Usain Bolt - Auf dem Highway war die Hölle los - Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ©C. Bertelsmann
Usain Bolt – Auf dem Highway war die Hölle los – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Warum Usain Bolt so schnell ist? Dank himmlischer Gnade. Der Mann, der auf der Überholspur durch die Welt rast, flog von der Straße und realisierte, dass es Gott ist, der ihn zum Sprint-Olympiasieger gemacht hat und noch viel, viel mehr mit ihm vorhat. Als Kind habe er es selbstverständlich gefunden, dass er größer, stärker und vor allem schneller war als andere, erzählt Bolt.
Erst als er seinen deutschen Sportwagen auf einer jamaikanischen Schnellstraße aufs Dach wirft, erschließt sich ihm die göttliche Vorsehung. Er besorgt sich eine Bibel, bittet seine Tante Rose, ihm täglich per SMS einen Bibelvers zu schicken und lässt im Plauderton seiner inzwischen zweiten Autobiografie nun uns Ahnungslose und Zweifler wissen, dass er unterwegs ist im Auftrag des Herrn.
Das klingt nach Blues Brothers, doch Bolt meint das nicht ironisch. Sein Erweckungserlebnis breitet er jedenfalls auf den ersten sechs Seiten des Buches aus und lässt es nicht dabei bewenden; ausführlich kommt er später darauf zurück.
Der Unfall geschieht an einem Mittwochnachmittag im April 2009 auf dem Highway 2000 nahe Old Harbour, westlich von Kingston. Bolt sitzt am Steuer eines schwarzen BMW M3 Coupé, den ihm sein Sponsor Puma nach den triumphalen Olympischen Spielen von Peking nach Jamaika geschickt hat. Weil Manchester United, sein Lieblingsklub, am Nachmittag im Halbfinale der Champions League gegen Arsenal spielt, hat er es eilig auf dem Weg vom Trelawny Parish im Norden der Insel nach Kingston; das Spiel beginnt um Viertel vor drei Uhr jamaikanischer Zeit.
Als der schnellste Mann der Welt die Maut-Schnellstraße erreicht hat, drückt er auf die Tube. Dann ein Blitz aus heiterem Himmel, Donner und Wolkenbruch. Der Wagen gerät außer Kontrolle – „I was water-skiing“, schreibt er – überschlägt sich dreimal und landet in dem breiten Graben neben der Straße. Bolt tritt sich Dornen in die Füße, als er aussteigt. Er fahre am liebsten barfuß, gibt er an. Eine seiner beiden Beifahrerinnen wird ohnmächtig aus dem Wagen gezogen.
„Zuweilen trat ich hart aufs Gas“
Es ist merkwürdig: Bolt behauptet, er habe sie während der Fahrt aufgefordert, sich anzuschnallen. Trotzdem vermutet man, dass sie sich deshalb als einzige ernsthaft verletzte, weil sie eben nicht angeschnallt war. Dieser untergründige Zweifel begleitet die gesamte, so prominent plazierte Beschreibung des Unfalls.
Wie Bolt etwa seinen Fahrstil beschreibt, erweist er sich nicht als der beste Zeuge in eigener Sache. „Ich fuhr etwas riskanter. Zuweilen trat ich hart aufs Gas, und einmal wären wir beinahe mit einem entgegenkommenden Wagen zusammengestoßen. Er hatte gerade einen Van überholt, und als er ins Schlingern geriet, verpasste er uns nur um Haaresbreite.“
Der entgegenkommende Wagen schleuderte nicht wirklich; im Original schert er, wie das auch im Linksverkehr üblich ist, auf seine Fahrbahnseite ein. Bemerkenswert ist, dass Bolt dem überholenden Wagen offenbar mit hoher Geschwindigkeit entgegenrast und dennoch behauptet, es sei der andere Fahrer, der ihn knapp verpasst. „Wie kannst du auf solchen Straßen so entspannt sein?“, fragt er seine zu diesem Zeitpunkt noch nicht angeschnallte Beifahrerin.
Vielleicht soll diese Episode Lücken in der folgenden Beschreibung überspielen. Als Bolt in seiner Erzählung jedenfalls runtergeschaltet hat und der Wagen langsamer wird – er ist bei 74 Meilen pro Stunde, das sind knapp 120 km/h – kommt ihm ein Laster entgegen. Der ist, natürlich, eingehüllt in eine Wolke wirbelnden Wassers, und ihm folgt ein zweites Fahrzeug. „Bang!“ heißt es nun, und Bolt erzählt, wie das Heck seines Wagens ausbricht und das Auto sich zu drehen beginnt.
Heißt „bang“, dass es einen Zusammenstoß gab, eine Berührung der Autos? Oder heißt es, dass Bolts Sportwagen schlagartig ausbrach? Über die Geschwindigkeit braucht man nicht zu spekulieren. Sie reicht für eine dreifache Rolle. Was aber hat den heckgetriebenen Achtzylinder mit 420 PS, ausgestattet mit einem extrem niedrigen Schwerpunkt und der besten Sicherheitstechnik der Welt, aus der Bahn geworfen?
„Freiraum für sportlichste Fahrerlebnisse“
Ach so, ja, die Traktionskontrolle war ausgeschaltet. Der schnellste Mensch der Welt spricht nicht davon, dass er mit quietschenden Reifen fahren wollte, wie es manchem BMW-Fahrern ein Bedürfnis ist. Jedenfalls kann man die Anti-Schlupf-Kontrolle ausschalten. Für den M3 bietet BMW als „Grenzerweiterung“ darüber hinaus eine Einstellung an, welche die Dynamische Stabilitätskontrolle verzögert eingreifen lässt, um mit ein wenig durchdrehenden Reifen und mit ein bisschen Schleudern „Freiraum für sportlichste Fahrerlebnisse“ zu ermöglichen.
Dies nun hatte, folgt man seiner Beschreibung, Usain Bolt ganz und gar nicht im Sinn. Ihm war, erinnert er sich, Tage vor dem Unfall etwas Komisches passiert. Als er auf dem Fahrersitz herumrutschte, berührte er aus Versehen den Schalter für das Sicherheitssystem und, schau an, die Reifen verloren ein wenig an Griffigkeit. Während nun also seine Konzentration Straße und Wolkenbruch galt, so erzählt er, passierte dasselbe wieder – vermutlich. Das Sicherheitssystem, ausgeschaltet, beginnt sich der Wagen zu drehen, überquert rechts die Gegenfahrbahn und landet kopfüber neben der Straße. Irgendetwas, vielleicht ein Bordstein, muss den aus der Kontrolle geratenen Wagen umgeworfen haben.
Man erfährt es nicht.
„Ich hatte Gott auf meiner Seite“
Ein Vater würde, erzählte sein Sohn ihm eine solche Geschichte, ihm die Ohren lang ziehen. Nicht so der berühmteste Sohn Jamaikas. Dessen Parlament unterbrach bei der Nachricht vom Unfall Bolts seine Sitzung. Die Abgeordneten applaudierten, als der spätere Premierminister Andrew Holness bekanntgab, dass das Land erleichtert aufatmen könne, weil Bolt unverletzt sei. Die Opposition drückte Freude aus.
Vielleicht ist es da kein Wunder, dass Bolt die Dummheit, die er machte, als Schicksal verstand und deren glimpflichen Ausgang als Zeichen Gottes. „’Hey, Bolt’, sagte es. ,Ich habe dir ein cooles Talent gegeben, das Talent, Weltrekorde zu brechen, und ich werde auf dich aufpassen“, interpretiert er jedenfalls den Zwischenfall. „Ich hatte Gott auf meiner Seite, und Er hatte mich auf diese Erde gesandt, damit ich lief – schneller als jeder andere Athlet zuvor. Das waren ziemlich coole Neuigkeiten.“
So eine windige Geschichte von Bolt
Bolt gewann später im Jahr bei der Weltmeisterschaft von Berlin drei Goldmedaillen und verbesserte die Weltrekorde über 100 Meter auf unglaubliche 9,58 Sekunden und über 200 Meter auf noch unglaublichere 19,19. Bis heute, da er praktisch jeden internationalen Titel gewonnen hat, staunen wir über seinen Speed.
Die Glaubwürdigkeit seines Metiers ist durch Dopingfälle und durch den Rücktritt aller Mitglieder der jamaikanischen Anti-Doping-Agentur wegen Versäumnissen und Hochstapelei erheblich beschädigt. Da fehlte es gerade noch, dass sich der Schnellste von allen mit einer so windigen Geschichte Gottesgnadentum bescheinigt.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 24. Dezember 2013
Usain Bolt: Wie der Blitz – Die Autobiografie. C. Bertelsmann.