Sportliches Handeln neigt zum sozialen Vergleich. Sportliches Handeln neigt zum Wettbewerb. Deshalb bringt das sportliche Handeln seine eigenen sozialen Netzwerke hervor.
Sport als Kitt der Gesellschaft? „Biebricher Schlossgesprächen“ mit Prof. Helmut Digel zu „Identifikation und Integration“.
Der emeritierte Tübinger Sportwissenschaftler Prof. Helmut Digel beantwortete im Rahmen der "Biebricher Schlossgespräche" Fragen zum Thema "Identifikation und Integration".
Am 25. November haben die Deutsche Olympische Akademie (DOA) und die Hessische Landesregierung zu den „Biebricher Schlossgesprächen“ in Wiesbaden geladen, die diesmal unter dem Titel „Identifikation und Integration: Der Sport als Kitt der Gesellschaft?“ standen. Das folgende Interview mit Helmut Digel fand im Rahmen dieser Veranstaltung im Wiesbadener Schloss statt. Die Fragen stellte DOA-Direktor Andreas Höfer.
ANDREAS HÖFER: Der Deutsche Olympische Sportbund propagiert seit geraumer Zeit und in unterschiedlichen Variationen der Merksatz: „Sport tut Deutschland gut!“ Trifft diese Aussage zu?
HELMUT DIGEL: Dass und wie diese Aussage zutrifft, kann man jeden Tag in Deutschland beobachten wenn deutsche Bürgerinnen und Bürger Sport treiben. Genauer zu beobachten sind dabei die Kinder und Jugendlichen beim Schulsport in unserem öffentlichen Schulwesen. Zu beobachten sind auch die Menschen, die sich in freiwilligen Vereinigungen zusammengefunden haben, um gemeinsame Sportinteressen in den mehr als 97.000 Turn- und Sportvereinen zu erfüllen. Wir müssen auch die vielen informellen Gruppen mitberücksichtigen, in denen Menschen in ihrer Freizeit Sport ausüben. Schließlich muss der individuelle informelle Sportbetrieb betrachtet werden, wie jeder einzelne Mensch bei der Ausübung seines Sports die von ihm selbst gesetzten Ziele zu erfüllen versucht.
Fragt man die Menschen, die in den genannten Situationen Sport ausüben, was der Sport für sie bedeutet, so ist es vor allem die Freude, die mit diesem Tun verbunden wird und die den Sport als besonders bedeutungsvoll erscheinen lässt. Daneben hilft der Sport den Menschen, die ihn ausüben, bei der Bewältigung vielfältiger Probleme, mit denen sie in unserer komplexen nachindustriellen Gesellschaft konfrontiert sind.
HÖFER: Hat der Sport – um auf den Titel unserer Veranstaltung abzuheben – einen „gesellschaftlichen Auftrag“? Wenn ja: Wer hat diesen Auftrag erteilt? Und: Wie ist dieser Auftrag definiert?
DIGEL: Für mich hat der Sport keinen dezidierten Auftrag. Er ist auch nicht ein gesellschaftliches Teilsystem, in dem ein bestimmter gesellschaftlicher Auftrag abzuarbeiten ist, wie dies manche Sportsoziologen glauben. Der Sport kann vielmehr belanglos und folgenlos sein, er kann aber gleichermaßen von höchstem Belang sein und weit reichende Folgen haben. An den Sport, wenn er sich organisiert, können von außen Aufträge herangetragen werden. Als sich selbst organisierende Einheit kann sich der Sport aber auch selbst gesellschaftlich bedeutsame Aufträge geben.
Das Handeln des Sports ist nicht per se sozial, der Sport in seiner Variante als Wettkampfsport ist jedoch auf die soziale Konstruktion seines Handelns ausgerichtet. Der Sport neigt zum gemeinschaftlichen Handeln, deshalb kann es kaum überraschen, dass der Sport das attraktivste Thema für freiwillige Vereinigungen in den vergangenen 200 Jahren gewesen ist.
HÖFER: Ist der – so definierte, selbst oder von anderen erteilte – Auftrag angemessen? Also: Kann, soll, muss der Sport eben das leisten, was an dieser Stelle von Politik und Gesellschaft von ihm erwartet oder gar verlangt wird?
DIGEL: Mit der Idee, dass sich der Sport unter Organisationsgesichtspunkten auf die freiwillige Vereinigung ausrichten soll, in der die Mitglieder nur ihre eigenen Interessen verpflichtet sind, drängt die Organisationsidee des Sports auf Autonomie. Der Sport sollte sich also hüten, Aufträge von außen geben zu lassen, die nicht gleichzeitig auch die Aufträge der eigenen Mitglieder sind. Ausschlaggebend für die Beauftragung des Sports müssen somit die Sportausübenden selbst sein. Die Geschichte des modernen Sports hat gezeigt, wie gefährlich es ist, wenn der Sport von außen beauftragt wird oder wenn der Sport vorschnell seine eigenen Interessen über Bord wirft und sich Außeninteressen verpflichtet fühlt. Der Sport kann deshalb immer nur begrenzt jenes leisten, was die Gesellschaft von ihm erwartet. Eine ganz besondere Vorsicht ist angebracht, wenn das System der Politik dem Sport vorgibt, was er zu leisten hat.
HÖFER: Zwei zentrale Begriffe in diesem Zusammenhang sind „Identifikation“ und „Integration“. Wie bewerten Sie sein diesbezügliches Potential?
DIGEL: Die Geschichte der Sportentwicklung hat gezeigt, dass der Sport als ein besonderes Sozialmuster sich besonders erfolgreich und schnell hat ausbreiten können. Individuelles sportliches Handeln neigt zur Partnerschaft. Sportliches Handeln neigt zum sozialen Vergleich. Sportliches Handeln neigt zum Wettbewerb. Deshalb bringt das sportliche Handeln seine eigenen sozialen Netzwerke hervor. Diese reichen vom kleinen zum großen Netzwerk. Das laufende Paar im Wald, die Volleyballspieler am Strand, die gemeinsame Skiabfahrt sind Beispiele für die kleinen Netzwerke. Der Trainer mit seinem Athleten, das Tischtennisdoppel, der Vierer beim Rudern, die Handballmannschaft, das Olympiateam.
Sie repräsentieren die mittleren Netzwerke. Und die großen Netzwerke reichen vom Verein über den Landesverband zum Deutschen Olympischen Sportbund bis hin zur großen olympischen Familie. Dabei impliziert die soziale Konstruktion des modernen Sports dessen integrative Notwendigkeiten. Gerade die auf Konkurrenz angelegte Idee des Sports ist ohne Assoziierung nicht möglich. Im Sport ist man im wahrsten Sinne des Wortes auf den Gegner angewiesen. Tritt er nicht an, findet das Spiel nicht statt. Deshalb kann es keineswegs überraschen, dass man den Sport als ideales Medium der Integration interpretiert. Welche Reichweite diese Integration aufweist muss dabei jedoch sehr spezifisch betrachtet werden. Für den Sport selbst und für seine zukünftige Entwicklung ist Integration jedoch ein unverzichtbarer Faktor.
Nicht weniger unverzichtbar ist für den Sport das Phänomen der Identifikation, wobei zunächst vor allem die Selbstidentifikation zu beachten ist, die für das Gelingen des sportlichen Handelns von grundlegender Bedeutung ist. Dies gilt vor allem auch für den Wettkampfsport. Sich mit anderen zu identifizieren ist nicht notwendige Bedingung für das Gelingen menschlichen Handelns bzw. für das Leben des Menschen. Offensichtlich ist es aber ein Bedürfnis, das bei den Menschen sehr häufig anzutreffen ist.
Sporttreibende, insbesondere erfolgreich Sporttreibende, scheinen dabei ein willkommenes Identifikationsobjekt für Menschen zu sein. Hält man dies für die Weiterentwicklung einer Gesellschaft für bedeutsam, so kann der Sport unter diesen Gesichtspunkten wichtige Identifikationsleistungen erbringen.
HÖFER: Bisweilen gewinnt man den Eindruck, dass der Sport in einem Maße für gesellschaftliche Aufgaben und Ziele – Stichwort „Gesundheit“, Stichwort „Werte“ oder etwa „Bildung“ oder eben Integration – in Anspruch genommen wird, sich vielleicht auch selbst in Anspruch nimmt, dass eine Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit programmiert ist. Soll sich der Sport im Blick auf seinen gesellschaftlichen Auftrag und seinen Anspruch nicht etwas bescheidener geben? Oder ist gerade der ihm zugetraute oder auch zugemutete gesellschaftliche Auftrag eine wichtige Legitimation, die es ihm auch erlaubt, entsprechende Ansprüche an Staat und Politik zu stellen?
DIGEL: Diese Frage kann meines Erachtens nur mit Ja beantwortet werden. Unter funktionalen Gesichtspunkten wird der moderne Sport schon seit längerer Zeit überfordert. Die Forderungen, die dabei an den Sport herangetragen werden, resultieren aus Problemen, die in komplexen modernen Gesellschaften anzutreffen sind, und deren Lösung erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Unter funktionalen Gesichtspunkten wurde der Sport zu einer Mehrzweckwunderwaffe stilisiert, die nahezu auf keinem Gebiet das erfüllen kann, was man von ihr erwartet. Präventiv, therapeutisch und rehabilitativ wird der Sport mittlerweile in nahezu allen Lebenslagen angewendet. Einzelne Befunde in Bezug auf seine Wirkung sind dabei durchaus beachtenswert.
Gleichzeitig muss man dabei jedoch erkennen, dass der Sport bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme überfordert ist. Sein Beitrag, den er unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten in Bezug auf die angezielten Probleme erbringt, ist durchaus beachtlich. Die Probleme als solche lassen sich jedoch über die Intervention mittels Sport nicht lösen. Gerade deshalb ist Bescheidenheit und vor allem Zusammenarbeit mit anderen angebracht, will man ernsthaft in der Problemlösung weiterkommen.
HÖFER: Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Bedeutung und Funktion von Spitzensport und Breitensport? Greifen hier zwei Räder ineinander oder sind dies zwei Welten, die sich immer mehr voneinander entfernen?
DIGEL: Der Spitzensport und der Breitensport sind organisatorisch, personell und ideell immer weiter auseinander gedriftet. Auf den ersten Blick, so könnte man meinen, sind zwei Welten entstanden, die nur noch wenig miteinander zu tun haben. Betrachten wir die Situation etwas genauer, so müssen wir jedoch erkennen, dass der Breitensport ohne den Spitzensport leben kann, der Spitzensport ohne den Breitensport derzeit jedoch nicht existieren könnte. Vermutlich ist dies auch in der weiteren Zukunft der Fall. Dies gilt vor allem für Deutschland, in dem die freiwillige Vereinigung nach wie vor die Basis des gesamten Sports in Deutschland darstellt, und der Schulsport ein unverzichtbares Element zur Entwicklung des Leistungssports bedeutet.
Unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten sind die beiden Bereiche ebenfalls immer weiter auseinander gerückt, die Wertewelt des Spitzensports ist nicht jene des Breitensports, wenngleich auch dort Auswüchse zu beklagen sind. Der Spitzensport wird heute vorrangig von der Logik des Geldes dominiert, im Breitensport kommen hingegen vorrangig die vielfältigen Motive der Sport-treibenden zum Tragen.
HÖFER: Wie steht es – in diesem Zusammenhang – mit den Werten? Ist es aus Ihrer Sicht eine legitime Erwartung an den Sport und des Sports an sich selbst, positive, ja humane Werte zu transportieren und zu fördern? Welche Wirkungen – etwa im Hinblick auf eine Förderung des Fairplay-Gedankens – können Sie ausmachen?
DIGEL: Für die Verantwortlichen des Sports muss es meines Erachtens die alles entscheidende Frage sein, welche Kultur des Wettbewerbs im sportlichen Wettbewerb zu pflegen ist, welche Rolle dabei die im Konsens vereinbarten Regeln zur Ausübung des Sports zu spielen haben und welche herausragende Leitfunktion in diesem Zusammenhang dem Fairplay-Prinzip zukommt. Für mich ist und bleibt es konstitutiv für den modernen Sport, dass er sich in einer äußerst kunstvollen Weise schriftliche Regeln gegeben hat. Jede einzelne Regel im Regelbuch der Sportarten ist und soll dabei an der Maxime des Fairplay ausgerichtet sein.
Auf diese Weise zeichnet sich der Sport durch ein autonomes Wertesystem aus. Einzelne Werte finden sich auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, doch das Wertegefüge des Sports ist dennoch etwas Besonderes. Nur weil dies gewollt war, konnte der Sport in den vergangenen 200 Jahren ein bedeutsames pädagogisches Medium in der öffentlichen Bildung werden. Nur weil dies gewünscht war, konnte der sportliche Wettkampf zu einem Faszinosum werden an dem Menschen aller Kulturkreise interessiert sind.
HÖFER: München bewirbt sich um die Ausrichtung der Olympischen Winterspiele des Jahres 2018. Wie bewerten Sie die Bewerbung im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Bedeutung? Tut München 2018 Deutschland gut?
DIGEL: Die Olympischen Spiele können das herausragendste Ausdrucksmittel für die Werte des Sports sein. Die Olympische Charta bietet hierzu ein Fundament, das nicht nur in der Geschichte seine Bedeutung hatte. Diese Charta ist auch für die aktuelle und zukünftige Entwicklung des modernen Sports von herausragender Bedeutung. Angesichts dessen, was bei der Ausrichtung Olympischer Spiele symbolisch zur Darstellung gebracht werden kann, angesichts dessen, was junge Menschen bei ihren Wettkämpfen während der Olympischen Spiele erfahren und erleben, angesichts dessen, wie Olympische Spiele in der ganzen Welt angenommen, miterlebt und geschätzt werden, ist es mehr als naheliegend, dass Deutschland sich bemüht, dieses einmalige Sportereignis einmal mehr auszurichten.
Die Bewerbung von Garmisch-Partenkirchen und München ist meines Erachtens mehr als erwünscht, sie ist für mich eine gesellschaftspolitische Notwendigkeit erster Ordnung. Wenn im Jahr 2018 diese Spiele in Garmisch-Partenkirchen und in München stattfinden, wenn Deutschland Gastgeber dieser Spiele ist, so tut dies Deutschland gut. Sehr viel wichtiger aber ist es, dass Deutschland auf diese Weise einen äußerst wichtigen Beitrag erbringt, aus dem auch viele Partner in der Welt ihren Nutzen ziehen können.
HÖFER: Wie bewerten Sie die Chancen der Bewerbung?
DIGEL: Die Chancen sind meines Erachtens sehr gut. Mit der bayrischen Kultur hat die deutsche Bewerbung ein Merkmal aufzuweisen, das sich international durch eine außergewöhnliche Beliebtheit auszeichnet. Die Wettkampfkonzeption entspricht höchsten Maßstäben und für das IOC wäre eine Austragung der Spiele in Deutschland nahezu risikolos.
Quelle: DOSB