19,91 Sekunden über 200 Meter - eigentlich dürfte damit klar sein, auf welcher Strecke der französische Sprinter Christophe Lemaitre in London starten wird. Doch er zögert noch. ©EAA - European Athletics
Sprinter Christophe Lemaitre – Nur im Herzen verrückt – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
16.07.2012 – Christophe Lemaitre ist schnell, endlich. Beim Diamond-League- Meeting in London gewann er am Samstag die 200 Meter in 19,91 Sekunden, vier Hundertstelsekunden vor dem niederländischen Europameister Churandy Martina. Das Ergebnis von Crystal Palace macht den Franzosen zum drittschnellsten Sprinter des Jahres auf dieser Strecke und damit zum Medaillen- kandidaten für die Olympischen Spiele in London.
Die 200 Meter sind schließlich seine Paradedistanz; über diese Strecke wurde er Junioren-Weltmeister, über 200 Meter gewann er die Bronzemedaille bei den Weltmeisterschaften. Im halb so langen Sprint hat der seit einer Woche 22 Jahre alte Renner in diesem Jahr noch kein einziges Mal die zehn Sekunden unterboten. Als er im Juni in Angers die französische Meisterschaft in 9,94 Sekunden gewann, blies der Rückenwind zu stark; die Zeit gilt nicht. Dabei hatte der Franzose die Welt im vergangenen Sommer mit 9,92 Sekunden erstaunt. Seitdem hat er ein paar Kilo Muskelmasse zugelegt.
Unbeeindruckter Lehrer
Christoph Lemaitre hat einen mutigen Trainer. 17 Sprinter haben in diesem Jahr schon zehn Sekunden unterboten, sechs von ihnen waren schneller als Lemaitre im vergangenen Jahr: Weltmeister Yohan Blake in 9,75, Olympiasieger Usain Bolt in 9,76, Olympiasieger Justin Gatlin in 9,80, der einstige Weltrekordhalter Asafa Powell in 9,85, sowie Keston Bledman aus Trinidad und der frühere Weltmeister Tyson Gay in 9,86 Sekunden.
Dennoch denkt Pierre Carraz, der Lemaitre vor wenigen Jahren entdeckt hat und seitdem in ihrer beider Heimatort Aix les Bains betreut, nicht daran, jetzt schon die kurze Gerade aus dem Programm seines Athleten zu streichen. Das dichte Programm der Spiele, die Überlegenheit von Jamaikanern und Amerikanern beeindrucken den ehemaligen Lehrer nicht. „Wir werden bis zum letzten Moment warten“, kündigt Carraz an, und seine Erklärung ist so frappierend wie überzeugend. Die Spitzengruppe könnte sich ja noch lichten, durch Verletzungen oder durch Doping-Fälle.
Das Herz hängt am Sprint
In London zog, wie im Jahr zuvor, Altmeister Powell im allerletzten Moment zurück und berief sich auf Leistenbeschwerden. Auch bei der Weltmeisterschaft 2011 in Daegu fehlte er, zudem gab es plötzlich die Dopingfälle Mullings und Rodgers. Das Feld hatte sich gelichtet, und Lemaitre wurde in 10,19 Sekunden Vierter über 100 Meter, gewann hinter Bolt und Walter Dix Bronze über 200 Meter in 19,80 Sekunden – nur acht Hundertstelsekunden über dem Europarekord des Italieners Pietro Mennea – und holte mit der französischen Staffel geradezu sensationell die Silbermedaille hinter dem Weltrekord-Team der Jamaikaner.
Der schnellste Mann Europas: Bei der EM in Helsinki war Lemaitre seiner Konkurrenz voraus
Außerdem hängt das Herz von Lemaitre am Sprint über 100 Meter. „Die Freude, der Ruhm“ amüsierte sich sein Trainer zwar über das Gewicht, das dem Geradeauslauf zugemessen wird, arbeitet er doch mit seinem Athleten ganz besonders an der Kurventechnik, die ihn über 200 Meter nach vorn bringt. „Wenn man eine Medaille über 200 Meter will, muss man richtig stark sein. Man wird 19,80 laufen müssen, vielleicht sogar schneller“, sagt der Coach. „Ich weiß nicht, ob er das schafft, wenn er beide Strecken läuft.“ So zufrieden er mit dem Ergebnis von London ist, warnt er doch: „Christoph wird schneller werden müssen, das ist sicher.“
Kein Doppelstart
Lemaitre teilt des Trainers Strategie. Nachdem er beim Meeting in Paris Dritter hinter dem Amerikaner Gay in 10,08 Sekunden geworden war, gab er sich wie ein Alter. „Ich bin noch keine Zeit unter Zehn gelaufen in dieser Saison, aber das stört mich nicht. Die Zeiten werden schon noch besser werden“, sagte er. „Und selbst wenn ich es nicht schaffen sollte, unter Zehn zu laufen, ist das nichts Ernstes. Das Ziel in diesem Jahr ist es, eine Medaille von den Olympischen Spielen nach Hause zu bringen, nicht, sich auf die Bestzeit zu konzentrieren.“
Ist meist schneller und hat trotzdem Respekt vor Lemaitre: Der amerikanische Sprinter Tyson Gay
Die 100 Meter, daraus macht Lemaitre kein Geheimnis, sind seine Lieblingsstrecke, seit er die Leichtathletik entdeckt hat. „Es ist das Star-Event“, sagt er. „Zugleich ist mein Ziel eine Medaille. Deshalb werde ich die Strecke wählen, auf der ich die größten Chancen habe, dieses Ziel zu erreichen. Um ehrlich zu sein: Es ist mir vollkommen egal, ob es das Star-Event ist oder nicht.“ Einen Doppelstart schließt er weitgehend aus. „Ich muss mich erst in letzter Minute entscheiden. Aber ich glaube nicht, dass ich auf beiden Strecken starte.“
Lemaitre wird es freuen, dass sein Trainer nun drei Wochen intensiven Trainings in Aix anberaumt hat. Der Sprinter reist nicht gern. Widerwillig ging er im Januar mit Carraz nach Portugal ins Trainingslager, erleichtert kehrte er nach Savoyen zurück. Womöglich ist das auch damit zu erklären, dass ihm, wie er einräumt, über 100 Meter noch das gewisse Etwas fehlt: Es regnete und es war kalt wie in Deutschland auch.
Tyson Gay lässt sich von Zeiten und Zahlen nicht beeindrucken. Für ihn ist Lemaitre ein Medaillenkandidat auch über 100 Meter. „Er ist im Herzen verrückt“, lobt er. „Das sieht man mit dem bloßen Auge: Wenn er auf der Bahn ist, zählt für ihn nichts anderes. Und wenn man das bei einem Konkurrenten sieht, weiß man, dass man sich hüten muss.“
Michael Reinsch im Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 16. Juli 2012
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