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10
07
2023

Gina Lueckenkemper vom SCC Berlin - Foto: DLV/Theo Kiefer

Sprinterin Gina Lückenkemper: Start, Ziel, Couch – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Bei der deutschen Meisterschaft ist Gina Lückenkemper über 100 Meter wieder einmal nicht zu stoppen. Doch Deutschlands Sportlerin des Jahres will mehr. Ihr nächstes großes Ziel hat sie bereits vor Augen.

„Schlaf ist mein Hobby. Glücklicherweise ist er auch Teil meines Berufes.“ Gina Lückenkemper hat mehrere Talente. Humor und Neigung zu Kalauern gehören dazu. Die schnellste Frau Europas erleichtert mit ihrem schnellen Mundwerk so manchen Journalisten die Formulierung von Schlagzeilen.

Komplexe Sachverhalte verkürzt sie prägnant.

Als sie am Wochenende in Kassel, nachdem sie ihren fünften Einzeltitel bei der deutschen Meisterschaft gewonnen hatte, erzählte, dass sie in der Woche zuvor an einem Tag lediglich fünf Tiefstarts trainiert habe und dabei höchstens fünfzig Meter gelaufen, danach aber todmüde auf die Couch gefallen sei, erübrigten sich Ausführungen zur Intensität ihres Trainings.

Die Westfälin Lückenkemper, vor 26 Jahren in Hamm geboren und in Soest aufgewachsen, ist Weltbürgerin geworden. Ihren amerikanischen Trainer, dessen Camp in Florida ihre zweite Heimat geworden ist, wird sie nächste Woche auf dem Weg von Bamberg, wo sie lebt, zum Sportfest in Chorzów in Schlesien treffen. Die Generalprobe mit der Staffel, die sie im vergangenen Jahr zu Platz drei bei der Weltmeisterschaft von Eugene (Oregon) und zum Titel bei der Europameisterschaft von München trieb, wird in London stattfinden.

Dass die Veranstalter des Diamond-League-Sportfestes dort der Europameisterin keinen Startplatz im Einzelrennen anbieten, sagt womöglich mehr über deren Sorge um die britischen Läuferinnen als über ihren Respekt gegenüber der Deutschen. Vermutlich ist Gina Lückenkemper nicht die Einzige, die spürt, dass im Hinblick auf die Weltmeisterschaft im August in Budapest „ordentlich was in der Pipeline ist“. Zum ersten Mal in ihrer Karriere will sie dort in den Endlauf, und dazu wird sie vermutlich, wie bei der WM von London 2017 und bei der Europameisterschaft von Berlin 2018, elf Sekunden unterbieten müssen. Die 10,98, die sie vor wenigen Wochen in Dessau lief, gelten als nicht mehr als ein Stimmungsindikator: zu starker Rückenwind.

Gina Lückenkemper empfiehlt, die erst 17 Jahre alte Kollegin Chelsea Kadiri, die bei der deutschen Meisterschaft im Sprint ihre stärkste Herausforderin war, im August mit zur WM zu nehmen. Sie selbst reiste als Achtzehnjährige in dem Jahr, bevor sie ihren ersten deutschen Titel bei den Erwachsenen gewann, mit der Nationalmannschaft zur WM 2015 nach Peking.

„Das hat mir unfassbar gut getan damals“, sagt sie und meint den Schnupperkurs in der Welt der großen Leichtathletik, den Gewinn an Erfahrung zusätzlich zum offenkundigen Talent. „Und es hat mich total zerstört damals“, fügt sie an. „Ich hatte eine unheimlich lange Saison.“

Spätestens seit damals wissen alle, die mit Gina Lückenkemper zu tun haben: Nach der Arbeit muss sie auf die Couch.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 9. Juli 2023

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

 

author: GRR