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28
07
2016

2015 European Indoor Championships Prague, Czech Republic March 6-9, 2015 Photo: Giancarlo Colombo@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET

Sprinter Julian Reus – „Ich will wissen, wo meine Grenze ist“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Manche Athleten vergleichen ihre Körper mit Autos; dass sie etwa durch Training aus einem Käfer einen Porsche gemacht haben. Denken Sie auch so?

Ich würde eher einen Vergleich mit Sportwagen oder Formel 1 passend finden. Man dreht an ein, zwei Stellschrauben, und das kann dazu führen, dass das Fahrzeug anfälliger wird, dass es nicht mehr über die volle Distanz hält. Das Auto wird besser oder schlechter. Ich habe nicht das Gefühl, dass man vom Fiat Punto zum Lamborghini aufsteigt. Aber die Arbeit an einer Hochleistungs-Maschine ist vergleichbar mit den kleinen Veränderungen, die in der Summe große Wirkung haben können.


Sie drehen mal an dieser, mal an jeder Schraube?

Man weiß nicht genau, was passiert. In der Formel 1 geben sie ein paar Millionen aus und stellen sich ein neues Auto hin, wenn das alte in die Leitplanke gekracht ist. Bei mir ist dann im Zweifel die Saison vorbei. Deswegen ist man ein bisschen vorsichtiger, wenn man an den Stellschrauben dreht.

Haben Sie deshalb in Regensburg auf den Endlauf und in Zeulenroda auf den Vorlauf verzichtet? Schließlich sind Sie da 10,05 Sekunden gelaufen und dort 10,03, deutschen Rekord.

Das war so geplant, weil ich auch die 200 Meter noch laufen wollte. Es ging darum, mich mit einer guten Zeit unter den Top 12 in Europa zu plazieren, damit ich bei der Europameisterschaft gesetzt bin und den Vorlauf am Mittwoch nicht laufen muss. Ich brauche auch über 200 Meter Praxis und Rennkompetenz. 200 plus 100 plus Staffel, das wäre zu viel an Umfang und an Geschwindigkeit gewesen.

Das Verletzungsrisiko wächst mit der Erschöpfung?

Gerade wenn man in der Woche danach den Trainingsprozess angeht. Die Erfahrung zeigt, dass vier Rennen an einem Tag eines zu viel sind.

Mit dem Team ist in Rio auch eine Staffel-Medaille drin

Wenn man so einen Hochleistungskörper hat: Würden Sie nicht gern öfter mal den Motor aufheulen lassen auf der Bahn?

Meiner Meinung nach lebt Sprinten ganz stark von der Emotionalität. Wenn man drei, vier Wettkämpfe auf höchstem Niveau hat innerhalb von zwei Wochen, wird es schwer, sich so auf die Läufe zu fokussieren, wie man das für eine gute Leistung sollte. Wenn man nicht zu hundert Prozent dabei ist, rennt man nicht 10,10 oder 10,15, sondern 10,25 Sekunden. Man kann sich nicht, wie in den technischen Disziplinen mit sechs Versuchen, in den Wettbewerb reinsteigern, sondern es muss von Anfang an alles zu hundert Prozent stimmen. Deshalb muss man zwischen den Wettkämpfen Luft ranlassen.

Sie sind am Limit?

Ich könnte mehr Wettkämpfe machen. Aber dann würde die mentale Erschöpfung zunehmen und die Leistung leiden. Darum dosiere ich meine Starts. In Rio muss die Emotionalität stimmen.

Bei der Europameisterschaft sind Sie in den Halbfinals über 100 und über 200 Meter ausgeschieden. Brauchen Sie die Pause auch, um innerlich Abstand zu gewinnen?

Das muss man differenziert sehen. Leistung und Rennen über 200 Meter waren eine Katastrophe. Wir glauben, dass das trainingsmethodische Gründe hat.

Sie haben die falsche Schraube angezogen?

Eher an der richtigen zu viel gedreht. Weil ich so fit war und mich so wohl gefühlt habe, seit der deutschen Meisterschaft und über Zeulenroda, dass ich im Training fast jeden Lauf auf einem sehr, sehr hohen Niveau bestritten habe. Ich bin bei der EM eine gute Kurve gelaufen, auf der Zielgeraden hatte ich keine Power mehr, gegenzuhalten.

Und die 100 Meter?

Das hört sich jetzt komisch an, aber ich kann mir, was die Leistung über 100 Meter angeht, nichts vorwerfen. Ich gehe mit drei Tausendstel raus gegen den Spanier, der zwei Wochen vorher wie ich 10,03 gelaufen ist, der im Finale Vierter wird und über 200 Meter Europameister.

Churandy Martina ist disqualifiziert worden, und Bruno Hortelano war der Sieger.

Da sieht man, wie schnell es gehen kann. Wir hatten den schlechteren der drei Zwischenläufe, mit Gegen- statt Rückenwind. Wir hatten ein Fotofinish. Wenn ich im ersten Lauf gewesen wäre, hätte ich auch ausscheiden können. Aber ich wäre deutlich schneller gelaufen. Ich hatte vier Rennen in Amsterdam. Eins war schlecht. Drei waren gut. Ich brauche keinen inneren Abstand.

Stimmt nicht, was die Alten sagen, dass die Sprinter früher öfter gelaufen und deshalb besser gewesen seien?

Kann ich nicht sagen, ich bin ein Sportler von heute. In einem Buch, das ich gerade gelesen habe, ging es um die Generation Carl Lewis und Ben Johnson. Die sind auch nicht ständig unter zehn Sekunden gelaufen. Natürlich könnte ich jede Woche laufen. Aber nach dem fünften Lauf genüge ich meinen Ansprüchen nicht mehr, weil ich keine Zeit zum Trainieren hatte, weil die körperliche und die geistige Frische fehlt.

Wie oft starten Sie?

Ich komme über den Sommer auf acht bis zehn Wettkämpfe. Bei den Olympischen Spielen und der EM dauern sie vier, fünf Tage. Das ist eine Vielzahl von Rennen. Ich glaube, was die Anzahl angeht, dass das System stimmt.

Gehört ein Formel-1-Körper nicht auf die großen Pisten von Rom und London, New York und Schanghai?

Ich laufe sehr, sehr gern in Deutschland. Ich empfinde es auch als Pflicht, dass ich, wenn ich kann, in Regensburg, in Dessau, in Zeulenroda starte, in der Halle in Düsseldorf, beim Hallen-Istaf in Berlin oder in Chemnitz. Man hat seine Fans, und es gibt Leichtathletik-Interessierte in Deutschland.

Sie würden nicht lieber in der Diamond League starten?

Da kommt man nur rein, wenn man unter zehn Sekunden läuft oder stabil zehn-null. Oder man startet im B-Lauf.
 
Würde es Ihnen helfen, solche Rennen zu bestreiten?

Ich kann mir vorstellen, dass es mir Sicherheit geben würde, wenn ich bei der WM oder bei den Olympischen Spielen wüsste, dass ich mich mit der internationalen Konkurrenz schon ein paar Mal gemessen habe. Weil das aber nicht so ist, muss ich mich anders vorbereiten. Ich arbeite mit einer Psychologin zusammen.

 Imaginieren Sie, dass Ihre Gegner schwarz und Neun-Sekunden-Läufer aus der Karibik sind?

Nein. Wir wollen vermeiden, dass ich unvorbereitet auf Situationen treffe, dass ich mich von Kleinigkeiten verunsichern lasse. Wenn ich etwa sehr früh morgens aufwache, macht mich das bei deutschen Meisterschaften nicht nervös. Ich weiß, dass ich über Vorlauf und Zwischenlauf in den Wettkampf kommen werde. Damit mich so etwas in Rio nicht in eine kritische Gefühlslage bringt, muss man Maßnahmen ergreifen. Das lerne ich.

Bewegt es Sie, wenn Sie mit Usain Bolt, dem schnellsten Mann der Welt, auf der Bahn stehen?

Nein. Bei der WM in Peking waren wir über 100 und über 200 Meter im selben Lauf. Aber ich trainiere nicht dafür, mal mit Usain Bolt in einem Lauf zu sein, sondern dafür, einmal vollkommen zufrieden zu sein mit einem Rennen, das zu leisten, wofür ich trainiere. Dafür quäle ich mich jeden Tag, dafür bestreite ich Wettkämpfe: um dieses Rennen zu erleben, bei dem ich mit allem zufrieden bin. Oder zumindest dem nahe komme.

Ist das nicht bei all Ihren Siegen so?

Ich muss dazu nicht unbedingt gewinnen. Wenn ich weiß, heute habe ich keinen Fehler gemacht, bin ich zufrieden. Das ist eine hohe Kunst, auch auf den 100 Metern, keine Fehler zu machen. Jeder noch so kleine Fehler kostet Hundertstel.

Waren die 10,03 Sekunden von Zeulenroda perfekt?

Der Lauf war schon sehr ordentlich. Über das bisschen Wind will ich nicht meckern; die Bedingungen waren sehr gut. Ich war sehr nah dran an dem, was machbar ist. Ich bin überzeugt, dass es noch schneller geht. Wenn ich weiter gut arbeite, ist dieses Quentchen auch noch drin. Wenn ich schon eine Handvoll perfekter Rennen gehabt hätte, ich weiß nicht, ob ich mich noch motivieren könnte.

Bedeutet beste Zeit bestes Rennen?

Nicht unbedingt. Die 10,03 waren sehr gut. Aber als ich Anfang der Saison 10,07 gelaufen bin, war ich gar nicht so zufrieden. Ich wusste, dass ich noch nie zu einem so frühen Zeitpunkt so schnell gewesen war. Die Herausforderung bestand darin, acht Wochen später die 10,05 zu erreichen, die ich 2015 vorgelegt hatte. Man muss die Leistung reproduzieren können, das ist immer wieder eine Herausforderung. Ich will irgendwann sagen können, dass ich dieses eine, vielleicht auch zwei, drei perfekte Rennen gemacht habe.

Welche waren Ihre besten Rennen?

Neben dem von Zeulenroda waren das nach meinem Gefühl der Endlauf der deutschen Meisterschaft 2015 und der Vorlauf bei der WM von Peking, ebenfalls im vergangenen Jahr. Da bin ich, ich sag mal: nur, 10,12 und 10,15 Sekunden gelaufen. Aber man muss die äußeren Bedingungen sehen, da war es bei dem einen Rennen kälter, bei dem anderen war die Vorbereitung nicht so gut. Aber beide Rennen waren besser als das, bei dem ich 10,05 gelaufen bin. Man ist nicht unbedingt immer schneller, wenn man besser läuft. Der Wind spielt eine Rolle, die Bahn. Ich hoffe natürlich, dass ich einmal, wenn alle Umstände perfekt sind, das beste Rennen meines Lebens laufen werde. Ich will wissen, wo meine Grenze ist, ich will zeigen, was möglich ist.

Sie wollen die zehn Sekunden unterbieten, oder?

Das ist kein Ziel meiner Karriere. Ich will meine sportliche Karriere nicht danach bewerten, ob ich unter zehn Sekunden gelaufen bin oder nicht. Der Sport ist viel mehr, als dass man ihn an einer Zahl festmachen könnte.

Das ist ja geradezu demütig, den ganzen Tag Sprint zu trainieren und zu sagen: Das Ergebnis hängt nicht von mir ab.

In der Halle ist es einfacher. Äußere Umstände spielen eine geringere Rolle. Es gibt keinen Zeitdruck, denn die Saison ist nur vier Wochen lang. Da habe ich mit zweimal 6,53 über 60 Meter den deutschen Rekord eingestellt und ihn dann auf 6,52 Sekunden verbessert. Draußen hätte mir passieren können, dass es einmal regnet, einmal ist es eisekalt, und beim dritten Mal habe ich Gegenwind.

Damit muss man sich abfinden?

Damit müssen sich auch die ganz großen Sprinter abfinden. Bolt ist schon 9,58 gelaufen, und es gibt Wettkämpfe, da läuft er 9,9 oder sogar über zehn Sekunden. Das sind Schwankungen von drei, vier Zehntel. Bei mir ergibt so eine Schwankung dann 10,35. Man kann nicht immer Top-Leistung bringen. Deswegen ist es so schwierig zu sagen: Mein Lebensziel ist es, unter zehn Sekunden zu laufen. Man weiß nicht, ob es den Tag gibt, an dem das gelingen kann. Aber ich weiß, dass es machbar ist. Man muss abwarten. Und zuschlagen, wenn der Tag kommt.


Bolt ist unzweifelhaft der Schnellste. Ist er auch der Beste?

Wenn jemand der Schnellste ist und sechs- oder fünffacher Olympiasieger . . .

… eine Staffel-Goldmedaille dürfte durch den Doping-Fall Nesta Carter weg sein …

Wenn man sich seine Erfolge anschaut, die Rekorde, die er hält, dann ist er nicht nur der Schnellste, sondern eindeutig der Beste. Situationen, in denen es drauf ankommt, wie 2015 bei der WM den Vergleich mit Justin Gatlin, meistert er.

Glauben Sie ihm seine Leistung? Ist er sauber?


Ich vermeide hypothetisches Denken. Er ist seit Jahren der Schnellste und hat keinen einzigen positiven Doping-Test. Im Gegensatz zum Rest der Welt-Elite hat er keine Doping-Geschichte. Als Einziger der Top Ten.

Die deutschen Sprinter haben die größte Medaillenchance im Team. Ist Staffel die Steigerung des Sprints?

Es ist ein Gesamtwerk, das man in der Staffel vollbringt. Und es ist ein schöneres Gefühl, seine Freude zu teilen. Als Einzelsportler teilt man sein Glück sonst nur mit dem Trainer oder mit der Familie.


Ist Platz drei von Amsterdam ein Trost für die verpassten Finals?

Ich glaube nicht, dass ich Trost brauchte. Aber es ist schön, eine Medaille zu gewinnen. Wir haben gemerkt, dass wir auch unter schwierigen Windbedingungen das Ding bis ins Ziel tragen können. Und dass wir noch Potential haben. Das ist beides gut im Hinblick auf Rio.

Erlauben Sie sich darüber nachzudenken, ob andere dopen oder nicht?

Wir spekulieren nicht darüber. Aber es würde unsere Leistung auch nicht negativ beeinflussen. Es ist Fakt, dass die Amerikaner bei der WM in Peking mit drei Mann die Staffel bestritten, die schon wegen Dopings gesperrt waren: Mike Rodgers, Tyson Gay und Justin Gatlin. Toll finden wir das nicht. Ähnlich war es 2008 bei den Spielen von Peking. Ein Nachtest von Nesta Carter war jetzt positiv. Er gehörte auch bei Olympia 2012 und der WM 2013 und 2015 zur jamaikanischen Staffel. Bei diesen beiden Weltmeisterschaften sind wir jeweils Vierte geworden. Da sagt man dann schon: Scheiße.

Sind Ihnen die beiden Bronzemedaillen gestohlen worden?

Für Moskau 2013 und Peking 2015 liegen keine positiven Tests vor. Aber wenn jemand 2008 betrogen hat und das 2016 festgestellt wird, warum hätte der in der Zwischenzeit damit aufhören sollen? Es wäre logisch, nun alle Proben von Nesta Carter in den Jahren danach zu analysieren. Warum soll er da nicht betrogen haben? Er war ja durchgekommen damit. Aber wenn wir uns darüber ernsthaft Gedanken machen, wird’s kritisch.

Sie verdrängen das?

Wir nehmen es zur Kenntnis. Aber dafür quäle ich mich und sprinte ich viel zu gerne, um mich von solchen Nachrichten unterkriegen zu lassen. Dafür ist meine, ist unsere Leidenschaft viel zu groß, als dass wir den Kopf in den Sand stecken.

Wie erleben Sie das Ansehen der Leichtathletik nach den Korruptions- und Doping-Skandalen der jüngsten Zeit?


Ich selbst bin keinerlei Verdächtigungen ausgesetzt. Über das, was international passiert, mache ich mir Gedanken, ordne sie für mich ein und bewerte sie. Ich möchte meinen Sport bestmöglich repräsentieren. Ich habe den Eindruck, dass die Leichtathletik hier in Deutschland in den vergangenen Jahren an Ansehen gewonnen hat. Außer dass ich mal bei einer WM starte oder bei Olympia, habe ich mit der internationalen Leichtathletik quasi nichts zu tun.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dem 28. Juli 2016 

author: GRR

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