Für Verena Sailer hat sich mit dem Europameistertitel einiges geändert. Die blonde Sprinterin kann ihr Gold offenbar versilbern. An diesem Donnerstag misst sie sich beim Diamond-League-Sportfest in Zürich mit der Weltspitze.
Verena Sailer Mehr als nur hundert Meter laufen – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Der Sprint ist die Königsdisziplin der Leichtathletik. Verena Sailer, die Europameisterin über hundert Meter, wollte diese Überzeugung vor vier Wochen noch nicht teilen. Man müsse alle Disziplinen mit dem gleichen Respekt betrachten, sagte sie im Trainingslager Kienbaum; sie wolle keine zurücksetzen. Eine Woche später gewann sie in Barcelona die Goldmedaille im Sprint. Seitdem hat sich einiges verändert. „Man merkt schon, dass die hundert Meter die hundert Meter sind“, sagt sie nun.
Die Resonanz des ersten Europameisterschaftssieges einer deutschen Sprinterin seit zwanzig Jahren, seit Katrin Krabbe in Split 1990, ist enorm. Die Einladung ins Sportstudio des ZDF hat Verena Sailer als bisherigen Höhepunkt in Erinnerung, an Interviews und Vertragsverhandlungen wird sie sich gewöhnen müssen.
Denn anders als der Erfolg von Diskuswerfer Robert Harting, der vor einem Jahr in Berlin immerhin Weltmeister wurde, wird sich die Goldmedaille der jungen Studentin versilbern lassen. Gerade ist sie dabei, sich für einen Manager für ihre Vermarktung zu entscheiden.
Schon 2009 war sie die schnellste Europäerin gewesen
Dessen Arbeit wird aufmerksam verfolgt werden. Denn in den Berichten über die neue Europameisterin von Barcelona, vor 24 Jahren im Allgäu geboren und seit zwei Jahren für MTG Mannheim am Start, klang stets unverhohlen die Frage an, ob die Athletin überhaupt vermarktbar sei im Glamourgeschäft Sport.
Immerhin war Verena Sailer schon 2007 Junioren-Europameisterin im Sprint geworden, hatte bei den Hallen-Europameisterschaften von Turin 2009 die Bronzemedaille (in 7,17 Sekunden) gewonnen und bei den Weltmeisterschaften von Berlin als Schlussläuferin die Bronzemedaille der Staffel mit einem Sturz buchstäblich bis aufs Blut verteidigt – ohne, dass sie durch all diese Erfolge eine öffentliche Person geworden wäre.
Weltklasseergebnisse sind in ihrer Reichweite
Und als sie dann im Halbfinale der EM bei zu starkem Rückenwind in 11,06 Sekunden und im Finale ganz regulär in der persönlichen Bestzeit von 11,10 Sekunden gesiegt hatte und zeigte, dass auch Weltklasseergebnisse in ihrer Reichweite sind, porträtierte die Website leichtathletik.de sie als „eine eher ruhige und unscheinbare Person, die Jubel, Trubel, Heiterkeit gar nicht mag“. Sie schien das zu bestätigen, als sie Journalisten am Tag darauf mit auf den Weg gab, über ihre Liaison mit dem Stabhochspringer Tobias Scherbarth wolle sie nichts lesen.
„Es geht nur ums Laufen“, sagt sie auch jetzt. „Dafür stehe ich in der Zeitung.“ Doch selbstverständlich spürt sie, dass sie viel gefragter ist als früher. Es sei „voll viel los“, sagt sie, „ich verbringe viel mehr Zeit am Telefon.“ Bald wird sie wohl, was sie bislang für unnötig hielt, auch eine eigene Website starten.
Barcelona soll noch nicht das Rennen ihres Lebens gewesen sein
Vor allem aber rennt sie. An diesem Donnerstag startet Verena Sailer beim Diamond-League-Sportfest in Zürich, am Sonntag beim Istaf in Berlin. Im September stehen, bevor es in den Urlaub geht, der Continental Cup in Split und der Länderkampf DecaNation in Annecy auf dem Programm. „Die Luft ist nicht raus“, sagt sie. Doch der Vergleich mit der Weltklasse, wie sie ihn in der vergangenen Woche in London erlebte, ist nicht leicht. In Crystal Palace schied sie im Vorlauf aus. Dies sei der erste Lauf seit Barcelona gewesen, sagt sie; 11,28 Sekunden, ihr Ergebnis, „damit muss man sich nicht verstecken.“ Im vergangenen Jahr war sie langsamer, erreichte aber den Endlauf. Für Verena Sailer, das ist sicher, ist die Zeit wichtiger als der äußere Anschein.
So war es auch mit Platz elf der Weltmeisterschaft. Zwar schied sie im Halbfinale aus. Doch sie nahm aus Berlin die Gewissheit mit, dass sie die schnellste der europäischen Sprinterinnen ist. Für Verena Sailer war – obwohl sie das wohlweislich niemandem verriet – die EM-Favoritin Verena Sailer. Das Rennen ihres Lebens soll das Finale von Barcelona nicht gewesen sein.
„Es geht ja weiter“, sagt die Sprinterin fröhlich. „Ich plane nicht, meine Karriere im nächsten Jahr zu beenden. Es soll schon noch was kommen.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Donnerstag, dem 19. August 2010
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