In der Leichtathletik müssen wir uns jetzt viel stärker auf Schwerpunkte, Orte, Disziplinen, Trainerteams und Trainingsgruppen konzentrieren; der DLV will dies umsetzen.
Stichwort: Zukunft des deutschen Spitzensports – Fünf Fragen an Dr. Dietrich Gerber, stellvertretender Vorsitzender des Präsidialausschusses Leistungssport des Deutschen Olympischen Sportbundes – „Gesellschaftliche Diskussion über Zukunft des Spitzensports ist nötig“
DOSB PRESSE: Die DOSB-Mitgliederversammlung am 6. Dezember in Rostock wird sich mit der Analyse der Olympischen Spiele 2008 in Peking beschäftigen. Was steht mit Blick auf London 2012 auf der Agenda?
GERBER: Wir müssen nicht unsere Leistungssportkonzepte alle umschreiben, vielmehr sollten wir sie durchsetzen.
Es gibt sicherlich vereinzelt Auffassungsdifferenzen zwischen den Fachver-bänden und dem DOSB. Das Förderkonzept „Verbandsförderung im olympischen Spitzensport“, wie es auf der Mitgliederversammlung am 8. Dezember 2007 in Hamburg beschlossen wurde, ist gut und richtig.
DOSB PRESSE: Welche Konsequenzen sollten aus Ihrer Sicht gezogen werden?
GERBER: Keine Frage: Der inoffizielle Medaillenspiegel wird Gradmesser für Erfolg oder Misserfolg einer Nation im globalen Wettstreit des Spitzensports bleiben. Wir kommen jetzt in die Phase schwächerer Jahrgänge; der Geburtenrückgang ist nicht zu leugnen. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir deshalb per se weniger Medaillenchancen haben. Denn die Potenz von Leistungen ist heute größer, als es unser Olympiateam in Peking zeigen konnte.
Diese Leistungsreserven sollten wir vernünftig nutzen, das heißt, es ist ein gut organisiertes Training anzubieten, und es ist eine systemische Abstimmung nötig. Im Rudern beispielsweise ist das Leistungs-vermögen größer als es in Peking demonstriert wurde; Ungeschicklichkeiten des Verbandes sind dafür im wesentlichen verantwortlich. In der Leichtathletik müssen wir uns jetzt viel stärker auf Schwerpunkte, Orte, Disziplinen, Trainerteams und Trainingsgruppen konzentrieren; der DLV will dies umsetzen. Im Schwimmen sind wir mit einem blauen Auge davongekommen; die mentale Stärkung unserer Aktiven sollte, nicht nur im Schwimmsport, eine zunehmende Rolle spielen – darüber muss jetzt nachgedacht werden, wobei sich unsere Trainer zusätzliches Wissen über psychologische Prozesse aneignen müssen.
Im Boxen werden wir auf internationalem Parkett im Amateurbereich nicht zulegen können, solange die Profiställe sehr früh junge Talente abwerben. Und im Radsport muss der Spitzenverband für die Arbeit an den Stützpunkten ein stringenteres Konzept entwickeln und beispielsweise bei den Straßendisziplinen über einen Neuanfang nach-denken; das hängt maßgeblich mit der Dopingproblematik zusammen, deshalb dürfte die U 23 verstärkt in den Blickpunkt rücken.
DOSB PRESSE: Wird es erneut eine Diskussion über die Steuerungsaufgaben der Olympiastützpunkte geben?
GERBER: Die Olympiastützpunkte wurden als Dienstleister eingerichtet, und das wird auch so bleiben. Allerdings müssen wir die Spitzenverbände verstärkt darauf hinweisen, was die Olympiastützpunkte bedeuten. Hier gibt es noch Reserven.
DOSB PRESSE: Regionale Egoismen und Eigenwege stehen immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik. Ihre Meinung dazu?
GERBER: Wir müssen die Olympiastützpunkte direkter in die Sportentwicklung der Verbände eingliedern. Von Haus aus sind sie keine Einrichtungen des Föderalismus. Es sind die Olympiastützpunkte des deutschen Spitzensports, die den Spitzenverbänden für die Betreuung ihrer Topathleten zur Verfügung stehen. Deshalb bin ich mit den diversen organisatorischen Zuordnungen mit Trägervereinen und GmbHs nicht glücklich.
Absolut unzweckmäßig sind die juristischen Problemstellungen: Dienst- und Fachaufsicht liegen heute noch in verschiedenen Händen. Während der Trägerverein die Dienstaufsicht wahrnimmt, liegt die Fachaufsicht im Prinzip bei 55 Spitzenverbänden. Ist nun ein Coach am OSP für das Krafttraining bei Biathleten, Diskuswerfer, Schwimmer und Radsportler zuständig, bedarf es in Problemfällen einer vielseitigen Abstimmung mit Briefen, Telefonaten und Sitzungen, und es kommt zu vielen Verständigungsproblemen.
Ich meine, Dienst- und Fachaufsicht gehören in eine Hand. Deshalb wäre eine stärkere Anbindung an den DOSB richtig, weil nur so die Steuerungsaufgaben aus dem weit aufgezogenen Blickwinkel wahrgenommen werden können. Hierüber sollten wir uns bis London 2012 verständigen. Ich spreche dieses wichtige Thema überall an, zuletzt im Präsidialausschuss Leistungssport und in der Ständigen Konferenz der Landessportbünde. Mir geht es darum, einen Gedanken in die Debatte zu werfen und eine vernünftige Lösungsmöglichkeit anzustoßen.
DOSB PRESSE: Seit Jahren schon wird über die sogenannte drop-out-Quote lamentiert. Welche neuen Wege sollten gegangen werden, damit der Nachwuchs im Spitzensport beim Übergang in den Seniorensport besser mit den Herausforderungen klarkommen kann?
GERBER: Es bleibt dabei: Eliteschüler sind in ihren Altersgruppen bei den Jugend- und Junioren-Weltmeisterschaft relativ gut und verbuchen internationale Erfolge. Unser System der Nachwuchsförderung mit den Spezialeinrichtungen der Schulen greift. Doch nach wie vor gibt es mit dem Eintritt in die Berufsausbildung, in die Studiengänge der Universitäten und in das Berufsleben Probleme, diese Leistungsanforderungen des Alltags mit den Erfordernissen des Spitzensports zu vereinbaren.
Wir haben sportfreundliche Universitäten und auch gute Modelle für Ausbildungsgänge. Das muss weiter ausgebaut werden. Der ganz große Knackpunkt ist jedoch die Verein-barkeit von Spitzensport und betrieblicher Beschäftigung. Wir haben zu wenige sportfreundliche Unternehmer. Deshalb unterstütze ich, was der Vorsitzende des Sportausschusses des Deutschen Bundestages, Dr. Peter Danckert, vorgeschlagen hat. Wir müssen uns politisch neu positionieren und eine gesellschaftliche Diskussion zu der Frage führen:
Welchen Spitzensport wollen wir in der Zukunft? Wollen wir bei Olympia unter den ersten fünf oder sechs Nationen bleiben oder uns irgendwo im Mittelfeld der Nationen platzieren? Der Sportausschuss könnte als Initiator einer solchen Debatte auftreten, die sodann der DOSB weiter ins Land zu tragen hätte. Wir sollten dann einen Kongress als Plattform nutzen, mit allen Beteiligten nach konkreten Lösungswegen zu suchen.
Dies alles erscheint mir dringend geboten zu sein, denn zwei Monate nach Olympia steht der Spitzensport in seiner komplexen Breite nicht mehr so stark im Fokus des öffentlichen Interesses. Allerdings weiß ich, wenn wir jetzt neue Papiere beschreiben, springt doch niemand einen Zentimeter weiter oder läuft eine Sekunde schneller. Dennoch ist diese gesellschaftliche Diskussion über den Stellenwert des Spitzensports unumgänglich.
Wir müssen sie jetzt führen, denn der Sport allein kann die Zukunftsfragen nicht ohne breiten gesellschaftlichen Konsens beantworten.
Quelle: DOSB Presse