Der reflektierte Student: “Ob ich das will oder nicht, ich bin der erste weiße Athlet, der die zehn Sekunden unterbietet“
Sprinter Christophe Lemaitre – Weiß, schwarz? Schnell! Von Michael Reinsch, Barcelona, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Auf Christophe Lemaitre lasten hohe Erwartungen, seit er als erster weißer Athlet die 100 Meter unter zehn Sekunden sprintete. Doch der reflektierte Student lehnt die Farbendiskussion ab. Nun will der Franzose Europameister werden.
Das muss der Usain Bolt Europas sein, nur dass der jamaikanische Bolt nicht so schnell lief, als er im gleichen Alter war. Christophe Lemaitre müsste eigentlich knietief einsinken auf seinem Weg zu den Vorläufen im Sprint der Europameisterschaft, die an diesem Dienstag in Barcelona beginnt, so viele und so hohe Erwartungen lasten auf ihm. Gerade zwanzig Jahre alt, hat der schlaksige Sprinter, als er bei den französischen Meisterschaften in 9,98 Sekunden gewann, alle fünftausend Zuschauer im Stadion von Valence von den Sitzen gerissen und ein Beben in der Welt der Leichtathletik ausgelöst.
Er ist der erste Weiße, der die hundert Meter in weniger als zehn Sekunden sprintet – unter der magischen Marke also, die Armin Hary vor fünfzig Jahren als erster Läufer erreichte, die Schallgrenze des Sprints, die seit Einführung der elektronischen Zeitmessung 71 Sprinter durchbrachen. Jeder von ihnen, von Jim Hines, der bei den Olympischen Spielen in Mexiko 1968 9,95 Sekunden lief, bis zu Usain Bolt mit seinem unglaublichen Weltrekord von 9,58 Sekunden aus dem vergangenen Jahr, hat dunkle Haut.
Er empfindet die Diskussion über Weiß und Schwarz als belastend – Auf einer Höhe mit Usain Bolt: Christophe Lemaitre
„Ob ich das will oder nicht, ich bin der erste weiße Athlet, der die zehn Sekunden unterbietet“, sagte der erstaunlich ruhige und erfreulich reflektierte Student Lemaitre nach dem bisher schnellsten Lauf seines Lebens. „Offensichtlich gehe ich damit in die Geschichte ein. Ich glaube, dass man hier auf ein mächtiges Tabu der Leichtathletik prallt. Aber ich habe diese überflüssige Dimension der Hautfarbe immer abgelehnt. Solche Überlegungen überlasse ich den Medien.“ Da spricht der Vertreter einer Generation, für die es selbstverständlich ist, dass Nationalität nicht von der Farbe der Haut abhängt; ein junger Mann, der in Savoyen nahe der Schweizer Grenze aufgewachsen ist, seit fünf Jahren in Aix le Bains trainiert, Elektrotechnik studiert und unter seinen Klassenkameraden und Freunden nicht wenige Franzosen hat, deren Eltern aus einer einstigen Kolonie stammen.
Er empfinde die Diskussion über Weiß und Schwarz als belastend, machte Lemaitre noch am Tag seines französischen Rekordlaufs deutlich. Die Leichtathletik sei eine weltweite Sportart, in der es nicht auf die Hautfarbe, sondern vor allem auf die Lust, die Bissigkeit und das Training ankomme. Dann ging er schlafen und gewann am nächsten Tag auch noch die 200 Meter in 20,16 Sekunden. Der Mann ist in Fahrt: Fünf Mal hat er in diesem Jahr bereits persönliche Bestmarken erreicht, ist vier Mal französischen U-23-Rekord gelaufen und nun zwei französische Rekorde bei den Senioren.
Es ist schwierig, rassistische Untertöne zu vermeiden
Lemaitre ist eine Ausnahme. Die überwiegende Mehrzahl der schnellsten Sprinter der Welt hat erkennbar afrikanische Wurzeln. Einzige Ausnahme, neben Lemaitre, ist der Australier Patrick Johnson. Er lief vor sieben Jahren 9,93 Sekunden und hat einen irischen Vater und eine indigene australische Mutter. Sicher sind auch der Japaner Koji Ito und der Pole Marian Woronin Ausnahmen, die beide 10,0 Sekunden erreichten. Doch ist nicht jeder, der hundert Meter in weniger als zehn Sekunden rennt, eine Ausnahme? Und sollte es allein an der aus Westafrika stammenden körperlichen Veranlagung liegen, dass sich die Zahl der Ausnahmesprinter in Jamaika verdichtet? Warum gehen keine Olympiasiege und Weltmeisterschaften im Sprint nach Westafrika?
Es ist schwierig, rassistische Untertöne in einer Diskussion zu vermeiden, die auf Äußerlichkeiten basiert. Immer noch klingt die Nazi-Propaganda nach, die 1936 dem vierfachen Olympiasieger Jesse Owens die unverbildete Natürlichkeit seiner Bewegungen unterstellte, die Kraft des Wilden. Heute bietet das zu erwartende Duell Lemaitres mit Dwain Chambers, dem britischen Hallen-Weltmeister jamaikanischer und damit auch afrikanischer Herkunft, Potential für Projektionen.
„Die zehn Sekunden sind nur ein Schritt, kein Ziel an sich“
Die beiden führen – der eine mit seinen 9,98 Sekunden, der andere mit 9,99 – die europäische Bestenliste an. Der 32 Jahre alte Chambers ist ein muskulöser Athlet, neben dem Lemaitre trotz seiner 1,90 Meter Körpergröße wie ein schmächtiger Junge wirkt. Chambers war tief in den Balco-Dopingskandal verstrickt, er verlor Titel und Prämien, wurde für zwei Jahre gesperrt und darf weder bei den großen Sportfesten noch bei den Olympischen Spielen antreten. Lemaitre steht auch für die Sehnsucht, dass es im Sprint ohne Doping gehen könnte.
“Ich habe diese überflüssige Dimension der Hautfarbe immer abgelehnt“
Lemaitre will sich diese Gedanken nicht machen. Er konzentriert sich auf die Arbeit. „Die zehn Sekunden sind nur ein Schritt, kein Ziel an sich“, sagt er und kritisiert bereitwillig die technische Seite seines Rekordlaufes: den Start und die zu langen Schritte am Schluss. Er will sich in Barcelona auf 9,95 Sekunden verbessern, sein Trainer Pierre Carraz hält in diesem Jahr sogar 9,92 für möglich. Über 200 Meter soll er die 20 Sekunden unterbieten. Bolt lief 2007, als er zwanzig war, praktisch nie 100 Meter. Überliefert ist eine Bestzeit von 10,03 Sekunden.
Über 200 Meter kam er allerdings schon auf 19,75 – Ausnahmeathlet Bolt. Doch es ist mehr als Veranlagung, was Sprinter schnell macht. „Mit zwanzig Jahren“, sagt Lemaitre und wählt ein lustiges Wort, „bin ich noch perfektierbar.“
Michael Reinsch, Barcelona, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Mittwoch, dem 28. Juli 2010