Tobias Unger wird zwar älter, aber noch nicht langsamer
Tobias Unger – Je oller, je schneller – Von Michael Reinsch, Barcelona, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Auf seine alten Tage verbesserte Tobias Unger seine 100-Meter-Bestzeit auf 10,14 Sekunden. Bei der Leichtathletik-EM in Barcelona zählt für ihn aber nicht nur die Zeit. Nach dem Sprint hofft Unger noch auf eine zweite Chance.
Tobias Unger kommt ohne Armbanduhr daher. Der schnellte Deutsche verzichtet auf das Prestigeobjekt, mit dem Athleten seines Metiers Wohlstand signalisieren und die Bedeutung des Kampfes um Zehntel- und Hundertstelsekunden betonen. „Eigentlich habe ich noch nie eine Uhr gehabt“, verrät Unger und scherzt: „Es ist immer gut, wenn man ein Ausnahmesprinter ist.“
Selbstverständlich kann der Münchner, der so unverkennbar schwäbelt, die Zeit nicht anhalten. Seit vierzehn Tagen ist er 31 Jahre alt. Sechs Jahre ist es her, dass er im Finale der Olympischen Spiele von Athen über 200 Meter Siebter wurde. Vor fünf Jahren gewann er die Hallen-Europameisterschaft auf dieser Distanz und kam im Endlauf der Weltmeisterschaft von Helsinki wiederum auf Platz sieben. Seit fünf Jahren hält er den deutschen Rekord von 20,20 Sekunden auf dieser Strecke. Im Winter musste er sich an beiden Achillessehnen operieren lassen.
So schnell ist seit mehr als dreißig Jahren kein deutscher Sprinter mehr gerannt – Staffelläufer Unger: In Barcelona muss eine Medaille her!
Seitdem ist erst mal Schluss mit der Lieblingsstrecke. Die Füße sollen in der hundert Meter langen Kurve nicht über die Maßen belastet werden. Bei der deutschen Meisterschaft in Braunschweig, bei der er das Einzelrennen und den Staffellauf verpatzte, blies Unger entnervt sein Comeback ab. „Ganz klar: die hundert Meter sind die Königsdisziplin“, sagt er. „Aber dann kommen sofort die zweihundert.“
Zwar wird er älter, aber immer noch nicht langsamer. Vor drei Wochen verbesserte Unger in Mannheim seine persönliche Bestzeit über hundert Meter auf 10,14 Sekunden. So schnell ist seit mehr als dreißig Jahren kein deutscher Sprinter mehr gerannt – und dabei trudelte er auf den letzten Metern aus. 10,10 Sekunden wären möglich gewesen, sagt er. Noch dichter an den deutschen Rekord von 10,06 Sekunden zu rennen, den DDR-Sprinter Frank Emmelmann 1975 lief, dazu hat Unger in dieser Woche bei der Europameisterschaft in Barcelona Gelegenheit. Das Finale am Mittwochabend um kurz vor zehn Uhr ist sein erstes großes Ziel auf dem Weg zu den Olympischen Spielen 2012.
Mit der Staffel fordert Unger eine Medaille – auch alleine könnte er es schaffen
Für die entscheidenden Sprints braucht Unger keine Uhr. „Jetzt zählt der Kampf Mann gegen Mann“, sagt er. „Wenn ich mit 10,30 Sekunden eine Medaille holen könnte, würde ich mich darüber mehr freuen als über eine 10,12, mit der ich nur Fünfter werde.“ Doch er wird schneller rennen müssen als 10,30 Sekunden. Vier Europäer waren in diesem Jahr schon schneller als er, allen voran der zwanzig Jahre alte Franzose Christophe Lemaitre mit seinen 9,98 Sekunden.
Hallen-Weltmeister Dwain Chambers war, als er bei der Mannschafts-Europameisterschaft in Bergen siegte, nur eine Hundertstelsekunde langsamer. Martial Mbandjock (Frankreich) ist schon 10,08 gelaufen, der Norweger Jaysuma Saidy Ndure 10,09. Im Gespräch leitet Unger aus seiner Ranglistenposition nur die Chance ab, Platz vier zu erreichen. Er verrät aber auch: „Ich erwarte von mir sicherlich mehr, als ich öffentlich sagen würde.“
Mit der Staffel fordert Unger geradezu eine Medaille, auch als Wiedergutmachung für den Verlust des Staffelstabs bei der Weltmeisterschaft in Berlin. Damals, im vergangenen Sommer, waren die Deutschen als schnellstes Team Europas ins Finale gegangen und gescheitert. Vier Wochen lang hat Unger die Enttäuschung von Berlin mit sich herumgetragen. „Das hat mir echt einen Knacks versetzt“, sagt er. In diesem Jahr will das Team alles richtig machen. Unger, Sebastian Ernst, Alexander Kosenkow und Marius Broening liegen von den Vorleistungen her mit den Franzosen gleichauf an der Spitze Europas: Für beide Teams stehen 38,50 Sekunden zu Buche.
Gegenüber den Jamaikanern überwiegt die Bewunderung
Sechs Jahre ist es her, dass er im Finale der Olympischen Spiele von Athen über 200 Meter Siebter wurdeSechs Jahre ist es her, dass er im Finale der Olympischen Spiele von Athen über 200 Meter Siebter wurde
So zurückhaltend Unger in seiner Medaillenprognose ist, so sehr hat er auch die Weltklasse des Sprints aus seiner Welt ausgeblendet. Noch vor wenigen Jahren kritisierte der Sprinter vehement die mangelhaften Dopingkontrollen auf Jamaika und die explosive Leistungsentwicklung eines Usain Bolt – dessen Weltrekord inzwischen bei phantastischen 9,58 Sekunden steht. Trainer Corucle kündigte damals an, die Weltleichtathletik zu boykottieren.
Die beiden sind leiser geworden. Bolt, Asafa Powell und Tyson Gay sehe er nicht als Konkurrenten. „Man bewundert diese Ausnahmesprinter eher“, sagt Unger, „mit welcher Leichtigkeit sie laufen und mit welcher Konstanz. Sie sind unerreichbar, und es wäre unnütz, sich darüber Gedanken zu machen. Die Motivation, jemanden zu erreichen und schlagen zu können, hat man bei denen, die 10,0 und 10,10 laufen. Bei den anderen ist das Utopie.“
Hegt er keinen Verdacht? „Die haben auch ihre Dopingkontrollen“, sagt Unger tapfer. „Da überwiegt die Bewunderung.“
Michael Reinsch, Barcelona, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 27. Juli 2010