„Ich mag keine Muskelspiele“, sagt Gay. Ja, sieht man. „Ich bin vermutlich jemand, den Sie als langweilig bezeichnen würden.“ Oh ja, ganz sicher.
Sprint-Duell – Der schnelle Langweiler – Titelverteidiger Tyson Gay will bei der WM über 100 Meter den großen Favoriten Usain Bolt besiegen und gibt sich selbst als Anti-Star. Frank Bachner im Tagesspiegel
Berlin – Die ganze Wand hinter Tyson Gay haben sie mit Logos zugepflastert. Wahrscheinlich bloß eine Sicherheitsmaßnahme. Damit wirklich jeder weiß, dass hier ein Sponsoren-Termin und keine Schulstunde stattfindet. Das hätte natürlich Gay selbst klarstellen müssen, er hätte sich cool inszenieren können.
So ist das üblich bei Weltklasse-Sprintern. Aber Tyson Gay, dreimaliger Weltmeister von 2007, härtester Konkurrent von Weltrekordler Usain Bolt im 100-Meter-Finale, wirkte auf seinem Pult wie ein unkomplizierter Lehrer, der mit seinen Schülern diskutiert.
„Ich mag keine Muskelspiele“, sagt Gay. Ja, sieht man. „Ich bin vermutlich jemand, den Sie als langweilig bezeichnen würden.“ Oh ja, ganz sicher.
Bestimmt gefällt ihm das. Bestimmt redet er deshalb so leise. Damit ein paar seiner Sätze möglichst untergehen, die spektakulären Sätze, die ein Showman mit diesem typischen lässigen Grinsen hinwerfen würde. „Ich will Weltrekord laufen“, nuschelt Gay. Und: „Jede Zeit zwischen 9,60 und 9,69 Sekunden wäre für mich absolut zufriedenstellend.“ – „9,90 Sekunden wären ungenügend.“ – „Wenn man zum Sieg einen Weltrekord braucht, dann laufe ich eben Weltrekord.“ Der Weltrekord des Jamaikaners Bolt steht bei 9,69 Sekunden. Gay hält die Weltjahresbestzeit, 9,77 Sekunden. Am Sonntagabend kommt es zum großen Duell. Gay ist der Titelverteidiger.
Aber einer, der aus der Norm fällt. Die meisten Topsprinter produzieren sich im Rampenlicht wie Gorillamännchen bei der gruppeninternen Machtdemonstration.
Die Langweiler-Nummer könnte natürlich ebenfalls eine inszenierte Rolle von Tyson Gay aus Lexington, Kentucky sein. Mal was Neues. Es spricht nur wenig dafür. Gay, dafür spricht viel mehr, ist einfach ein eher bescheidener Typ. So dopingverdächtig wie seine Konkurrenten, aber nicht so affig. Ein Journalist hatte vor ein paar Wochen in Rom beim Golden-League-Meeting beobachtet, dass Gay im Bus ungefragt und höflich einer Frau seinen Platz anbot. Und als er im Mai in New York eine Pressekonferenz geben sollte, blieb er im Hotel an einem Wachmann hängen, der ihn erst mal fragte, wer er denn überhaupt sei. Gay klärte ihn höflich auf.
Der 27-Jährige redet öffentlich auch nicht schlecht über den Weltrekordler Bolt. „Klar stehe ich seinem Schatten“, sagte er in einem Interview. Aber einer wie Bolt sorgt für Aufmerksamkeit, das steigert auch den Marktwert von Tyson Gay, und das weiß der US-Star durchaus zu schätzen. Er lebt inzwischen in Florida, aber manchmal erwähnt er, dass er „ein Landei aus Lexington“ sei. Aber ein Landei, das auch einen Uni-Abschluss in Marketing hat.
Bei den Olympischen Spielen 2008 schaute NBA-Basketballstar Kobe Bryant bei den US-Leichtathleten vorbei und erkundigte sich, ob Gays Oberschenkelverletzung gut verheilt sei. Da musste sich der Sprinter gefühlt haben wie ein Dorfpfarrer, bei dem der Papst aufgetaucht war. Sofort schickte Gay eine SMS an seine Mutter Daisy. „Die fand das auch irre“, verkündete Gay später.
Jetzt, bei diesem PR-Termin in einem Berliner Hotel, erklärte er mit leichtem Lächeln, dass er den besseren Start als sein Gegner Bolt habe. Das war der stärkste Unterschied zu dem Jamaikaner, den er an diesem Tag registrierte. „Wir sind hier nicht beim Schwergewichtsboxen“, sagte er lieber.
Ihm genügt eine subtilere Form der Machtdemonstration. „Ich bin“, sagt der Weltmeister, „in der besten Form, die ich jemals hatte.“
Frank Bachner im Tagesspiegel, Freitag, dem 14. August 2009