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2024

Symbolfoto: Die Olympischen Ringe - Foto: Horst Mlde

Verbieten oder nicht verbieten – eine Diskussion über die Rolle des Sports für die soziale Nachhaltigkeit – von Peter Mattsson – Sport-nachgedacht.de – Prof. Dr. Helmut Digel

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In den letzten Jahren hat der Sport seine Rolle bei der nachhaltigen Entwicklung erkannt. So gibt es seit 1994 für die Bewerberstädte für die Olympischen Winter- und Sommerspiele nicht nur verbindliche Umweltpläne. Ihre Kandidatur wurde zum Teil auch anhand dieser Umweltpläne bewertet (Book, 2013).

Dem Sport wird von Institutionen außerhalb des Sports zuerkannt, dass er eine wichtige Rolle bei der nachhaltigen Entwicklung spielt. Die Vereinten Nationen (UN) haben die Auffassung unterstützt, dass Sport Menschen im Streben nach gemeinsamen Zielen und Interessen zusammenbringt und dass Sport Werte wie Respekt, Toleranz und Fairplay vermittelt und soziale Kompetenzen entwickelt.

All diese Beiträge, so die Vereinten Nationen, bedeuten, dass der Sport einen positiven Einfluss auf den Frieden haben kann. In den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung (Vereinte Nationen, 2015) kann dieser Beitrag unter anderem mit Ziel Nummer 16 verknüpft werden, das die Notwendigkeit von Frieden, Gerechtigkeit und starken Institutionen zum Ausdruck bringt. Von den drei Säulen, die Nachhaltigkeit ausmachen -soziale, wirtschaftliche und ökologische Nachhaltigkeit – kann davon ausgegangen werden, dass der Beitrag des Sports vor allem im Bereich der sozialen Nachhaltigkeit liegt. Diese ist definiert als die Identifizierung und Bewältigung der positiven und negativen Auswirkungen, die eine Aktivität auf Menschen hat (Vereinte Nationen, 2022).

Die Olympische Charta und soziale Nachhaltigkeit

Die Olympische Charta (Internationales Olympisches Komitee, 2021) wird von der Mitgliederversammlung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) verabschiedet. Die Mitglieder des IOC sind natürliche Personen und nicht die Delegierten ihres Landes innerhalb des IOC. Stattdessen ist es ihre Aufgabe, das IOC in ihren jeweiligen Ländern zu vertreten. Derzeit gibt es neunundneunzig Mitglieder im IOC (Internationales Olympisches Komitee, 2023). Neue Mitglieder können durch Mehrheitsbeschluss der Mitgliederversammlung der bestehenden Mitglieder gewählt werden, wie in der Olympischen Charta (Internationales Olympisches Komitee, 2021) festgelegt.

Die Olympische Charta (Internationales Olympisches Komitee, 2021) stellt die Grundprinzipien des Olympismus in kritischen Perspektiven auf die Umwelt dar.

Diese Prinzipien besagen beispielsweise, dass das Ziel des Olympismus darin besteht, den Sport in den Dienst der harmonischen Entwicklung der Menschheit zu stellen und dadurch eine friedliche Gesellschaft zu fördern, die sich um die Wahrung der Menschenwürde kümmert. Die fünf ineinander verschlungenen olympischen Ringe repräsentieren die Vereinigung von fünf Kontinenten und Athleten aus der ganzen Welt, die sich bei den Olympischen Spielen treffen. Darüber hinaus besagen die Grundprinzipien des Olympismus, dass die Ausübung von Sport ein Menschenrecht ist und dass jeder Mensch die Möglichkeit haben muss, dies ohne jegliche Diskriminierung zu tun.

Der olympische Geist erfordert gegenseitiges Verständnis mit Freundschaft, Solidarität und Fairplay. Organisationen innerhalb der Olympischen Bewegung müssen politische Neutralität wahren, und die Zugehörigkeit zur Olympischen Bewegung erfordert die Einhaltung der Olympischen Charta und die Anerkennung durch das IOC. Die drei Hauptbestandteile der Olympischen Bewegung sind das Internationale Olympische Komitee, die Internationalen Sportverbände und die Nationalen Olympischen Komitees (NOK).

Vor dem Hintergrund, dass der Sport zu Frieden und sozialer Nachhaltigkeit beitragen kann, und vor dem Hintergrund der Grundprinzipien des Olympismus,stellt sich die Frage wie man das Vorgehen des IOC und den aktuellen Standpunkt der Organisation in Bezug auf russische und belarussische Athleten bei den Olympischen Spielen zu verstehen hat?

Anhand einer begrenzten Literaturrecherche, die auf zwei ausgewählten Artikeln basiert, wird im Folgenden das bisherige Vorgehen des IOC im Umgang mit Konflikten auf der ganzen Welt untersucht. Einige der Unterfragen, die angesprochen werden, sind: Gibt es andere Situationen, die das IOC in der Vergangenheit dazu veranlasst haben, Athleten auszuschließen? Wenn sich Länder in der Vergangenheit im Krieg befanden, durften dann Athleten aus diesen Ländern an den Olympischen Spielen teilnehmen? Wenn nein, was war der Grund für eine solche Entscheidung? Was waren einige der Gründe für einzelne Länder, die Olympischen Spiele zu boykottieren?

Basierend auf der Literaturrecherche werden die im März 2023 veröffentlichten Empfehlungen für internationale Verbände und internationale Sportveranstalter zur Teilnahme von Athletinnen und Athleten mit russischem oder belarussischem Pass an internationalen Wettkämpfen (Internationales Olympisches Komitee, 2023) analysiert und die Rolle des Sports als Vermittler für soziale Nachhaltigkeit in der Zukunft diskutiert.

Die Olympischen Spiele, Konflikte und zahlreiche Formen des Protests stehen schon lange auf der Tagesordnung, auch weil nur wenige andere Aktivitäten eine solche weltweite Anerkennung und Anziehungskraft haben wie die Olympischen Spiele. Es gibt Beispiele für olympische Verbote in der Vergangenheit, und einige ihrer Auswirkungen wurden von Rosner und Low (2009) untersucht. Apartheid, Rassismus, Weltkriege, Kolonialismus und eine Reihe anderer Themen haben im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen Aufmerksamkeit erregt, und es ist sehr wahrscheinlich, dass die Olympischen Spiele ein effektiver Ort für politische Aktivitäten sind, da sie die größte, regelmäßig stattfindende Zusammenkunft der Weltbürger sind und die Ereignisse einen erheblichen Einfluss auf die Menschen haben, insbesondere die Erfolge bei den Veranstaltungen (Rosner & Low,  2009).

Da sich die aktuelle Diskussion in der Welt des Sports darauf bezieht, ob Russland und Belarus und die Athleten aus diesen Ländern an den Olympischen Spielen (d.h. Paris 2024) teilnehmen dürfen, ist es auch relevant, zwischen Boykott und Verbot zu unterscheiden. Boykotte wurden im Laufe der Jahre bei zahlreichen Gelegenheiten durchgeführt, wobei die berühmtesten die Olympischen Spiele 1980 in Moskau waren, die von den Vereinigten Staaten, Westdeutschland und vielen ihrer Verbündeten (einschließlich Norwegen) sowie vielen afrikanischen Ländern boykottiert wurden. 1984 wurde dieser Boykott von der Sowjetunion, der DDR und einer Reihe ihrer Freunde erwidert. Sowohl der Boykott von 1980 als auch der von 1984 hatten ihren Ursprung im andauernden Kalten Krieg, auch wenn der Boykott der afrikanischen Länder seine Geschichte in Rassismus und Apartheid hatte (Rosner & Low, 2009).

Verbote, bei denen das IOC ein Land daran hindert, an den Olympischen Spielen teilzunehmen, sind viel seltener. Ein Beispiel ist Südafrika, das für einen guten Teil der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den Olympischen Spielen ferngehalten wurde. Das Apartheid-System bot unter anderem nicht die gleichen Chancen für nicht-weiße Athleten, in olympischen Teams anzutreten, oder für nicht-weiße Menschen, als Mitarbeiter angestellt zu werden.

Ein weiteres Verbot wurde gegen Afghanistan verhängt, nachdem die Taliban das Regime im Land übernommen hatten. In der Folge übernahmen die Taliban auch die Kontrolle über das Nationale Olympische Komitee, indem sie einen hochrangigen Taliban-Funktionär zum Vorsitzenden des Komitees ernannten. Auf diese Weise haben die Taliban nach und nach die Scharia-Gesetze für den Sport durchgesetzt, die nicht mit der Olympischen Charta vereinbar sind (Rosner & Low, 2009).

Ein drittes und letztes Beispiel für ein vom IOC verhängtes Verbot ist der Irak. Dieses Verbot folgte auf die Misshandlung und Folter irakischer Athleten durch Saddam Husseins Sohn, den damaligen Chef des Olympischen Komitees des Irak, und die anschließende politische Einmischung in die internen Angelegenheiten des Komitees.

Rosner und Low (2009) kommen in ihrem Artikel zu dem Schluss, dass internationale Streitigkeiten, die nicht mit Sport zu tun haben, die Politik der Olympischen Spiele nur selten beeinflussen. Stattdessen zielen alle Maßnahmen des IOC darauf ab, den Sport so zu verändern, dass er den Anforderungen der Olympischen Charta entspricht. Ein solcher Wandel scheint jedoch nur als Folge eines Sturzes des politischen Regimes zu erfolgen, der dann zu einem Wandel im Sport führt. Die Autoren weisen auch darauf hin, dass ein Schlüsselfaktor, der das Interesse des IOC an der Verhängung eines Verbots beeinflusst, darin zu bestehen scheint, ob es ein IOC-Mitglied gibt, das eine starke Präferenz in dieser Angelegenheit hat.

Es gibt andere sportpolitische Möglichkeiten als zu boykottieren oder zu verbieten, wie Cottrell und Nelson (2011) aufgezeigt haben. Die Tatsache, dass mehr Staaten an den Olympischen Spielen teilnehmen als die Anzahl der Staaten, die der UNO angehören, könnte eine wichtige Erklärung dafür sein, warum es laut Cottrell und Nelson (2011) so aussieht, als ob sich der Trend von Boykotten oder Verboten hin zu Demonstrationen vor Ort bewegt, bei denen ein breites Spektrum themenzentrierter, transnationaler Protestbewegungen eine Chance sieht, ein Stück vom Rampenlicht rund um die Olympischen Spiele zu bekommen. Rosner und Low (2009) zeigten, dass das IOC mehr Erfolg bei der Veränderung der Sportpolitik zu haben scheint, indem sie mit den NOK:s zusammenzuarbeiten, anstatt sie außen vor zu lassen, was auch Raum für Länder lassen könnte, die Gegenstand von Protesten bei den Veranstaltungen sein könnten. Laut Cottrell und Nelson (2011) gibt es jedoch nur sehr wenig Forschung über die Wirksamkeit olympischer Proteste und über den politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss des IOC.

Analyse und Diskussion

In seiner Stellungnahme zur Teilnahme russischer und belarussischer Athleten an internationalen Wettkämpfen (Internationales Olympisches Komitee, 2023) betont das IOC, dass die Olympischen Spiele keine Möglichkeit haben, Kriege und Konflikte zu stoppen. Stattdessen ist es die Aufgabe der Olympischen Spiele, Brücken zu bauen und ein besseres Verständnis unter und zwischen den Menschen zu schaffen. Das IOC bekräftigt auch seine Solidarität mit der Ukraine und erkennt die erhebliche finanzielle Unterstützung für das NOK der Ukraine an. Darüber hinaus bekräftigt das IOC, dass Russland gegen den Olympischen Waffenstillstand und die Olympische Charta verstoßen hat und daher bereits Sanktionen gegen die Regierungen und Staaten Russlands und Weißrusslands verhängt hat.

Im Anschluss daran verweist das IOC weiterhin auf die anderen siebzig andauernden bewaffneten Konflikte auf der ganzen Welt, bei denen keines der NOKs in den betroffenen Ländern den Ausschluss von Athleten von der anderen Konfliktpartei fordert. Das IOC weist auch darauf hin, dass der Ausschluss von Athleten diskriminierend und damit eine Verletzung der Menschenrechte wäre. Abschließend empfiehlt das IOC internationalen Verbänden und Veranstaltern von Großveranstaltungen, stellt aber auch fest, dass noch keine Entscheidung über Paris 2024 getroffen wurde, dass einzelne Athleten, die den Krieg nicht aktiv unterstützen und nicht an den russischen oder belarussischen Staat gebunden sind, antreten können, aber nur als einzelne neutrale Athleten.

Durch die Linse der vorgestellten Literaturrecherche überrascht diese Position des IOC nicht. Sie folgt der Logik sowohl der Olympischen Charta als auch der Wirksamkeit früherer Verbote und Boykotte. Sollte sich das IOC dazu entschließen, dieser Linie auch für Paris 2024 zu folgen, dürfte dies jedoch für Aufsehen sorgen. Mögliche Aktionen sind Demonstrationen vor Ort und Boykotte. Die interessante Abweichung zu früheren Boykottaktionen ist allerdings darin zu sehen, dass diesmal ein Boykott keine Demonstration gegen ein ausrichtendes Land, sondern gegen das IOC wäre. Bedeutet das auch, dass es nicht nur außerhalb der Arenen zu Protesten von Aktivist*innen kommen wird, die das Rampenlicht der Olympischen Spiele nutzen, um ihre Argumente zu vertreten?

Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die Athleten Gehör verschaffen und ihre Gedanken sowohl in den Medien als auch bei verschiedenen Arten von Demonstrationen in der Sportarena mitteilen werden. Da dies gegen die Olympische Charta verstößt und möglicherweise zur Disqualifikation von Athleten führen würde, könnte dies eine Situation eröffnen, die das IOC sicherlich nicht möchte. Und wie sieht es mit der Macht der sozialen Medien aus, wenn Sportler und große Influencer der digitalen Welt anfangen, etwas Lärm zu machen? Wie sieht es mit dem Veranstalter in Paris aus? Sollen die Franzosen einfach akzeptieren, dass russische und belarussische Sportler an Paris 2024 teilnehmen sollen? Sehr wahrscheinlich werden sie das nicht tun.

Ein weiterer erschwerender Faktor für das IOC sind die unterschiedlichen Ansichten, die es in dieser Angelegenheit auf der ganzen Welt gibt. Europa steht geschlossen hinter der Ansicht, dass Russland und Belarus einfach verboten werden sollten. Das IOC behauptet, dass diese Ansicht nicht in allen Teilen der Welt geteilt wird. Das vielleicht größte Problem in Bezug auf das IOC ist daher, was der Organisation am wenigsten schaden könnte. Gefangen in einer Zwickmühle, könnte das IOC entscheiden, welche von mindestens zwei mehr oder weniger katastrophalen Optionen die am wenigsten schlechte ist.

Wie auch immer die Entscheidungen bis zum Sommer 2024 getroffen werden, die Position des IOC wird als positive Kraft in Sachen sozialer Nachhaltigkeit  die kommenden Jahre beeinflussen.

Referenzen:

Letzte Bearbeitung: 6.2.2024

Zum Autor:

Peter Mattson war viele Jahre Sportdirektor des Schwedischen Olympischen Sportbundes. Seit 2023 hat er die leitende Verantwortung als „Performance Director“ am Red Bull „Athletic Performance Center“ (APC) in Thalgau/Österreich übernommen.

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Prof. Dr. Helmut Digel
Eberhard Karls Universität Tübingen
Institut für Sportwissenschaft
Wilhelmstr. 124 – 72074 Tübingen – Germany
Mobil: +49 162 2903512
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author: GRR