„Sportler im Jahrhundert der Lager“ – Biografien im Tagungsbericht - Wem die sportliche Heimat nutzte … und wer sie verlassen musste - Diethelm Blecking/Lorenz Peiffer (Hrsg.) im Verlag Die Werkstatt - Prof. Dr. Detlef Kuhlmann ©Verlag Die Werkstatt
„Sportler im Jahrhundert der Lager“ – Biografien im Tagungsbericht – Wem die sportliche Heimat nutzte … und wer sie verlassen musste – Diethelm Blecking/Lorenz Peiffer (Hrsg.) im Verlag Die Werkstatt – Prof. Dr. Detlef Kuhlmann
Der Sport gilt gemeinhin als Motor und Produkt gesellschaftlicher Modernisierung. Dabei darf jedoch nicht ausgeblendet werden, dass der Sport auch immerzu eingebunden ist in politische Systeme. Der jetzt erschienene Sammelband widmet sich vor diesem Hintergrund den Biografien von Sportlerinnen und Sportlern, Funktionären und Trainern, die als „Profiteure, Widerständler und Opfer“ (Untertitel) mit dem Kapital des Sports entweder als „Täter“ Karriere machen konnten, als „Widerständler“ standhaft bleiben oder als „Opfer“ zu überleben versuchten.
Die Redeweise von dem „Jahrhundert der Lager“ geht zurück auf den polnisch-britischen Soziologen und Philosophen Zygmunt Bauman. Er verweist damit auf das diktatorische bzw. rassistisch-nationalsozialistische System von Ausgrenzung und Vernichtung.
Der „dicke“ Band geht zurück auf die internationale Tagung „Sport im ‚Jahrhundert der Lager’“, die im November vergangenen Jahres im Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin stattfand und bei der neben der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz auch die Friedrich-Ebert-Stiftung sowie die Universität Bremen zusammen mit dem Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften als Partner mitwirkten.
Der von den beiden Sportwissenschaftlern und Historikern Prof. Diethelm Blecking (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) und Prof. Lorenz Peiffer (Leibniz Universität Hannover) herausgegebene Band enthält die Vorträge dieser wissenschaftlichen Tagung sowie einige zusätzlich eingeworbene Artikel. Das Buch entstand mit Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz.
In den 47 Beiträgen werden die Karrieren und Schicksale von Männern und Frauen fakten- und facettenreich nachgezeichnet, die zwar einerseits im Sport „ihre Heimat“ gefunden hatten, die aber andererseits in das jeweilige Herrschaftssystem eingebettet waren. Dadurch erhält der Heimatbegriff in Zusammenhang mit dem Sport mehrere, nämlich hier insgesamt fünf unterschiedliche Gesichter, wie man an der Gliederung des Sammelbands deutlich aufzeigen kann:
Da gibt es zunächst diejenigen, die in ihrer Heimat neben dem Sport auch politisch „Karrieren“ (Teil 1) machen konnten. Da gibt es aber auch die anderen, die zur „Flucht“ (Teil 2) aus ihrer (nicht nur sportlichen) Heimat genötigt wurden. Da gibt es diejenigen, die in oder wegen ihrer Heimat „Widerstand“ (Teil 3) geleistet haben. Da gibt es ferner diejenigen, denen als „Opfer“ (Teil 4) in ihrer Heimat Leid zugefügt wurde. Und da gibt es schließlich diejenigen, die mit dem „Überleben“ in ihrer Heimat zu kämpfen hatten.
Im ersten Teil mit zwölf ausgewählten „Karrieren“ wird u. a. die von Karl Ritter von Halt („Eine Karriere zwischen IOC und Freundeskreis der SS“) ebenso nachgezeichnet wie die des früheren DFB-Präsidenten Felix Linnemann, der seine Verstrickungen mit den Nazi-Regime genauso zu leugnen versuchte wie der erfolgreichste deutsche Leichtathlet bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin: Gerhard Stöck (SC Charlottenburg) war Olympiasieger im Speerwerfen und Bronzemedaillengewinner im Kugelstoßen und arbeitete zeitweilig als Sportreferent im Reichsministerium.
Er war anschließend 1956 und 1960 Chef de Mission der gesamtdeutschen Olympiamannschaft und von 1950 bis 1975 Sportamtsleiter in Hamburg. Ab dem Jahre 1986 wurde sogar ein nach ihm benannter Preis an verdiente Sportler und Vereine in Hamburg vergeben. Als Flecken in seiner Biografie auftauchten, hat man die Ehrung stillschweigend eingestellt – wie die beiden Autoren Paul und Peter Busse in ihrem Bericht referieren.
Das Kapitel enthält weitere interessante Beiträge u.a. über den mächtigsten DDR-Sportführer Manfred Ewald, das Schalker Fußball-Idol Fritz Szepan und den DDR-Radsportler Gustav Adolf „Täve“ Schur, dem die Aufnahme in die „Hall of Fame“ des deutschen Sports bislang versagt blieb.
Im zweiten Teil mit Beschreibungen über sechs ausgewählte „Sport-Flüchtlinge“ werden z.B. noch einmal die traurigen Schicksale der heute 98-jährigen Gretel Bergmann und von Walther Bensemann als „Erfinder“ und Herausgeber des Kicker-Sportmagazins detailliert aufgearbeitet. Es ist hier aber auch die Rede von jenen flüchtigen „Sportverrätern“, die einst in der DDR im Sport erfolgreich waren, ihr aber aus ideologischen Gründen den Rücken kehrten wie z.B. der ehemalige Leichtathlet Manfred Steinbach, der 1958 als einer der ersten „von drüben“ kam und dann für den VfL Wolfsburg den USC Mainz startete.
Im dritten Teil mit sieben ausgewählten Beiträgen zum „Widerstand“ werden u. a. der Berliner Arbeitersportler Werner Seelenbinder, die polnische Skilegende Stanislaw Marusarz und der norwegische Fußballspieler Asbjörn Halvorsen vorgestellt, der bis 1933 über 200 Spiele für den Hamburger SV absolvierte. Es geht aber auch um „kollektiven Widerstand“, wonach die Handballspielerinnen des PSV Berlin trotz der Boykottaufrufe der Nationalsozialisten ihre jüdischen Teamkolleginnen weiterhin mitspielen ließen.
Im vierten Teil wird insgesamt 15 ausgewählten „Opfern“ aus dem Sport eine Stimme gegeben. Die Namen sind uns (nur) teilweise geläufig: der Fußball-Nationalspieler Julius Hirsch aus Karlsruhe, 1943 nach Auschwitz deportiert; der Berufsboxer Johann Trollmann aus Hannover, 1943 in Neuengamme umgekommen; die beiden Cousins und Olympiasieger im Turnen Alfred und Gustav Felix Flatow aus Berlin, die in Theresienstadt sterben müssen. Und es geht hier um den mysteriösen Tod des ehemaligen DDR-Fußball-Nationalspielers Lutz Eigendorf, der nach seiner Flucht in den Westen bei einem bis heute unaufgeklärten Autounfall ums Leben kam, als dessen Ursache ein „Mordauftrag“ durch die DDR-Führung vermutet wird. Ferner werden porträtiert: der „Olympiateilnehmer und Dokumentarist des Warschauer Aufstands“ Eugeniusz Lokajski „Brok“ und Arpad Weisz, der einstige ungarisch-jüdischen Fußballspieler und Trainer, mit 34 Jahren bis heute jüngster Meistertrainer in der italienischen Serie A.
Im fünften Teil wird das „Überleben“ von fünf ausgewählten Sportlern geschildert: Kurt Landauer, der viermalige Präsident des FC Bayern München; der schlesische Fußballer Ernst Willimowski; Paul Mahrer, der Fußballnationalspieler, der das Konzentrationslager Theresienstadt überlebte; der Boxer Szapsel Rotholc; Renato Sacerdoti, bis 1935 Präsident des AS Rom; der Österreicher Rudi Hiden, einer der besten Torhüter seiner Zeit und Salamo Arouch, der als jüdischer Boxer in Auschwitz siegte und überlebte.
Zu dem Team von insgesamt zwei Autorinnen und 36 Autoren gehören neben den beiden Herausgebern Historiker wie Prof. Moshe Zimmermann von der Hebrew University Jerusalem oder Prof. Leonid Luks, Lehrstuhlinhaber für Mittel- und Osteuropäische Geschichte an der Universität Eichstätt, und Sportjournalisten wie Herbert Fischer-Solms (bis 2001 Redakteur beim Deutschlandfunk Köln) oder Philipp Köster, Herausgeber und Chefredakteur des Fußballmagazins „11 Freunde“.
Prof. Dr. Detlef Kuhlmann – Sportwissenschaftler an der Leibniz Universität Hannover
Diethelm Blecking/Lorenz Peiffer (Hrsg.):
Sportler im „Jahrhundert der Lager“. Profiteure, Widerständler und Opfer. Göttingen 2012:
Verlag Die Werkstatt. 352 S.; 28,- €