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10
12
2008

Marianne Buggenhagen aus Berlin, die dort als Siegerin mit dem Diskus ihre neunte Goldmedaille errang, macht dennoch ein paar kritische Anmerkungen und warnt vor allzu schnellem Vergessen.

Stichwort Behindertensport: Interview mit Marianne Buggenhagen mit der DOSB Presse

By GRR 0

Dem Behindertensport wird in der Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit geschenkt, woran die Medien einen entscheidenden Anteil haben. Paralympic-Siegerin Marianne Buggenhagen warnt aber vor Euphorie.

 Jüngstes Beispiel bildete der Auftritt des unterschenkelamputierten österreichischen Ski-Stars Matthias Lanzinger im Aktuellen ZDF-Sportstudio, der mit seiner Beinprothese sogar einen Treffer an der Torwand erzielte. Ebenfalls noch gut in Erinnerung sind die Fernseh-Übertragungen und ausführlichen Artikel in den Zeitungen von den Paralympischen Spielen in Peking. Marianne Buggenhagen aus Berlin, die dort als Siegerin mit dem Diskus ihre neunte Goldmedaille errang, macht dennoch ein paar kritische Anmerkungen und warnt vor allzu schnellem Vergessen.

DOSB PRESSE: Welchen Stellenwert besitzt der Behindertensport heutzutage in Deutschland oder anders gefragt, werden die sportlichen Aktivitäten von Menschen mit Handikap bei uns entsprechend gewürdigt?

BUGGENHAGEN: Es hat sich in den letzten Jahren erfreulicher Weise eine Menge getan, was vor allem die Berichterstattung auf dem Sektor des Leistungssports betrifft. Ich denke da nur an verschiedene Großereignisse, die einen breiten Widerhall fanden. Doch oft ist es in der Vergangenheit so gewesen, und ich befürchte, es wird diesmal nicht anders sein, dass sich schon wenige Monate nach den Paralympischen Spielen niemand mehr für uns interessiert.

Dass der Bundespräsident Horst Köhler zu einigen Wettkämpfen nach Peking flog und sich die Kanzlerin Angela Merkel bei der Nacht der Starts, einer  großen Benefiz-Gala des Förderkreises für den Behindertensport in Berlin, zwei Stunden lang Zeit für uns nahm, werte ich als ein herausragendes Zeichen und große Wertschätzung. Doch der graue Alltag sieht oftmals anders aus.

DOSB PRESSE: Wie meinen Sie das? Wird hierzulande nach wie vor nicht genug für die Behindertensportler getan?

BUGGENHAGEN: Gut, das Kernteam erhielt bei der Vorbereitung für Peking eine entsprechende und willkommene Unterstützung. Da wurden sogar für uns Trainingslager finanziert, und es standen auch Mittel für einen Lohnausfall bereit. Im nachhinein gab es Prämien für ein erfolgreiches Abschneiden, wenn auch verständlicher Weise nicht in gleicher Höhe wie bei den Nichtbehinderten. Und Mercedes stellte allen deutschen Goldmedaillengewinner kostenlos für ein Jahr einen Wagen zur Verfügung. Doch was ist mit den Trainern?

Da bräuchten wir künftig viel mehr, um gegen die immer stärker werdende internationale Konkurrenz zu bestehen. Was ist mit den Übungsstätten, die nur in den seltensten Fällen behindertengerecht gebaut worden sind und oftmals gerade den Rollstuhlfahrern arge Probleme bereiten? Was ist mit der beruflichen, schulischen, sozialen und materiellen Hilfe?  Was mit der notwendigen medizinischen Versorgung? Da fehlt es im unteren Bereich leider an allen Ecken und Kanten, schon was den B- und C-Kader-Bereich betrifft. Diese Athleten bräuchten auch einmal eine Woche Reha zum Durchchecken oder das eine oder andere Hilfsmittel wie etwa einen neuen Rollstuhl oder eine modernere Prothese.

DOSB PRESSE: Der technische Fortschritt macht auch vor Ihnen keinen Halt. Was sich in dieser Beziehung in letzter Zeit an Neuerungen getan?

BUGGENHAGEN: Auf jeden Fall einiges, wenn ich da nur an den Südafrikaner Pistorius denke, der mit zwei Beinprothesen fast genau so schnell wie ein Nichtbehinderter läuft. Auch bei uns Rollis gibt es unwahrscheinliche Verbesserungen. Das kann ich am allerbesten beurteilen. Mein Eisenschwein, wie ich meinen Rollstuhl aus dem Jahr 1990 scherzhafter Weise bezeichnete, wog zur damaligen Zeit 24 Kilogramm, heute nur noch die Hälfte. Dank Karbon und Titan sind die Rollstühle nicht nur besser, sondern auch haltbarer geworden, was schließlich allen zugute kommt, die auf solch ein Gefährt angewiesen sind. Wir Leistungssportler tragen so gesehen zur allgemeinen Entwicklung bei, in etwa vergleichbar mit der Automobilindustrie, wo ebenfalls die Erfahrungen aus der Formel 1 teilweise Berücksichtigung beim Bau von Neuwagen finden.

Allerdings darf das Wettrüsten in unserem Sport nicht zu Manipulationen und Ungerechtheiten führen. Eine federnde Rückenlehne im Rollstuhl beispielsweise bringt wesentliche Vorteile gegenüber einer althergebrachten steifen. Es muss danach getrachtet werden, dass alle unter gleichen Bedingungen antreten, damit auch die Sportler aus den Schwellenländern eine Chance haben.

DOSB PRESSE: Welchen Ratschlag geben Sie Menschen, die plötzlich durch eine Verletzung oder Krankheit ihr Leben von heute auf morgen ändern mussten?

BUGGENHAGEN: Die aller erste Regel heißt, sich nicht aufzugeben, aber auch bereit zu sein, Hilfe anzunehmen. Danach sollte versucht werden, die eigenen Stärken zu erkennen und sie auszubauen, auch wenn man eingeschränkt ist. Unbedingt wichtig ist es, einen eisernen Willen aufzubringen und das Bewusstsein zu schulen, dass man etwas kann. Ich arbeite als Krankenschwester und Physiotherapeutin in einer großen Klinik und fahre mit meinem Rollstuhl direkt ans Bett der Patienten, die nicht selten staunen. Manchmal ist das einfache Gespräch wichtiger als jemanden zu erzählen, wie er seine Hose oder das Hemd anziehen soll.

Aber immer wieder weise ich daraufhin, wie wertvoll es ist, Sport zu treiben, der einem den Alltag leichter bewältigen lässt. Natürlich bin auch ich, zumal als aktive Volleyballerin,1977 in ein tiefes Loch gefallen und war total am Boden zerstört, als ein Entzündungsprozess in der Wirbelsäule zu einer Querschnittslähmung bei mir führte und mich in den Rollstuhl zwang. Ganz entscheidend waren in diesen Momenten Partner und Arbeitskollegen, die einem halfen. Doch letztendlich muss jeder für sich allein versuchen, eine gewisse Selbständigkeit zu erlangen.

DOSB PRESSE: Was Ihnen ja auch bestens gelungen ist, wenn man an die großen Erfolge mit neun Paralympics-Siegen und insgesamt 146 Medaillen bei internationalen Starts denkt. Oder sehen Sie das anders?

BUGGENHAGEN: Wahrscheinlich wäre mein Kontingent noch wesentlich größer, wenn die DDR uns Behindertensportlern damals die gleichen Möglichkeiten eingeräumt hätte, die wir heute haben. Für mich, die ich die im Ostteil Berlins lebte, gab es höchstens einmal Wettkämpfe in den sozialistischen Ländern. So nahm ich 1992 in Barcelona erstmals an den Paralympics teil, doch es wäre durchaus schon früher die eine oder andere Teilnahme denkbar gewesen. Am Schluss meiner langen Karriere, ich bin jetzt 55 Jahre, kann ich sagen, dass es sich gelohnt hat, Leistungssport getrieben zu haben, wobei mir mein Mann Jörg, mein Trainer Bernd Mädler, mein Arbeitgeber, der Olympiastützpunkt und das gesamte Umfeld enorm geholfen haben.

Gern gebe ich auch etwas davon zurück, indem ich Vorträge bei Vereinen und Organisationen halte, mich als Dozentin an der Universität Köln zur Verfügung stelle und zwei Schulen, in Darlingerode/Harz und Berlin-Buch, unterstütze, die meinen Namen tragen. Außerdem will ich mit der dritten Auflage meiner Biographie Menschen wachrütteln und ihnen zeigen, was alles möglich ist. Ferner arbeite ich an einer Broschüre mit dem Titel ‚Kuriositäten auf vier Rädern’. Allerdings werde ich auch weiter trainieren, der Gesundheit wegen, freudbetont, ohne festen Plan und ehrgeizige Ziele.

Sollte allerdings im nächsten Frühjahr mein Leistungsstand nicht schlechter sein als der vor zwölf Monaten, als ich nach einer Schulteroperation weit im Rückstand lag, werde ich mir überlegen, ob ich nicht doch zu den Weltmeisterschaften nach Indien fahre. Aber die Chancen stehen höchsten bei zehn Prozent. Ich muss mich ja nicht mehr beweisen.

Quelle: DOSB

 

author: GRR

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