Symbolbild - Olympiastadion Berlin - Foto: Horst Milde
Special Olympics in Berlin 2023: Ein „Doppelwumms für Inklusion“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Auch wenn der Fußball zeigt, dass beim Sportfest für Menschen mit Beeinträchtigungen nicht alles funktioniert: Die Special Olympics sollen etwas bewegen – und als „happy games“ in Erinnerung bleiben.
Es ist ein Kreuz mit dem Fußball der deutschen Nationalmannschaft. 9:0 hat Team 1 im Finale bei den Weltspielen der Special Olympics Uganda besiegt und damit eine Goldmedaille gewonnen. Doch noch bevor der Jubel über den Sieg und die vielen Treffer beim Turnier auf dem Maifeld verklang, auf dem Gelände des Olympiastadions von 1936, zeigte sich, dass dieses Ergebnis nicht nur Grund zur Freude, sondern auch für großen Ärger ist.
Im Gegensatz zur Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes von Bundestrainer Hansi Flick, die unter unerklärlicher Schwäche leidet, war das Special-Olympics-Team von Trainer Michael Kürten deutlich unterfordert. 25:0 besiegte es im Halbfinale die Schweiz – und beklagte, in der falschen Leistungsklasse eingeordnet zu sein. „Dies war kein triumphaler Erfolg“, kommentierte Delegationsleiter Tom Hauthal den viel zu leichten Erfolg seiner Kicker: „Das Konzept der Special Olympics sieht genau so etwas nicht vor.“
„Gemischte Gefühle“
Libero Vincent Grüneberg räumte „gemischte Gefühle“ ein. Leistungsunterschiede, wie sie sich in diesen Spielen gezeigt hätten, widersprächen dem olympischen Gedanken. Trainer Kürten klagte gegenüber dem „Kicker“ gar: „Wenn sich das nicht ändert, wenn das Turnier nur dafür da ist, irgendetwas darzustellen, und nicht für den Sport an sich, dann werden wir bei Special Olympics nicht mehr antreten.“
Unterfordert: Die deutsche Nationalmannschaft sah sich bei den Special Olympics der falschen Leistungsklasse zugeordnet.
Mindestens ebenso wie die vielen Treffer spricht das Bemühen für die Mannschaft, in die stärkste Leistungsgruppe des Turniers aufgenommen zu werden. Doch das scheiterte an der Mathematik und der Halsstarrigkeit des Technischen Delegierten für den Wettbewerb. Drei Tage lang spielten die Mannschaften gegeneinander, um ihr Niveau zu definieren. In Berlin ergab sich der Cut zwischen den sechstplatzierten Ägyptern und Deutschland 1 – keine Auswahl, sondern praktisch die Betriebssportgruppe der Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung, die Berliner und deutscher Meister im Wettbewerb der Werkstätten sind.
Das Bemühen, mit den Ägyptern zu tauschen oder als siebtes Team oben mitzuspielen, hatte keinen Erfolg. In den vierzehn Jahren seiner Tätigkeit im Sport für Menschen mit intellektuellen Defiziten habe er eine solche Fehleinschätzung zum ersten Mal erlebt, klagte Hauthal. Bei den Special Olympics gehe es darum, dass jeder nach seinen Fähigkeiten eine faire Chance auf den Erfolg habe. Den deutschen Spielern, allesamt Berliner, die vor Familie, Freunden und Kollegen spielten, die sich monatelang auf das Turnier vorbereitet hätten, Zurückhaltung aufzuerlegen sei unmöglich gewesen.
Gleichwohl dankte die Schweizer Delegation nach den vierzig Minuten mit 25 Gegentreffern. Sie erkannte Sportsmanship im nächtelangen Bemühen der Deutschen um die höhere Klassifizierung. Die Systematik soll verhindern, dass unterlegene Athleten und Mannschaften just durch solche Resultate gedemütigt werden. In der leistungsstärksten Klasse besiegte am Samstag Südafrika im Spiel um die Goldmedaille Aruba. Hauthal hält es für fraglich, dass die Berliner in dieser Klasse das Finale erreicht hätten.
Ansteckende Freude
Den besonderen Geist der Special Olympics hatte Bundeskanzler Olaf Scholz, als er die Spiele am Freitag besuchte und eine „sehr friedliche, sehr olympische Stimmung“ feststellte, so zusammengefasst: „Mitmachen ist fast wichtiger als gewinnen.“ Die Spiele von Berlin würden als die „happy games“ in Erinnerung bleiben, konstatierte Mary Davis, die Vorstandsvorsitzende der Special Olympics International.
Die Freude der Gastgeber sei ansteckend gewesen, die Spiele in Berlin und das vorausgehende Host-Town-Konzept, bei dem Teams aus aller Welt in mehr als zweihundert Gemeinden Deutschlands willkommen geheißen wurden, hätten für eine inklusivere Welt gesorgt. Am Samstag war der Andrang der Besucher so groß, dass auf dem Messegelände mit vielen Hallensportarten zeitweise der Zugang auf die Tribünen gesperrt werden musste. Insgesamt hatten die Spiele 330.000 zahlende Zuschauer. Sie gingen am Sonntagabend mit einer Veranstaltung am Brandenburger Tor zu Ende.
Die Special Olympics seien nicht mit dem Schlusstag der World Games beendet, sagte Juliane Seifert, Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, das die Veranstaltung, ebenso wie das Land Berlin, mit 70 Millionen Euro förderte. Die Veranstaltung sei ein „Doppelwumms für Inklusion“ gewesen und hätte Maßstäbe für andere Großveranstaltungen gesetzt; bei der Fußball-Europameisterschaft im kommenden Jahr etwa werde es Volunteer-Tandems geben mit Menschen mit eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten.
Leo Heckel, Freiwasserschwimmer und Athletensprecher, machte geradezu drastisch deutlich, dass er sich mit den zwei Silbermedaillen, die er in Berlin gewonnen hat, nicht zufriedengeben will.
Freiheit und Inklusion nennt der Hamburger in einem Atemzug und fordert: „Es bringt nichts, nur drüber zu reden. Wir müssen es tun.“ Gerade diejenigen gelte es mit Sportangeboten zu erreichen, die nicht laufen könnten, die im Rollstuhl sitzen: „damit auch sie gesund leben können und nicht an Fettleibigkeit sterben“.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 25. Juni 2023