Verursacher der Schieflage in den Medaillenlisten ist der Skandal um das kalifornische Drogenkartell Balco, das sich eines der unappetitlichsten Gaunerstücke der Dopinggeschichte geleistet hat. Zeitlich gesehen liegt das Epizentrum von Balco in den Jahren 2003/2004
Umverteilung unter Tränen – Wem gehört Gold? Einige Medaillen von 2000/2004 sind wegen offener Dopingfragen noch immer nicht zugestellt – Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung
München – Es ist schon ein paar Jahre her, dass Olympiamedaillen ohne Hinweis auf ihr Verfallsdatum überreicht wurden. Heutzutage besitzen sie eine Halbwertzeit – die eine oder andere zumindest. Man darf demnach davon ausgehen, dass der Medaillenspiegel der Winterspiele in Vancouver nach dem letzten Finale noch nicht in Stein gemeißelt werden kann.
Wie und wann er sich verändert, hängt von der Pfiffigkeit der Analytiker von 2000 Dopingproben und der Juristen ab. Dass die sich zuweilen schwer tun, zeigt das noch immer nicht beendete Gefeilsche um Medaillen von Sommerspielen, die seit zehn (Sydney) und sechs Jahren (Athen) Vergangenheit sind.
Verursacher der Schieflage in den Medaillenlisten ist der Skandal um das kalifornische Drogenkartell Balco, das sich eines der unappetitlichsten Gaunerstücke der Dopinggeschichte geleistet hat. Zeitlich gesehen liegt das Epizentrum von Balco in den Jahren 2003/2004. Nachbeben werden indes heute noch registriert. So sah sich die amerikanische 400-m-Läuferin Crystal Cox, 30, Ende Januar gezwungen, ein von der Antidopingagentur ihres Landes, Usada, vorgelegtes Geständnis zu unterschreiben, von 2001 bis 2004 illegale leistungsfördernde Mittel konsumiert zu haben. Usada sperrte Cox für vier Jahre und annullierte ihre Ergebnisse von 2001 an.
In Vancouver startete die Disziplinarkommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) soeben Untersuchungen im Fall Cox. Sie könnten Folgen haben für die US-Frauenstaffel über 4×400 m: Entzug des Golds der Spiele von Athen. Cox war Mitglied des Staffelkaders und im Athener Vorlauf eingesetzt. Das Umverteilen der Medaillen wird munter weiter gehen.
Die Causa Cox belegt, welche Durchschlagskraft die Balco-Affäre noch besitzt. Im Oktober 2007 hatte die prominenteste Kundin des Betrugsunternehmens, die Sprinterin Marion Jones, ihr Dopingvergehen zugegeben. Der Schlusspunkt unter den Skandal mit mehr als einem Dutzend sanktionierten Athleten war damit freilich nicht gesetzt. Usada wühlte weiter in den Balco-Unterlagen und konnte im Oktober 2009 Crystal Cox die Verwicklung in den Fall vorhalten.
In einer E-Mail an Freunde und Verwandte berichtete Cox, sie habe „da gesessen und gepredigt“, unschuldig zu sein, sei aber ohne Geld und andere Hilfen nicht in der Lage gewesen, „gegen einen Goliath wie die Usada anzutreten. Ich kämpfte solange ich konnte, dann habe ich unter Tränen unterschrieben“. Ohne die Unterschrift wäre sie lebenslang gesperrt worden, teilte Cox mit. „Viele Athleten stürzten durch Balco, ihre Trainer und mein ehemaliger Coach waren irgendwie mit einander verbunden. Die Strafe, die mich erwartet, ist das Ergebnis von Schuld durch Verwicklung“.
Seit das gesamte Team disqualifiziert wird, wenn nur ein Mitglied gedopt ist, läuft in Staffeln das Risiko stets mit. Monique Hennegan, Goldstaffelläuferin 2000 und 2004, wird vermutlich zweimal für den Betrug anderer büßen müssen. Dee Dee Trotter, die 2004 für Cox das Finale bestritt, sagt: „Risiko beginnt, wenn du mit anderen zusammenläufst. Du weißt ja nicht, was sie gemacht haben“.
Die Antidopingaktivistin würde die Rückgabe des Golds gleichwohl akzeptieren. Sieben Staffelfrauen von 2000 (4×400 m/Gold, 4×100 m/Bronze) tun das nicht. Weil Marion Jones jedes Mal mit von der Partie war, hatte das IOC die Medaillen eingezogen, sie aber vorerst nicht weitergereicht. Wegen einer anhängigen Klage der Amerikanerinnen gegen das IOC beim internationalen Sportgerichtshof Cas.
Es sei Unrecht, meinen sie, später als drei Jahre nach der Siegerehrung Medaillen zurückzufordern (was 2008 geschah). Die Angelegenheit scheint den Sieben indessen aus dem Ruder zu laufen. Am 19. Dezember ließ Cas vorab durchblicken, die Dreijahresregel hindere das IOC nicht, Medaillen zu kassieren, eine Siegerehrung sei keine Entscheidung per se. Ein Urteil liegt noch nicht vor.
Die skurrilste Hinterlassenschaft des Jones-Betrugs betrifft die Neuverteilung der 100-m-Medaillen von 2000. Auch hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Nach der Disqualifikation von Jones rückten nach: Tanya Lawrence von drei auf zwei und Merlene Ottey (beide Jamaika) von vier auf drei – aber Silbergewinnerin Ekaterina Thanou (Griechenland) nicht von zwei auf eins. Zweimal Silber also und kein Gold. Eine finale Entscheidung über das beste Stück steht noch aus.
Das IOC traut Thanou nicht. Aber kann es ihr die Jones-Medaille verweigern? Aufgrund von Verdachtsmomenten? Thanou beruft sich auf die Dopingkontrolle von Sydney, die sie wie Jones unbeanstandet passierte. Erst 2004 nahm der Argwohn konkrete Formen an, als sie den Kontrolleuren dreimal entwischte, weshalb sie der Leichtathletik-Weltverband (führt Thanou als Nr.1 mit Stern von Sydney) für zwei Jahre bis 2006 sperrte.
So sucht das IOC nach dem Weg, ihr das Gold juristisch bedenkenlos vorzuenthalten. Thanou hat dem Komitee mit einer Millionenklage gedroht. Derweil wartet man am IOC-Sitz in Lausanne auf das Urteil eines griechischen Zivilgerichts im mehrmals verschobenen und nun auf September datierten Prozess gegen Thanou. Dort soll geprüft werden, ob sie und Sprinter Kostas Kenteris vor den Athen-Spielen einen Motorradunfall nur vortäuschten, um im Krankenhaus einem Dopingtest zu entgehen. Diesen Vorfall nahm das IOC 2008 zum Anlass, der Athletin den Olympiastart in Peking zu untersagen.
Begründung: Rufschädigung der olympischen Bewegung. Thanou indes lässt nicht locker. Ihr Anwalt beschwerte sich jetzt beim IOC-Ethikrat über das olympische Exekutivkomitee. Dieser Zirkel diskriminiere, missbrauche seine Macht, verletze die Menschenrechte. Der Vorwurf könnte noch zum Bumerang werden für Frau T.
Wenn es endgültig um Gold geht.
Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung, Donnerstag, dem 18. Februar 2010