
Symbolbild - Das Olympische Feuer wurde im griechischen Olympia entzündet und nach Japan transportiert. Dort soll es verbleiben bis zu den nächten Spielen - Foto: IOC Media
Sportjournalismus in Deutschland – mittelmäßig und selbstgerecht – sport-nachgedacht.de – Prof. Dr. Helmut Digel
Im deutschen Sportjournalismus lässt sich derzeit ein Problem beobachten, das für dieses Berufsfeld wohl schon immer gegolten hat, das jedoch in diesen Tagen deutlicher denn je zum Ausdruck kommt.
Er zeichnet sich durch eine ausgeprägte Mittelmäßigkeit aus, die auch durch die wenigen herausragenden Sportjournalisten[1], die es auch heute noch gibt, kaum verdeckt werden kann. Ich bin dankbar, dass ich in meinem Berufsleben und während meiner Tätigkeit als ehrenamtlicher Sportfunktionär Sportjournalisten begegnet bin, die sich durch die für diesen Beruf notwendige berufliche Neugierde und das wichtige Wissensbedürfnis ebenso ausgezeichnet haben wie durch ihre überdurchschnittlich gute Bildung, ihr Verantwortungsbewusstsein gegenüber jenen über die sie berichtet und geschrieben haben und durch eine ethisch begründete Berufsauffassung.
Namen wie Rudi Michel, Hajo Friedrich, Harry Valerien, Volker Kottkamp, Friedrich Bohnenkamp, Hans Reinhard Scheu, Günther Wölbert, Werner Rabe fallen mir dabei aus dem Bereich der TV-Medien ein. Aus dem Bereich der Presse erinnere ich mich an die Namen von Journalisten wie Hans Blickensdörfer, Steffen Hafner, Michael Gernandt, Hans-Joachim Waldbröl, Hans Saile, Wolfgang Uhrig, Bruno Bienzle, Oskar Beck, Willy Ph. Knecht. Gewiss müsste noch eine ganze Reihe von DDR-Sportjournalisten erwähnt werden, allen voran Jochen Mayer und Volker Kluge, von denen ich noch bis heute sehr viel über die Geschichte des DDR-Sports und über den modernen Olympismus lernen darf.
Sie alle können bei mir eine positive Erinnerung wachrufen. Wurde man von ihnen zu einem Gespräch oder zu einem Interview eingeladen, konnte man erkennen, dass sie sich sorgfältig vorbereitet hatten, dass sie sich des Gegenstands sicher sind, über den sie schreiben und berichten wollen und dass sie sich auch an die Vertraulichkeitsregeln halten werden, die zwischen dem schreibenden und berichtenden Journalisten und der betroffenen Person vereinbart wurden.
Ihr Beruf war ihre „Profession“ und ihre „Leidenschaft“. Sie wussten Relevantes von Irrelevantem zu unterscheiden und sie waren bemüht, die komplexe Struktur des modernen Sports zwischen Privatheit und Staat, zwischen Freiwilligkeit und Auftrag, zwischen Ehrenamt und Beruf, zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit zu unterscheiden. Sie haben meist auch begriffen, dass die „Politik im und durch den Sport“, verantwortet durch freiwillige Vereinigungen ein ganz anderes Politikphänomen ist als die staatliche Politik, die Politik der Parteien und der staatlichen Parlamente. Sie wussten das Gebot der Autonomie des Sports gegenüber dem Staat zu würdigen und die für Sportorganisationen dringend gebotene parteipolitische Neutralität gebührend einzuordnen.
Bei der großen Mehrheit der heute tätigen Sportjournalisten sind all diese besonderen Merkmale Mangelware. Manches hat sich sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Dabei hat sich die problematische Situation des Sportjournalismus noch dadurch verschärft, dass die Berichterstattung über den Sport durch Sportjournalisten, die in der Presse tätig sind, immer mehr an Bedeutung verloren hat und dass an deren Stelle ein selbstreferentieller Sportjournalismus in den sozialen Medien getreten ist, der jedoch für die Wahrnehmung des Sports durch unsere Gesellschaft eine immer größere Bedeutung erlangt hat.
Dabei ist der Berufsstand des Journalisten insgesamt gegenwärtig einem rasanten Wandel unterworfen. Durch die Digitalisierung sind die Produktions- und Distributionsabläufe um vieles schneller geworden. Im Grunde genommen geht es überhaupt nur noch um „Online“ und „Schnelligkeit“. Wer hat zuerst die Meldung? Wer ist zuerst auf dem Sender? Der Inhalt wird damit zweitrangig. Im Bereich der „Sportjournalistik“ sind dabei die üblichen „Marktschreier“ gefragt: „Gold für Deutschland!“ oder “Sie/er schrieb mit dieser Bronzemedaille olympische Geschichte“.
Soziale Netzwerke wurden und werden wichtiger denn je, womit die Gefahr der Desinformation immer größer geworden ist. Eng damit verbunden ist das „Clickbaiting“, dessen Ziel es ist, die Information im World Wide Web anzupreisen. Je mehr „Page impressions“ (und damit Werbeeinnahmen) umso besser. Die Chance, zur Kenntnis genommen zu werden, vergrößert sich, je aufmerksamkeitsheischender Schlagzeilen, provokant, freche und teilweise auch dümmliche Fragen oder visuelle Darstellungen sind. Das Ziel lautet: mit „Clickbait“ die Zugriffszahlen erhöhen. Durch diese Praxis verschwimmen die Grenzen zwischen Journalismus, PR, Propaganda, Marketing, Werbung, Filmproduktion und Mediendesign, was sich auch auf die Ausbildung der Journalisten ausgewirkt hat.
Hinzukommt, dass der Sportjournalismus schon seit dem Beginn vor mehr als 150 Jahren dieser Berufssparte praktisch von „jedermann“ betrieben werden kann, wobei nunmehr der „Jedermann“ auch noch mit den modernen Namen „ChatGPT“, „Deep Seek“, „Perplexity“ etc. auftreten kann.
Die Mittelmäßigkeit des Sportjournalismus ist ursächlich dadurch entstanden, dass in dieses Berufsfeld – seit es existiert – nahezu jeder Mann und jede Frau ohne besondere Qualifikationen hat eintreten können. Eine positive Ausnahme machte dabei lediglich die DDR. Bei dem Beruf des Sportjournalisten handelt es sich um einen nicht geschützten Beruf. Entsprechend heterogen sind die Bildungsvoraussetzungen jener, die ihn betreiben. Nach wie vor genügt ein Praktikum, um bei den meisten journalistischen Institutionen Deutschlands den Beruf eines Sportjournalisten ausüben zu dürfen, d.h. über einen Prozess des „Learning by doing“, der zeitlich kurz bemessen ist, kann man Zugang zum Beruf des Sportjournalisten finden. Berufe, die eine derart liberale Qualifikationsoffenheit aufweisen, sind meist für Studienabbrecher und für junge Menschen attraktiv, die bei ihrer Berufswahlsuche sich nicht sicher waren. Nicht wenige Sportjournalisten sind deshalb eher durch Zufall in dieses Berufsfeld gelangt. Dies muss nicht notwendigerweise ein Nachteil sein. Es gab und gibt eine ganze Reihe von Sportjournalisten, die für ihren Beruf eine natürliche Begabung mitgebracht haben und die mit einer guten Allgemeinbildung und einem guten Volontariat einen Grundstein für eine erfolgreiche Karriere als Journalist gelegt haben.
Mittlerweile ist es wohl üblich geworden, dass es von den meisten Arbeitgebern im Bereich der Massenmedien als notwendig erachtet wird, dass ihr journalistisches Personal eine akademische Ausbildung aufweisen sollte, bevor sie über ein Volontariat Zugang in ein Unternehmen der Massenmedien finden. Entsprechend häufig sind auch an deutschen Universitäten, Fachhochschulen und privaten Fachschulen journalistische Studiengänge entstanden, in denen auch mehrere einen Schwerpunkt „Sportjournalismus“ aufweisen. Der Zugang zu diesen Studiengängen gelingt meist sehr leicht und die Frage der Eignung der Studierenden wird dabei kaum gestellt. Das Studienfach „Sportwissenschaft“ ist kein NC- Studienfach und betrachtet man die Abiturzeugnisse der Bewerber – falls diese überhaupt als erforderlich angesehen werden – so muss man erkennen, dass auch da nur Mittelmäßigkeit angetroffen werden kann, wobei hinzuzufügen ist, dass die Aussagekraft von Durchschnittsnoten, die bei deutschen Abiturprüfungen erreicht wurden, schon seit mehreren Jahrzehnten immer geringer geworden ist. Die „gute Noteninflation“ scheint in Deutschland nicht aufzuhalten zu sein.
Jemand, der über Jahrzehnte akademische Studiengänge im Bereich der Sportwissenschaft zu verantworten hatte und der auch für die Neugründung eines sportjournalistischen Studiengangs verantwortlich zeichnete sei diesbezüglich ein Vergleich erlaubt. Die früher dominanten Lehramt Studiengänge mit einem Hauptfach Sport und einem oder zwei weiteren Hauptfächern haben in Bezug auf das Bildungsniveau der Studierenden sehr viel höhere Qualität aufzuweisen gehabt als dies bei den Bewerbern für die neuen Bachelorstudiengänge im Bereich des Sportjournalismus und des Sportmanagements der Fall war.
Hinzu kommt, dass viele der heute bestehenden Studiengänge „Sportjournalismus“ üblichen akademischen Maßstäben nur selten genügen. Von einer wissenschaftlich fundierten Ausbildung kann meist nicht die Rede sein. Dies liegt vor allem daran, dass an den meisten Universitäten und Fachhochschulen kein akademisches Personal angetroffen werden kann, das über eine notwendige kommunikations- und medienwissenschaftliche Kompetenz verfügt. Was dazu geführt hat, dass man die Ausbildung überwiegend mit externen Lehraufträgen bestreitet und dabei die sog. Praktiker ihre eigene Praxis reproduzieren, was meist immer so viel bedeutet, dass die eigene Mittelmäßigkeit dabei ebenfalls reproduziert wird.
Meine frühere Annahme, dass eine Ausbildung zum Beruf des Sportjournalisten an einer Universität zu einer verbesserten Qualität des Sportjournalismus führen wird, hat sich mittlerweile als falsch erwiesen. Was immer mit einer wissenschaftsfundierten Ausbildung des Berufs eines Sportjournalisten gemeint ist – die journalistische Praxis zeigt: Es gibt nach wie vor sehr gute Sportjournalisten, die kein Universitätsstudium aufweisen und umgekehrt gibt es akademisch ausgebildete Sportjournalisten mit Bachelor und Masterabschluss, die nicht unwesentlich zur Mittelmäßigkeit des Berufstandes beigetragen haben.
Die Auswahl zukünftiger Sportjournalisten wird auch dadurch negativ beeinträchtigt, dass der Beruf selbst unter finanziellen Gesichtspunkten im Vergleich zu anderen akademischen Berufen als wenig attraktiv zu bezeichnen ist. Er ist auch deshalb kein attraktiver Beruf, weil die zukünftig erwartbaren Arbeitsbedingungen sehr ungünstig sind. Die bereits über Jahrzehnte andauernde Krise der Tageszeitung hat zu immer weniger guten Arbeitsbedingungen geführt. Redaktionen wurden verkleinert oder geschlossen, die Möglichkeiten zu einer fundierten, unabhängigen Pressearbeit mit ausreichenden Möglichkeiten zur Recherche – zu denen auch ein angemessener Reiseetat gehört, um vor Ort eigenständig seine Recherchen durchführen zu können – haben sich ständig verschlechtert. Der Zusammenschluss der Medien zu wenigen dominanten Konzernen eröffnet diesbezüglich auch für die zukünftige Entwicklung des Berufs des Sportjournalisten nur eine sehr ungünstige Voraussetzung.
Angesichts dieser fragwürdigen Ausbildungsvoraussetzungen und Arbeitsverhältnisse kann es kaum überraschen, dass dann, wenn ein derart ungenügend ausgebildeter Anwärter auf den Sportjournalistenberuf in das Berufsfeld eintritt, er sofort in eine direkte Abhängigkeit zu den dort bereits tätigen Kolleginnen und Kollegen gerät. Anstelle einer guten akademischen Ausbildung tritt nun eine „Meisterlehre“, bei der die jeweiligen „Gockel der Sportredaktionen“ das Sagen haben. Die Mittelmäßigkeit des Sportjournalisten wird auf diese Weise zu einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung. Es gibt nur ganz wenige junge „sportjournalistische Küken“, die sich aus diesem Systemzwang der Redaktionen befreien können und ihren eigenen journalistischen Weg gehen. Der Sportjournalismus in mehreren Sportredaktionen führender Tageszeitungen zeichnet sich deshalb vorrangig durch einen Kadergehorsam aus, was dazu führt, dass vor allem devote Journalisten ihren Weg nach oben machen. Nicht fachjournalistische Kriterien entscheiden, ob jemand eine Karriere als Journalist macht oder nicht, sondern die Imitation in Form, Stil und Inhalt jener, die sich als die „Stars ihrer Branche“ sehen.
Dies hat auch dazu geführt, dass der Sportjournalismus vermehrt zum Show- Business verkommt. Nirgendwo ist dies deutlicher sichtbar als in den Sportredaktionen des Fernsehens und hier vor allem im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Immer häufiger werden Sportübertragungen zu Talkshows, das Studio wird zum „Set“ und Reporter und Moderatoren, die sich wohl selbst noch als Sportjournalisten bezeichnen, befinden sich auf dem „Laufsteg einer Modenschau“, der weder ästhetisch noch unterhaltsam ist. Das „gute Aussehen“ als Einstellungskriterium ist häufig an die Stelle der sportfachlichen Kompetenz getreten. Das einzige Ziel, das die handelnden Personen dabei verfolgen ist, sich selbst zu „Celebrities“ zu erhöhen. Gleiches gilt für die so genannten „Sportexperten“, die mittlerweile zu teuren Lückenbüßern vor, während und nach immer länger andauernden Live- Übertragungen geworden sind. Ehemalige Fußballstars erhalten angeblich bis zu 25.000 € pro Auftritt. Verlässliche Zahlen haben ARD und ZDF genannt. Beim ZDF hat 2024 durchschnittlich jeder Experte 117.000 Euro im Jahr, bei der ARD 147.000 Euro verdient. Ein fest angestellter Journalist in einer Sportredaktion einer deutschen Tageszeitung und die zum Glück noch vorhandenen wenigen freien Journalisten können davon nur träumen.
Bei der schreibenden Presse, wo den Repräsentanten des Sportjournalismus die Möglichkeit zum Show Business nur bedingt eröffnet wird, hat sich schon seit längerer Zeit neben die Mittelmäßigkeit, wie sie für die TV-Medien immer intensiver zutrifft, eine kaum noch zu übersehende Selbstgerechtigkeit, mitunter sogar Frechheit und Überheblichkeit gesellt, die in vieler Hinsicht als unerträglich zu bezeichnen ist.
Exemplarisch kann dies an der Berichterstattung der beiden führenden deutschen Tageszeitungen FAZ und SZ über die Wahl einer neuen IOC- Präsidentin gezeigt werden. Die Wahl selbst fand am 20.3.2025 statt. Die Überschriften und Auszüge aus den ausgewählten Berichten werden im Folgenden im Wortlaut wiedergegeben.
SZ 19.3.
Die Frau, die Thomas Bach nachfolgen soll.
Viele im IOC halten Kirsty Coventry für zu unerfahren, politisch ist sie sogar in ihrer Heimat Simbabwe umstritten. Doch die 41-Jährige gilt als Wunschkandidatin des scheidenden Präsidenten. Und der scheint noch mal alle Kräfte zu mobilisieren
„Coventry hat zuletzt oft behauptet, dass sie ihre zerrissene Heimat Simbabwe schon einmal zusammengebracht habe: mit ihren Schwimmolympiasiegen noch zu Zeiten des Diktators Robert Mugabe. Goldmedaillen als identitätsstiftendes Ereignis. Als Coventry 2018 dann als Sportministerin ins Kabinett von Emmerson Mnangagwa rückte, hatte sie aber rasch massiv Ärger. Heraus stach der Vorwurf sie habe eine von Mugabe gestohlene Farm als Geschenk akzeptiert. Eine Jugendbewegung des Landes rief das IOC zu Sanktionen auf, wegen „weitverbreiteter Menschenrechtsverletzungen“, für die Coventry „eine wesentliche Rolle“ spiele. Coventry wies die Vorwürfe als „PR -Stunt“ zurück, der oberste Gerichtshof in Harare, sprach sie in der Sache mit der Farm frei.“
„Selbst Bach treue Mitglieder im IOC dürften inzwischen zumindest leise Zweifel beschlichen haben, wie eine IOC- Präsidentin Coventry künftig etwa im Oval Office über Olympia 2028 verhandeln soll, mit einem US- Präsidenten, der schon ganz andere Politiker bloßgestellt hat. Ach wo, sagte Coventry zuletzt der ARD- Sportschau, Trump sei großer Sport Fan, da werde er schon verstehen, was eine zweimalige Olympiasiegerin von ihm wolle.“… „Coventry, die zwar die erste Frau an der Spitze wäre in dessen 130-jährigen Historie. – Mit ihren 41 Jahren aber vielleicht als schlicht zu unerfahren gilt?“
SZ 20.3.
Abschied des Olygarchen
Fintieren, täuschen, parieren: Thomas Bach hat es geschafft, sich jahrelang den Weltsport untertan zu machen. Über eine Präsidentschaft, in der die Zahlen des IOC stimmen, aber jetzt viele den Wechsel herbeisehnen.
FAZ 20.3.
Ein Ausreißer und ein Ehrenpräsident
Im Rennen um die Nachfolge von Thomas Bach als IOC- Präsident wähnt sich Samaranch jr. in Führung
SZ 21.3.
Und der Sieger ist Thomas Bach
Erste Frau an der Spitze des IOC, die erste Afrikanerin zudem: Kirsty Coventrys Wahl ins höchste Amt des Weltsport ist historisch – und ein letzter großer Erfolg für Thomas Bach. Die Mitfavoriten sind schwer geschlagen – und überrascht.
„Thomas Bach lächelte, es war so ein schelmisches Lächeln, und das bedeutete: große Gefahr!“
„Wobei sich einer im aktuellen Wahlkampf zuletzt offenbar auch nur schwer zurückhalten konnte: Thomas Bach.
Ein Reporter trug das, was jüngst nach draußen gedrungen war, am Montag so an Bach heran: es halte sich ja hartnäckig das Narrativ, dass der IOC- Boss eine präferierte Kandidatin habe. Gemeint ist Kirsty Coventry, 41. Eine ehemalige simbabwische Schwimmerin, die 2013 mit 29 Jahren und zunächst als Athletensprecherin IOC- Mitglied wurde und bis zuletzt in der Exekutive brav die Parteilinie vertrat und die als Präsidentin von allen Bewerbern wohl am meisten von dem bewahren würde, was Bach erschaffen hat. Ob es da also irgendwie sein könne, dass Bach manche IOC-Mitglieder dazu dränge, für Coventry zu stimmen?“
„Ende Januar hat es sich ein IOC- Mitglied laut einem Bericht des Portals Zeus Files, so bedrängt von einer angeblichen Wahlempfehlung pro Coventry gefühlt, dass es offenbar überlegte, die Ethikkommission einzuschalten. Das IOC antwortete damals auf SZ-Anfrage: die Ethikkommission hat zu keiner Zeit eine solche Beschwerde erhalten. Zum angeblichen Verhalten des IOC Präsidenten Stille“.
„Andererseits berichten englische Medien zuletzt nicht nur ausführlich über die faschistische Vergangenheit von Samaranchs Vater in Spaniens Franco-Diktatur, sondern auch, dass das IOC ein ernsthaft erkranktes Mitglied zur Reise nach Griechenland ermuntert habe, um für Coventry zu votieren. Solche Gerüchte kommentiere es nicht. Teile das IOC dazu auf Anfrage mit.“
FAZ 21.3.
Die Herrin der Ringe
Als erste Frau rückt Kirsty Coventry an die Spitze des Internationalen Olympischen Komitees. Sie gewinnt eine Wahl, die sechs Verlierer produziert – und ist nicht die einzige Siegerin.
„Und damit zum Sieger der Wahl: Kirsty Coventry galt als Favoritin des scheidenden IOC-Präsidenten Thomas Bach, seit dieser verkündet hatte, für eine – in der IOC-Charta nicht vorgesehene – dritte Amtszeit nicht zur Verfügung zu stehen. Die Session in einem Ferienresort am Ionischen Meer auf der griechischen Halbinsel Peloponnes glich im Vorlauf der Wahl fast einem Dauerwerbefilm über den Erfolg der Olympischen Sommerspiele von Paris 2024 im Allgemeinen und die Tatsache, dass bei diesen erstmals genauso viele Sportlerinnen wie Sportler am Start waren. Die nicht nur in diesen Momenten wenig verschlüsselte Botschaft an die IOC-Mitglieder war klar: Zeit für eine Präsidentin. Die Botschaft kam an.“
„Unter ihnen ist die der Amerikanerin Anita De Frantz, die 2001 als erste Frau für die IOC-Präsidentschaft kandidiert hatte. Kirsty Coventry bezeichnete De Frantz als „riesige Mentorin“. Dass die Amerikanerin trotz ihres schwer angeschlagenen Gesundheitszustandes die Reise nach Griechenland auf sich genommen hatte, um für Kirsty Coventry zu stimmen, war ein entscheidender Baustein des Wahlsiegs in der ersten Runde“.
Außerhalb des IOC fragen sich nach der Wahl eher noch mehr Menschen als zuvor, wie die IOC-Präsidentin Coventry zum Beispiel dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump gegenübertreten wird, der 2028 in Los Angeles als nächstes Staatsoberhaupt Olympische Sommerspiele eröffnen wird. „Ich habe mich mit, sagen wir, schwierigen Männern in hohen Ämtern auseinandersetzen müssen, seit ich zwanzig Jahre war“, sagte Kirsty Coventry am Donnerstag. Trump sei ein riesiger Sportfan. Sie wiederholte damit, was auch Bach schon über den Mann im Weißen Haus gesagt hat“.
FAZ 23.3
Frühstück bei Bach und die Frage nach den Lügnern
Mit der Wahl der Afrikanerin Kirsty Coventry wird die Botschaft des Generationenwechsels im IOC verbunden. Die neue Präsidentin will aber weder auf ihre Identität als Frau noch auf ihre Herkunft reduziert werden.
„Als Thomas Bach kam, bündelte sich die Aufmerksamkeit der Reporter. Er war der Sieger. Sein Plan war aufgegangen. Seine Mitglieder haben geliefert. 49 Stimmen für Kirsty Coventry. Punktlandung. Absolute Mehrheit in Runde eins. Nach 131 Jahren Internationales Olympisches Komitee die erste Präsidentin. Eine Afrikanerin. Und einstweilen gar nicht so sehr im Hintergrund ein zum Ehrenpräsidenten aufsteigender Thomas Bach“.
„Der Zug hat den Bahnsteig fahrplangemäß verlassen. Der Lokführer hat alles Griff. Die Zugchefin ist zur Weiterbildung angetreten“.
„Aber etlichen der Männer, die sich in der Hektik des Wahlabends geschlagen davongemacht hatten, war mehr versprochen worden von den Mitgliedern. Coe hat mit mehr Stimmen gerechnet, der Japaner Watanabe, Prinz Feisal. Sie wurden nicht nur enttäuscht. Sie wurden angelogen. Wer hat gelogen und warum?“
Wer die Problematik des deutschen Sportjournalismus erkennen und verstehen möchte, der sollte die Presseberichterstattung rund um die Wahl der neuen IOC- Präsidentin im Wortlaut noch einmal Revue passieren lassen. Allein die hier zitierten Überschriften und Untertitel, aber auch die ausgewählten Zitate aus einzelnen Berichten sind meines Erachtens vielsagend.
Es handelt sich dabei um eine Sportberichterstattung voller Behauptungen und Vermutungen ohne fundierte Belege in Bezug auf die Personen, über die berichtet wird. Die Berichterstattung ist eine Aneinanderreihung von anmaßenden Unterstellungen bis hin zu Beleidigungen und Verletzungen gleichermaßen. Dies gilt in erster Linie für die Person des IOC- Präsidenten Bach. Doch auch die neu gewählte erste Frau im höchsten Amt des IOC wird dabei nicht verschont. Stereotype und Topoi, wie sie in der deutschen Berichterstattung schon seit Jahrzehnten redundant wiederholt werden, dürfen während dieser interessanten Tage der Olympischen Bewegung nicht außen vorgelassen werden.
Der Regen auf die Ruinen des antiken Olympia bei der Eröffnungsfeier der Session wird als negatives Orakel zur Zukunft des IOC gedeutet.
Das fünf Sterne Hotel, in dem die Session stattfindet, wird ausgiebig als Ort der Verschwendung und des Luxus beschrieben, was für das IOC angeblich typisch ist. Die IOC-Session wird mit dem Konklave verglichen, bei der der Kontakt der Delegierten zur Außenwelt minimal gewesen sei und sie sogar ihre Smartphones abzugeben hatten. Dass die internationale Presse und die Fernsehanstalten bei jeder Pause IOC- Mitglieder zu Aussagen drängten und bemüht waren, Live-Aufnahmen einzufangen, wird nicht berichtet. Das in der Charta vorgeschriebene Verfahren zur Wahl eines IOC- Präsidenten wird infrage gestellt, nur weil das IOC zurecht auf einen unsinnigen und kostenintensiven Wahlkampf der möglichen Konkurrenten verzichten möchte. Die deutschen Sportjournalisten vermuten allerdings dahinter ein Kalkül von Bach, um Einfluss auf den Wahlausgang zu nehmen. In der SZ wird IOC- Präsident Bach schon seit langem als „Olygarch“ in Anlehnung an Putins „Oligarchen“ dargestellt. Seine Nachfolgerin ist die unmündige Dienerin des Herrn, die über „keine finanzielle Expertise“ verfügt. Ein während der Olympischen Winterspiele in Sotschi stattgefundener Handschlag wird einmal mehr zum Symbolbild einer angeblichen direkten Abhängigkeit von Bach zur russischen Diktatur. Gleiches gilt für seine Begegnung mit Xi Jinping. Beiden hat sich Bach angeblich devot angedient. Dass Bach jedem Staatsoberhaupt der westlichen Hemisphäre in gleicher Weise begegnet ist und es von diesen Begegnungen auch vergleichbare Aufnahmen gibt, wird bei einem derart ideologisch geprägten Sportjournalismus verständlicherweise außen vorgelassen. Bach wird einmal mehr als Zögling des korrupten Adidas-Firmenchefs Dassler und des durch das Franco Regime belasteten IOC- Präsidenten Samaranch diskreditiert. Sein Führungsstil in den vergangenen zwölf Jahren seiner Amtszeit wird als diktatorisch beschrieben, ohne auch nur einen einzigen Beleg für diese Behauptung zu liefern.
Die Kommentatoren der FAZ und der Süddeutschen Zeitung bedienen sich dabei der angeblichen Aussagen von angeblichen Mitgliedern des IOC, ohne deren Namen zu nennen. Am Ende müssen sie sich allerdings wundern, dass alle ihre früheren Annahmen über die Machtgier von Bach in ihr Gegenteil verkehrt wurden und offensichtlich ihre Informanten auch nicht verlässlich gewesen sind. Unisono hatte man angenommen, dass Bach eine dritte Amtszeit anstreben wird. Dass er sich nun hingegen von all seinen Ämtern im Sport trennen wird, kann keiner mit seinen falschen Prognosen vereinbaren.
Keiner der vorlauten deutschen Sportjournalisten ist dabei jedoch bereit, dies seinen Lesern gegenüber zuzugeben. Dass sie sich alle getäuscht haben, gilt auch für die Prognosen für die nun stattgefundene IOC- Wahl. Denn alle Prognosen haben sich als falsch erwiesen. Der angeblich umfassende Widerstand innerhalb des IOC gegenüber Bach spiegelt sich zumindest nicht in dem Wahlergebnis wider.
Bei dieser Art von Sportberichterstattung kann ein IOC-Präsident, aber auch die zukünftige Präsidentin Coventry eigentlich niemals etwas richtig machen. Wurde das IOC mit 70 neuen Mitgliedern in den vergangenen zwölf Jahren grundlegend personell erneuert, so wird dies als strategische Demagogie von Bach gedeutet. Hätte das IOC an der überalterten Mitgliederstruktur festgehalten, so wäre es als das „Altersheim des Weltsport“ kritisiert worden.
Dass Bach während seiner Amtszeit große Marketingerfolge aufzuweisen hat und sogar kurz vor der Wahl noch einen hoch dotierten langfristigen Fernsehvertrag mit USA abschließen konnte – er damit das IOC mit bestens geregelten Finanzen an seine Nachfolgerin übergeben kann – wird nicht als Erfolg gedeutet. Die deutschen Sportjournalisten sehen dies vielmehr als eine raffinierte Einflussnahme auf die Wahl durch Bach, dass die IOC-Mitglieder damit auch eine angeblich unerfahrene Sportpolitikerin aus Afrika wählen können.
Wenn eine Frau mit 41 Jahren IOC Präsidentin wird, so wird ihr von den Journalisten Unreife und Unerfahrenheit unterstellt. In Bezug auf ihren Vorsitz der Athleten Kommission wird behauptet, dass sie Forderungen von Athleten, die etwas „direkter an dem üppigen Gewinn des IOC beteiligt werden wollten“, „abgebügelt“ habe. Sie wird deshalb als Bachs Marionette gekennzeichnet: „der Zug hat den Bahnsteig fahrplanmäßig verlassen. Der Lokführer hat alles im Griff. Die Zugchefin ist zur Weiterbildung angetreten“. „Bach kann jetzt sogar durch Coventry weiterregieren“.
Frauenfeindlicher kann eine Sportberichterstattung durch Machos wohl kaum sein.
Wenn sie ein Ministeramt in Afrika ausgeübt hat, so wird dies gleichgesetzt mit den diktatorischen Verhältnissen, wie sie in vielen afrikanischen Staaten existieren. Wird zu Recht Einfluss auf eine IOC-Wahl genommen, weil ein Kandidat allen demokratischen Gepflogenheiten und der Olympischen Charta widerspricht – so wie dies vor der Wahl von Jaques Rogge der Fall war – und er deshalb verhindert werden muss, so wird dies heute als Manipulation einer Wahl gedeutet, obgleich man es durchaus als ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein interpretieren könnte.
Selbst die Anwesenheit einer schwer kranken 90-jährigen Anita DeFrantz, die sich ihr ganzes Leben für die Gleichberechtigung der Frau in der Welt des Sports eingesetzt hat und es sich nicht nehmen ließ, den langen und beschwerlichen Weg aus den USA nach Griechenland auf sich zu nehmen, um Kristy Coventry zu wählen, wird einem Manipulationsverdacht ausgesetzt. Im Hintergrund hat Bach angeblich die Fäden gezogen, obgleich Anita DeFrantz über mehr als zwei Jahrzehnte die Mentorin der jungen Olympiasiegerin im Schwimmen gewesen ist. Charakter- und verantwortungsloser kann Sportberichterstattung wohl kaum sein.
Dabei ist der Sachverhalt, dass mit der einen Stimme von Anita de France die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang für Kirsty Coventry und damit ihre Wahl gesichert wurde eine der schönsten Geschichten des modernen Olympismus. Ohne die Anwesenheit von Anita de Franz hätte es einen zweiten Wahlgang gegeben. Über die Frage, wem die vier Stimmen der beiden ausgeschiedenen Kandidaten im zweiten Wahlgang zugutegekommen wären, kann nur spekuliert werden. Doch es muss angenommen werden, das mit jedem weiteren Wahlgang die Chancen von Coventry geringer geworden wären. Hingegen hätten sich die Chancen ihres aussichtsreichsten Konkurrenten Samaranch vermutlich verbessert.
Jene Journalisten, die die Berichte in den beiden deutschen Leitmedien zur Wahl der IOC- Präsidentin in den letzten Tagen verfasst haben, ist dabei jedes Mittel recht, um die im Rampenlicht stehenden Personen zu diskreditieren. Selbstgerechte, freche und dümmliche Behauptungen sind dabei das beliebteste Stilmittel. Das IOC- Ereignis auf dem Peleponnes muss einem Skandal gleichen, bei dem „die Herren der Ringe“, sämtliche Regeln einer demokratischen Organisation nahezu täglich über Bord werfen und dabei den autoritären Vorgaben ihres korrupten Diktators Bach folgen.
Keiner der Sportjournalisten stellt sich dabei die Frage, was eine derartige Berichterstattung für die Angehörigen, für die betroffenen Familien, deren Kinder und für die weiteren Verwandten bedeutet. Keiner kommt dabei auf die Idee, einmal die Frage an sich selbst zu richten, wie ihm zu Mute wäre, wenn er in seiner Person als Sportjournalist in jener Weise öffentlich infrage gestellt würde, wie es bei der deutschen Berichterstattung über die betroffenen Personen des IOC nunmehr bereits über Jahrzehnte geschieht.
Angesichts der völlig unzureichenden Recherchen dieser Art von Berichterstattung, kann sie in ihrer Mittelmäßigkeit, in ihrer intellektuellen Bescheidenheit und in ihrer Selbstgerechtigkeit wohl kaum übertroffen werden. Was jedoch Verwunderung hervorrufen muss, ist der Sachverhalt, dass solche Art von Berichterstattung in den führenden Leitmedien des deutschen Pressewesens stattfindet und in Tageszeitungen wie der FAZ und der SZ einer solch gearteten Sportberichterstattung ganze Seiten im Feuilleton und im Sportteil zur Verfügung gestellt werden.
Eine derartige Sportberichterstattung ist wirkungsvoll. Die Wirkung kann an jedem deutschen Stammtisch des Sports beobachtet werden. Sie zeigt sich jedoch vor allem auch in der redundanten Wiederholung aller vorgetragenen Vorurteile und Behauptungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und in nahezu allen übrigen Tageszeitungen in Deutschland, die in ihrem „sportpolitischen Weltbild“ von den Leitmedien abhängig geworden sind.
Letzte Bearbeitung: 28. März 2025
[1] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird gelegentlich auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.
Letzte Bearbeitung: 11. März 2025