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04
01
2025

Professor Dr. Steffen Greve hat seit April 2024 den Lehrstuhl Vermittlungskompetenz im Sport an der Humboldt-Universität inne. Neben seiner wissenschaftlichen Laufbahn hat er an verschiedenen Hamburger Schulen Sport unterrichtet. Er hat die A-Trainerlizenz und in mehreren Gremien des Deutschen Handball-Bundes gearbeitet. - Foto: Sebastian Wells

Sport ist das wichtigste Unterrichtsfach: Professor Dr. Steffen Greve vom Institut für Sportwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, über die perfekte Sportstunde, Noten und Traumata – SPORT in BERLIN

By GRR 0

Herr Professor Greve, gibt es eigentlich die perfekte Sportstunde?

(lacht) Die Frage kann man nicht pauschal beantworten. Perfekt aus Sicht der Lehrkraft? Oder der Schüler*innen? Oder der Bildungsverantwortlichen in der Politik? Selbst die Sichtweisen der Schüler*innen unterscheiden sich, denn eine Klasse ist eine heterogene Gruppe.

Zentral ist: Die Interessen der Schüler*innen müssen berücksichtigt werden. Sie sollen auch den Sinn der Sportstunde verstehen. Ziel muss es sein, die Kinder und Jugendlichen langfristig zum Sporttreiben zu motivieren und Freude am Sport zu vermitteln.

Wie sehen Ihre eigenen Erfahrungen aus?

Ich habe mehrere Jahre unterrichtet und das ist mir mit Sicherheit mal besser und mal schlechter gelungen. Auch aus dieser Erfahrung kann ich berichten, dass nicht alles gleichermaßen bei allen Schüler*innen ankommt. Lehrkräfte müssen daher den Bedarf der Lerngruppe und ihre Wünsche verstehen, sie müssen zuhören und dürfen nicht nach Schema F unterrichten.

Nun kann Sportunterricht aber ja kein „Wünsch dir was“ sein, weil man ja auch bestimmte Inhalte vermitteln will.
Generell hat die Lehrkraft die Aufgabe, die Sportstunde gemeinsam mit den Schüler*innen zu inszenieren. Dabei behält sie aber natürlich das Heft des Handelns in der Hand. Es gilt der Grundsatz, möglichst vielfältige Angebote zu machen, was sich auch aus den Lehrplänen ableiten lässt. Es ist auch ein Trugschluss, dass Kinder nichts leisten oder lernen wollen. Die Lehrkraft kann auch etwas gemeinsam kreativ mit den Schüler*innen entwickeln.

Beim Schulsport erinnern sich manche an Situationen wie Wahl von Mannschaften und daran, dass manche immer als letzte gewählt werden. Wie lässt sich solch eine frustrierende Erfahrung vermeiden?

Das Wählen von Teams ist ein „No Go“. Dies vermittle ich auch meinen Studierenden. Es gibt sehr viele alternative Methoden, Teams zusammenzustellen. Ich kann zum Beispiel die Teams als Lehrkraft bestimmen. Oder auch den Schüler*innen die Aufgabe geben, gleichstarke Teams zusammenzustellen. Letztlich kommt es darauf an, auch Erfolgserlebnisse für schwächere Kinder zu schaffen, und nicht schon beim Start in ein Spiel Kinder zu stigmatisieren.

 

Mit dem Regelwerk von Spielen „spielen“, damit alle Schüler freudvoll am Sportunterricht teilhaben können. –
Foto: Sebastian Wells

Wie kann das gelingen?

Das erfordert bei heterogenen Lerngruppen einen differenzierten Unterricht. Der Grundsatz ist dabei, die Kinder, wie man so schön sagt, da abzuholen, wo sie stehen. Es macht wenig Sinn, eine für die Kinder unerreichbare Norm anzusetzen. Zum Beispiel kann ich bei Übungen Wahlmöglichkeiten der konkreten Anforderung zulassen, so dass Angebote für alle Kinder, auch für die mit einem niedrigem Ausgangsniveau, dabei sind. Zum Beispiel beim Sprung über den Kasten eben Kästen mit unterschiedlichen Höhen, oder unterschiedliche Ballgrößen. Ebenso kann ich mit dem Regelwerk von Spielen „spielen“, damit ich eine Lernumgebung schaffe, in der alle freudvoll teilhaben können.

Gibt es eigentlich einen „Kanon“ im Sportunterricht? Also Dinge, die verpflichtend für alle gelehrt werden müssen?
Die aktuellen Lehrpläne drehen sich sehr stark um Kompetenzen und weniger um konkrete Inhalte. Dieser Umstand hat, wie so häufig, Vor- und Nachteile. Generell ist aber festzuhalten, dass bestimmte Inhalte nahezu unverzichtbar sind. Wenn sie zum Beispiel das Ziel haben, dass am Ende der Grundschule alle Kinder schwimmen können, muss das auch in entsprechender Intensität gelehrt und den Kindern entsprechende Kompetenzen vermittelt werden.

Warum gibt es immer noch so viele „Schulsporttraumatisierte“?

Zum Sport und damit auch zum Sportunterricht gehören auch Leistung, Leistungsmessung, Wettkampf und das „Sich durchsetzen“. Diese Perspektive dominiert sicher noch an vielen Stellen im Sportunterricht und produziert unschöne Erlebnisse für leistungsschwächere Schüler*innen. Das ist einer der Knackpunkte des Sportunterrichts.

Welche Rolle kann und soll der Leistungsgedanke im Sportunterricht denn heute noch spielen?

Leistung ist nur eine von vielen Perspektiven des Sportunterrichts. Es geht nicht um eine Nivellierung, aber schon darum, alle Perspektiven zur Geltung bringen. Neben Leistung sind das in erster Linie eben auch Gesundheit, Kooperation, Gestaltung, Körpererfahrung und Wagnis.

Wäre es dann nicht auch besser, zu Beginn des Schuljahrs eine Leistungsmessung vorzunehmen und für die Benotung nur die individuelle Verbesserung heranzuziehen?

Die Sportnote ist schon fast ein Mysterium. Nicht immer ist eine Normtabelle mit erwarteten Leistungen Grundlage der Benotung, und das ist auch gut so. Die individuelle Verbesserung ist ein wichtiger Punkt bei der Benotung, kann aber auch nicht alleiniges Kriterium sein. Die Verbesserung in einer Sportart oder einem Bewegungsfeld fällt für ein Kind, das diese Sportart seit vielen Jahren im Verein betreibt, meist deutlich geringer aus, als bei Anfänger*innen.

Die tatsächliche Bewegungszeit der Schüler*innen im Sportunterricht ist gemäß einiger Untersuchungen erstaunlich gering. Wie lässt sich das ändern?

Lehrkräfte brauchen gute Rituale, die die Schüler*innen verinnerlicht haben. Wo treffen wir uns, wo finden Vorklärungen statt, welche Regeln gibt es für notwendige aber eben möglichst knappe Gesprächsphasen etc. Auch ist entscheidend, alle Kinder mit in die Verantwortung zu nehmen, dass es IHRE Sportstunde ist. Motivierte Schüler*innen ziehen sich schnell um! Hier ist die Lehrkraft gefordert.

Wie beeinflusst denn die räumliche Umgebung die Qualität einer Sportstunde?

Eine gute ausgestattete Sporthalle mit entsprechender Größe unterstützt natürlich guten Sportunterricht. Bei nicht so optimalen Bedingungen sind aber oft auch kreative Lösungen möglich. Ich habe einmal in einer Schule hospitiert, in der der Sport aufgrund einer gesperrten Halle temporär in der Mensa stattfand. Dafür wurden Springseile angeschafft und über Stühle und Tische balanciert. Da haben die Lehrkräfte wirklich alles gegeben, damit die Kinder auf die Bewegungszeit kommen. Aber letztlich ist das begrenzt. Ohne entsprechendes Material bleibt beim Turnen in einem solchen Setting nicht viel mehr als Radschlagen. Daher haben bei den Sportstätten Schulen und Sportvereine gemeinsame Interessen und müssen auch zusammen Druck auf die Politik ausüben.

Haben sie weitere bildungspolitische Forderungen, auch mit Blick auf die vielen fachfremden Lehrkräfte im Sportunterricht?

Es müssen insgesamt mehr Ressourcen für die Lehrkräftebildung bereitgestellt werden. Es braucht auch mehr Verpflichtung zur Fortbildung im Laufe des Berufslebens. Lehrkräfte, das wissen wir aus vielen Untersuchungen, agieren doch sehr stark in Routinen und tun sich häufig schwer damit, Neues auszuprobieren. Aus meiner Sicht sollten die Fortbildungen deutlich stärker an die Hochschulen angebunden werden. Es geht schließlich um einen lebenslangen Professionalisierungsprozess, der nicht nach dem Studium oder Referendariat abgeschlossen ist. Die Aus- und Weiterbildung von Sportlehrkräften muss in den Fokus der Politik. Das Fach kommt immer zu schlecht weg und hat aus meiner Sicht viel zu wenig Fürsprecher. Dies sieht man auch an der sehr mangelnden Datenlage: Es braucht eine neue Schulsportstudie, um eine eben eine gute Datengrundlage zu haben. Seit der SPRINT-Studie von 2006 ist nicht viel passiert.

Sport ist das wichtigste Unterrichtsfach – stimmt das?

Ich sehe das so. Der Sportunterricht ist der einzige Ort, wo alle Kinder verpflichtet werden, Sport zu treiben. Und wir wissen, dass Sport für Gesundheit und Wohlbefinden sehr wichtig ist. Derzeit wird Sportunterricht ganz stark unterschätzt, der Stellenwert muss steigen!

Geht attraktiver Sportunterricht eigentlich mit allen Sportarten oder nur mit bestimmten?

Auf jeden Fall mit allen!

Das Gespräch führten Dr. Christian Haberecht und Friedhard Teuffel in SPORT in BERLIN 06/2024

 

author: GRR