Von einem Sprinter, der nach wochenlangem Grundlagentraining, mit einem schlechten Start in einem miserablen Lauf eine Zeit von 9,75 Sekunden erzielt – nur Bolt und dessen Landsmann Asafa Powell liefen je schneller – dürfte noch einiges zu erwarten sein.
Tyson Gay – Gesundheits-Check in 9,75 Sekunden – Michael Reinsch, Eugene, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
26. Juni 2009 Weltmeister Tyson Gay war unglücklich. „Ich wäre froh, ich könnte noch ein Rennen laufen und alles besser machen als diesmal“, klagte der Doppelweltmeister im Sprint nach dem Vorlauf zur amerikanischen Weltmeisterschafts-Qualifikation. „Technisch war der Lauf eine Katastrophe. Der Start stimmte nicht, meine Konzentration stimmte nicht, die ersten sechzig Meter waren lahm.“
Der erste Hundertmeterlauf, zu dem Gay seit zehn Monaten antrat, seit dem Halbfinale der Olympischen Spiele von Peking, in dem er ausschied, sah wirklich nicht gut aus. Erst fabrizierte Gay einen Fehlstart, dann startete er am vorsichtigsten von allen, schob sich kraftvoll an allen vorbei, und dann waren die Trials für die Weltmeisterschaft in Berlin auch schon vorbei für ihn – nach 9,75 Sekunden.
Gay ist auf dem Hayward Field der Universität von Oregon in Eugene nicht ausgeschieden. Im Gegenteil: Mit seinem Sieg hat er seinen amerikanischen Rekord von 9,77 Sekunden aus dem vergangenen Jahr unterboten, wenn auch nur inoffiziell. „Natürlich, weil ich Rückenwind hatte, geht die Zeit nicht in die Bücher ein“, sagte Gay, den der Wind mit 3,4 statt der maximal erlaubten 2 Meter pro Sekunde unterstützte. „Aber sie ist ganz gut und zeigt mir, was ich erreichen kann, wenn ich erst alles richtig mache.“
Gay hat das Talent für solche Ergebnisse. Im vergangenen Jahr lief er die hundert Meter eine Hundertstelsekunde schneller als Usain Bolt später bei den Olympischen Spielen; allerdings hatte er bei seinen 9,68 Sekunden von Eugene ebenfalls Rückenwind, Bolt bei seinen 9,69 von Peking nicht.
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Paukenschlag über hundert Meter: Tyson Gays fliegender Kurzauftritt in Eugene
Der Lauf vom Donnerstag ist bereits der zweite Paukenschlag, mit dem der stille Sprinter in diesem Jahr deutlich macht, dass es nicht nur Olympiasieger Usain Bolt gibt in der Welt des Sprints. Die Muskelzerrung, die ihn im vergangenen Jahr mitten in den Trials buchstäblich umwarf, und die Knieverletzung, die er sich beim Trainingsbeginn im November zuzog, sind offensichtlich überwunden. Vor gut drei Wochen lief Gay in New York die 200 Meter in 19,58 Sekunden.
Gay will mehr. „Ich würde gern zum Halbfinale und zum Endlauf am Freitagabend antreten“, verriet er am Donnerstag. Doch es blieb beim Startverbot, dass seine Trainer Lance Bauman und Jon Drummond verhängt haben. Schließlich verlangte der Verband von Gay und seinen anderen fünf Weltmeistern lediglich einen einzigen Start, so etwas wie einen Gesundheitstest, um sie für Berlin zu nominieren. „Meine Mutter hat gesagt, dass sie nicht verstehe, warum ich nur in der ersten Runde laufe“, verriet Gay. „Deshalb ist sie nicht gekommen.“
„Ich weiß, wer ich bin und was ich kann“
Er hingegen habe eingesehen, sagte der brave Gay, dass es einerseits darum gehe, sich zu schonen für die wichtigen Rennen und die vielen Vorläufe bei der Weltmeisterschaft. Andererseits, sagte Gay und beschrieb damit ausgerechnet bei den Trials, der schärfsten Auswahl im Sport, wie viel Herz und Mitgefühl er sich leistet. Man müsse auch an die anderen denken. „Wenn ich mitlaufe und gar nicht die Absicht habe, im Finale zu starten, dann hat es doch keinen Sinn, dass ich jemanden rauswerfe, der das Potential hat, es ins Team zu schaffen“, sagte Gay. „Ich finde, so etwas wäre ziemlich eigensüchtig.“
Gay erweckt häufig den Eindruck, dass er seine Möglichkeiten weder auf der Bahn noch in der Öffentlichkeit ausschöpft, sich zu klein macht. In Peking zeigte er sich überrascht davon, dass Basketball-Star Kobe Bryant sich für ihn und seine Verletzung interessierte. Für sein Ausscheiden bald darauf versprach eine Entschädigung, denn habe er das Publikum so sehr enttäuscht.
Zur eigenen Pressekonferenz nicht zugelassen
Vor seinem Lauf vor drei Wochen in New York musste er sich von einem Wachmann am Zutritt zur eigenen Pressekonferenz hindern und sich fragen lassen, was denn das überhaupt für ein Auftrieb sei, der immerhin ihm, Gay, galt. Eine Menge Sportler seien da, antwortete Gay in unnachahmlicher Bescheidenheit. Postwendend bekam er zu hören, wenn so ein Star dabei wäre wie Usain Bolt, dann hätte er, der Wachmann, den natürlich erkannt. „Klar stehe ich in seinem Schatten“, sagte Weltmeister Gay über den drei Jahre Jüngeren. „Aber nur in der Öffentlichkeit. Ich weiß, wer ich bin und was ich kann.“
Am Start muss er noch arbeiten
Am Start muss er noch arbeiten
Von einem Sprinter, der nach wochenlangem Grundlagentraining, mit einem schlechten Start in einem miserablen Lauf eine Zeit von 9,75 Sekunden erzielt – nur Bolt und dessen Landsmann Asafa Powell liefen je schneller – dürfte noch einiges zu erwarten sein. Gay zuckte nicht mit der Wimper, als die Rede auf den Weltrekord kam. „Ich spüre, dass ich ihn in mir habe“, sagte er. „Wenn ich technisch ein bisschen sicherer werde, ist er da.“
Am Freitag, als die anderen um die amerikanische Meisterschaft sprinteten, war Gay bereits zum Starttraining abgereist.
Michael Reinsch, Eugene, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 26. Juni 2009
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