche Übertragung vom Marathon aber ausgeschaltet blieben. Möglichst wenig sollte von dem eher peinlichen Umfeld an die Öffentlichkeit gelangen.
Trotz dieser ungünstigen Vorzeichen legten Peter und Heilmann von Beginn an ein sehr flottes Tempo vor, dem schon nach 2 km keiner der wenigen Mitstreiter folgen konnte. An internationaler Konkurrenz waren nur die zwei Bulgaren Nonew und Letschew am Start, die aber im Ziel über 8 Minuten hinter den beiden Deutschen lagen. Und die Zwei erreichten fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Tempomacher die 5 km Marke unterhalb der geplanten Durchgangszeit von 15:25, liefen auf diesem Niveau weiter und vergrößerten zunehmend den Vorsprung auf die Vorgaben.
Als die beiden bei 35 km mit einer Zeit von knapp über 1 Stunde 47 Minuten schon 45 Sekunden schneller waren als geplant, war mindestens den beiden Läufern an der Spitze klar, was an diesem Tag möglich war. „Das wird unser großes Ding", soll Michael Heilmann seinem Mitstreiter zugerufen haben, und man hielt das Tempo hoch. Doch bevor der Lauf in die entscheidende Phase kam, galt es eine weitere Kuriosität zu überstehen, die in der Normübererfüllung eines Kollektivs zur Straßenreinigung begründet war. Ohne Absprachen mit den Organisatoren war man am Samstagmorgen zu einer Sonderschicht ausgerückt, und die Läufer wurden plötzlich von einer Kehrmaschine mitten auf der Strecke überrascht, der es auszuweichen galt.
Die beiden Läufer an der Spitze zeigten sich davon aber kaum irritiert und ließen sich auf der Rekordjagd nicht mehr aufhalten. Kurz vor der 40 km-Marke konnte sich Jörg Peter auf Grund der größeren Erfahrung und der in seiner Karriere als Bahnläufer erworbenen Tempohärte absetzen. Er erreichte das Ziel nach der kaum für möglich gehaltenen Zeit von 2:09:14. Michael Heilmann lief mit 2:09:30 als Zweiter gleichfalls eine Weltklassezeit.
Die Überraschung dürfte bei allen Beteiligten groß gewesen sein, denn ohne großes Aufsehen hatte Peter dem Doppel-Olympiasieger Cierpinski um 41 Sekunden seinen deutschen Rekord entrissen. Eine Leistung, die zwar eigentlich perfekt zur ursprünglichen Intention der „Gegen-Olympiade" passte – denn selbst der einen Monat später gekürte Olympiasieger, der legendäre Portugiese Carlos Lopez, war in Los Angeles mit 2:09:21 langsamer. Aber der Rekord wurde aus der Sicht der Funktionäre vom „falschen" Athleten erzielt. Wie großartig die Zeit von Jörg Peter seinerzeit war, zeigt der Vergleich mit der damaligen Weltbestmarke von 2:08:18. Ein aktueller Vergleich mit dem Weltrekord von Makau auf der Berliner Strecke durch die Innenstadt aus dem Jahr 2011 (2:03:38) würde eine Zeit von 2:04:32 ergeben.
Dieser Vergleich besagt eigentlich alles. Zwar rangiert heute die Zeit aus dem Grünauer Forst nur noch soeben unter den besten 1000 jemals erzielten Zeiten über die Marathondistanz, aber auch nach der „Invasion" der Ostafrikaner ist der Lauf in Grünau noch heute der schnellste im Monat Juli in der langen Geschichte des Marathons. Im gleichen Monat 1984 war das auch Jahres-Weltbestzeit, die erst im Oktober durch den Weltrekord durch Steve Jones beim Chicago Marathon in 2:08:05 sowie den hochkarätigen Nächstplatzierten Carlos Lopez (2:09:09) und Rob de Castella (2:09:09) noch auf den vierten Platz geschoben wurde.
Auch ein Vergleich mit dem Berlin-Marathon belegt das außergewöhnliche Niveau im Grünauer Forst. Im Westteil der Stadt war man 1981 vom Grunewald in die Innenstadt gezogen und hatte damit die Weichen für eine einmalige Erfolgsgeschichte in der internationalen Marathonszene gestellt.
Weltrekorde, Teilnehmerzahlen von mehreren 10.000 und bis zu 1 Million Zuschauer sagen diesbezüglich alles. Aber zwei Monate nach dem Grünauer Lauf lief Ende September 1984 bei leichtem Nieselregen, aber ansonsten besten Bedingungen der Sieger John Skjovbjerg aus Dänemark neuen Streckenrekord. Da waren aber damals „nur" 2:13:35. Erwähnt wurden die Leistungen in Grünau im Westteil im Programmheft schon deshalb als sie zu dieser Zeit noch an der Spitze eines weltweiten Rankings standen. Weitere Informationen gab es aber auch hier nicht, die Ereignisse im Juli 1984 verschwanden schnell in den Bestenlisten und gerieten dabei zunehmend in Vergessenheit.
Eine weitere der wenigen Quellen mit Informationen zum Grünauer Lauf sind die Buchserie „Marathonlauf" von Karl Lennartz, das wohl vollständigste Kompendium, wenn es um den Marathonlauf auf den Straßen Deutschlands geht, d.h. hier BRD und (!) DDR. Aber auch in diesen großartigen Büchern findet man im Band 2 auf Seite 600 gerade mal zwei Sätze über diese „Ersatzveranstaltung" und ein kleines Foto der beiden Sieger vom Cover des „Leichtathleten" 35 (1984) 1.
Dabei beschränkten sich die herausragenden Leistungen im Grünauer Forst nicht nur auf den Lauf der Männer. Auch bei den Frauen, wo das Teilnehmerfeld noch ausgedünnter war, lief die erste Läuferin einen neuen deutschen Rekord. Katrin Dörre lief ihr Marathondebut zwei Jahre zuvor mit 2:45:54 in Chemnitz und siegte im Januar 1984 in 2:31:41 beim Marathon im japanischen Osaka und war damit am 21.7.1984 die klare Favoritin. Dieser Rolle wurde die Leipzigerin auch gerecht und lief den wenigen Frauen im Feld sofort auf und davon. Nach 2:26:52 war sie im Ziel, deutscher Rekord. Auch hier zeigt der Vergleich mit der damaligen Weltbestleistung von 2:25:28, die die legendäre Norwegerin Grete Waitz ein Jahr zuvor beim London-Marathon aufgestellt hatte, auf welchem hohen Niveau Katrin Dörre an jenem Tag in Berlin-Grünau agierte.
In diesem Lauf war auch eine junge Läuferin vom ASK Potsdam dabei, die im Grünauer Forst mit ihrem ersten Marathon den Startpunkt einer einmaligen internationalen Karriere legte: Siege bei den prestigeträchtigen Marathons in Berlin (1990, 1992, 1995), New York (1993) sowie Boston (1994, 1995, 1996) sind eine in der Tat einmalige Bilanz.
Ihr Name: Uta Pippig. Uta schaffte damals als 18jährige eine Zeit von 2:47:42, wurde damit Fünfte und gewann eine Wette mit ihrem Trainer, in der es um die Unterbietung einer Zeit im „4er-Schnitt" (2:48h) ging. Den Preis gab es dann in Form eines Abendessens in einem Hotel in Potsdam, wo auch der zweite Teil der leichtathletischen Wettkämpfe des Olympischen Tags stattfand und wo die Nachrichten von den Fabelzeiten aus dem Grünauer Forst mit Erstaunen aufgenommen worden sein sollen.
Doch damit war die Geschichte um den schnellsten Marathon den deutsche Läufer jemals auf deutschen Boden bewältigten noch nicht zu Ende.
Durch die großartigen Zeiten lag man international im Olympiajahr 1984 ganz vorne. Eine Tatsache, die offensichtlich sehr unerwartet kam und die Rangordnung der Marathonszene in der DDR auf den Kopf stellte. Dies war schon insofern ein Politikum, als die erfolgreichsten Athleten bei dieser Gegen-Olympiade mit einer lukrativen Schiffsreise von Kuba zurück in die Heimat belohnt werden sollten. Und deshalb kamen zusätzliche Kriterien ins Spiel, die mehr mit vergangenen als aktuellen Leistungen in Bezug standen.
Am Ende dieser Posse im offiziellen Umgang mit den herausragenden Leistungen auf der Strecke durch den Grünauer Forst kam die Behauptung einer zu kurzen Strecke auf, die in der Tat die Topzeiten relativiert hätte. Mit dem Argument des Eingangs der Grünauer Zeiten in die internationalen Bestenlisten wurde die Runde von einem Vermessungsbüro nochmals vermessen und erwies sich als insgesamt 40 Meter zu lang. Damit waren alle Zweifel ausgelöscht.
Aber die Tatsache, dass weder Michael Heilmann noch Katrin Dörre zu der Kreuzfahrt eingeladen wurden, macht deutlich, mit welcher Willkür auch mit Topathleten in dieser Zeit in der DDR umgegangen wurde. Umso höher sind die großartigen Leistungen einzuschätzen. Und dass die Zeiten von Grünau keine Zufallsprodukte waren, bewiesen die Erstplatzierten schon bald danach.
Michael Heilmann schraubte im Jahr danach beim Weltcup im japanischen Hiroshima den deutschen Rekord auf 2:09:03 (das ist noch heute die zweitbeste Zeit eines deutschen Läufers), und im Februar 1988 lief sein Mitstreiter von Grünau, Jörg Peter, beim Tokyo-Marathon mit 2:08:47 den noch heute (!) gültigen deutschen Rekord.
Dieser Zeit ist in den Folgejahren kein deutscher Läufer auch nur in Ansätzen nahegekommen. Sie ist auch deshalb bemerkenswert, als Peter nach dem Fukuoka-Marathon 1987 in 2:11:22 gezwungen wurde, die noch fehlenden 37 Sekunden für die Olympianorm von Seoul 1988 neun Wochen später in Tokyo zu erbringen. Seine Leistung im Jahr 1988 in der japanischen Hauptstadt spricht somit für sich. Beim Olympischen Marathon in Seoul musste er verletzt aufgeben, beim legendären Berlin-Marathon 1990 im Jahr nach dem Fall der Mauer lief er aber als Dritter mit 2:09:23 noch einmal eine Topzeit. Bis heute lief Peter von den schnellsten vier Zeiten deutscher Marathonläufer drei und zusammen mit Heilmann sogar von den ersten sechs fünf Zeiten. Eine großartige Bilanz!
Der erfolgreichste deutsche Marathonläufer aller Zeiten und sein langjähriger Kontrahent, der aber im Sommer 1984 in Grünau zum Wettkampf nicht antrat, Waldemar Cierpinski, hatte bereits fünf Jahre zuvor seine aktive Karriere beendet. Im Oktober 1985 lief er beim Friedensmarathon im tschechischen Košice als Fünfter 2:19:52. Und es ist sicher auch eine gewisse Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Michael Heilmann drei Jahre später diesen Marathon gewann, nachdem er kaum nachvollziehbar bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul für die DDR nicht starten durfte. Am 12. September 1987 gab es in Grünau auf der gleichen Strecke noch einmal einen Marathonlauf, bei dem Michael Heilmann in 2:11:43 ebenfalls siegte.
In der Rückschau stellt der Marathon im Grünauer Forst vom 21.7.1984 ein Stück deutscher Sportgeschichte dar, der sicher zu den kuriosesten Veranstaltungen im Marathonlauf zu zählen ist. Aber vor allem auch die einmaligen Leistungen der beteiligten Athleten machten diesen Tag zu einem Ereignis, das es verdient, nicht in Vergessenheit zu geraten. Übrigens hat der extrem schnelle Kurs die politische Wende unbeschadet überstanden, ist heute in bestem Zustand, und könnte für Wettkämpfe wieder genutzt werden. Vielleicht ist das 30jährige Jubiläum im Juli 2014 eine ausreichende Motivation, auf der Strecke wieder aktiv zu werden.
Der Kurs gehört sicher zu den schnellsten Strecken, die dem Autor bekannt sind. Weltweit!
Der Autor dieses Berichts bedankt sich bei Jörg Peter, Michael und Horst Heilmann, Klaus Goldammer, Thomas Steffens, Horst Milde, Gerd Steins sowie Uta Pippig und Kerstin Hasse.
Helmut Winter
Die besten Zeiten deutscher Marathonläufer
1. |
Jörg Peter |
2:08:47 |
Tokyo |
14.2.1988 |
2. |
Michael Heilmann |
2:09:03 |
Hiroshima |
14.4.1985 |
3. |
Jörg Peter |
2:09:14 |
Grünau |
21.7.1984 |
4. |
Jörg Peter |
2:09:23 |
Berlin |
30.9.1990 |
5. |
Christoph Herle |
2:09:23 |
London |
21.4.1985 |
6. |
Michael Heilmann |
2:09:30 |
Grünau |
21.7.1984 |
7. |
Stephan Freigang |
2:09:45 |
Berlin |
30.9.1990 |
8. |
Waldemar Cierpinski |
2:09:55 |
Montreal |
31.7.1976 |