„Der Berlin-Marathon hat es leider nicht geschafft, aus einem Stadtereignis zu einem nationalen Ereignis zu werden“, konstatiert Hans-Jürgen Pohmann, der Sportchef des RBB.
Tigerentenclub statt Berlin-Marathon – Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Nach 17 Jahren Übertragung endet die Partnerschaft mit der ARD. Der anhaltende Langlaufboom bemisst sich mehr in Läufern als in Zuschauern. Beim Marathon fehlt die Fortsetzungsgeschichte von Helden und Herausforderern.
Seit seiner Premiere vor zweieinhalbtausend Jahren hat der Marathon zwar an Zulauf gewonnen. Mehr als 40.000 Teilnehmer wollen in Berlin auf die 42,195 Kilometer lange Strecke gehen. Zehntausende bereiten sich auf die im Herbst noch bevorstehenden Läufe in Köln, München und Frankfurt, Chicago, Amsterdam und New York vor.
Doch seit aus der tödlichen Anstrengung eines griechischen Boten eine Massenbewegung geworden ist, tut sich das Fernsehen schwer damit, die Faszination des längsten aller Langläufe zu fassen. „Der Berlin-Marathon hat es leider nicht geschafft, aus einem Stadtereignis zu einem nationalen Ereignis zu werden“, konstatiert Hans-Jürgen Pohmann, der Sportchef des RBB.
Wenn am Sonntag um neun Uhr Till Schweiger und Klaus Wowereit 600 Meter vor der Siegessäule den Startschuss geben, sendet das erste Programm den Tigerentenclub und das dritte den Tollen Bomberg von 1957. Nach siebzehn Jahren ist dies das Aus der Partnerschaft von öffentlich-rechtlichem Fernsehen und Berlin-Marathon.
Trachten- und Schützenzug als Alternative
Fünfeinhalb Stunden lang haben in den vergangenen Jahren Pohmanns Sport-, Lokal- und Gesundheitsreporter aus Ü-Wagen und aus Hubschraubern, aus vollem Lauf und vom Motorrad aus berichtet. Für Langläufer ist diese größte Laufveranstaltung Europas der Höhepunkt ihres Sportjahres. Sie kommen mit Freunden und Familien in die Hauptstadt.
Für viele Berliner wiederum ist die Sperrung der Stadt für Autos, wie sie seit 1981 für den letzten Sonntag im September erfolgt, Anlass für ein riesiges Straßenfest mit fast hundert Musikgruppen und Imbissständen. Vorne rennen drahtige Athleten um die Weltrekordprämie, gefolgt vom endlosen Strom der Hobbyathleten und Normaljogger, der Lahmen und Fußkranken. Zuschauern am Bildschirm ist die Faszination atemloser Massen und enthusiastischer Besucher im Lärm von Sambatrommeln schwer zu vermitteln.
„Unsere Einschaltquoten von 15,5 und 12,9 Prozent empfinden wir als große Erfolge“, sagt deshalb Pohmann. Im Westteil Berlins war knapp ein Drittel der Fernsehzuschauer dabei, als vor einem Jahr der Äthiopier Haile Gebrselassie seinen Weltrekord von 2:03:59 Stunden verpasste. Im Osten schauten dagegen nur 6 und im Umland nur 5,5 Prozent zu, wie auch bei der dreißigminütigen Zusammenfassung zu Mittag im ersten Programm: 5,6 Prozent.
„Mit solchen Quoten hat man wenig Argumente“, sagt Pohmann. 2009 übertrug das Erste den Trachten- und Schützenzug des Oktoberfestes statt den Marathon aus Berlin.
Es fehlt die Fortsetzungsgeschichte von Helden und Herausforderern
Dessen Veranstalter produzieren nun deshalb mit zwanzig Kameras und dem Einsatz von drei Helikoptern ihre Fernsehbilder selbst. Eurosport und n-tv haben zugegriffen; unter den 67 Sendern, die live übertragen, sind zudem Universal in den Vereinigten Staaten und Fuji in Japan. „Es reicht uns nicht, regional in Erscheinung zu treten“, sagt Rüdiger Otto, Geschäftsführer der Veranstaltung. „Wenn die ARD die größte deutsche Eintages-Sportveranstaltung ignoriert, bekommen wir ein Problem mit Zuschauern und Sponsoren.“
„Dies ist nicht nur der wichtigste Marathon Deutschlands, sondern eines der wenigen internationalen Highlights, die wir haben“, pflichtet ihm Clemens Prokop bei, der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes. „Sport ist Teil der Kultur und hat deshalb grundsätzlich Anspruch auf Übertragungszeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.“
Gebrselassie will diesmal in New York starten
Doch der anhaltende Langlaufboom bemisst sich mehr in Läufern als in Zuschauern. Anders als bei den stundenlangen Übertragungen von der Tour de France im Hochsommer ergibt sich aus einzelnen Marathonläufen keine sportliche Fortsetzungsgeschichte von Helden und Herausforderern.
Da Läufer nur zwei bis drei Marathons im Jahr bestreiten können, ist die Zweijahreswertung „World Marathon Majors“ der Läufe in Boston, London, Berlin, Chicago und New York trotz einer Million Dollar Preisgeld eine etwas luftige Rechnung geblieben. Olympiasieger Samuel Wanjiru aus Kenia (Bestzeit 2:05:10) und der Äthiopier Tsegaye Kebede (2:05:18), die in der Wertung führen, fehlen in Berlin. Statt ihrer sollen die jungen Kenianer Patrick Makau (2:04:48) und Geoffrey Mutai (2:04:55) den Weltrekord von Gebrselassie angreifen.
Gebrselassie, der beste Marathonläufer der Welt, will in New York starten. Er interessiert sich nicht für die Jahreswertung. Die deutsche Weltklasseläuferin Irina Mikitenko, Siegerin der Marathon Majors in den vergangenen beiden Jahren, zieht Chicago vor. Bis heute hat die Majors-Wertung keinen Sponsor.
Von der WM 2011 droht Funkstille
Der Wechsel des Berlin-Marathons aus dem öffentlich-rechtlichen ins Spartenfernsehen ist ein weiterer Schlag für die Sportart, die den Kern der Olympischen Spiele bildet: Die Leichtathletik blieb mit ihrer Hallen-Weltmeisterschaft in diesem Jahr ohne Fernsehpräsenz in Deutschland. Die neu etablierte Diamond League war nur bei Sport1 zu sehen. Und von der Weltmeisterschaft in Daegu 2011 droht, nach großem Erfolg mit der WM von Berlin und der Europameisterschaft von Barcelona, Funkstille bei den Öffentlich-Rechtlichen.
Mit der Legende vom tödlichen Zusammenbruch eines Boten auf dem Marktplatz von Athen 490 vor Christus ist der Marathonlauf in die Geschichte eingegangen.
Heute hat er offenbar ein Vermarktungsproblem.
Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 26. September 2010
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