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08
03
2015

Sommermarathon im Februar - Andreas Palm berichtet ©Andreas Palm

Sommermarathon im Februar 2015 – SEVILLA – Andreas Palm berichtet

By GRR 0

Eine milde Brise weht durch die Gassen der Altstadt und lässt die Blätter der Palmen und Orangenbäume leise im Wind rauschen, während sich der Duft von Weihrauch in die frühlingshafte Abendluft mischt.

“Klipp-Klapp, Klipp-Klapp” hallt es durch die Avenida de la Constitución, neben mir die Hufe eines edlen Zugtiers mit seinem touristenbefüllten Anhängsel und hinter mir der Rollkoffer, der über das Pflaster klappert, während ich in Richtung der Kathedrale von Sevilla schreite. Das nasskalte und graue Hamburg für ein paar Tage hinter sich lassen und den ersten Marathon des Jahres in der prächtigen Hauptstadt Andalusiens gemeinsam mit den Sevillanos zelebrieren, so der Plan. Bereits der erste Abend nach der Ankunft präsentiert sich äußerst vielversprechend und macht Lust auf die folgenden vier Tage

Die Reise beginnt einige Stunden früher im monochromen Grau der Hansestadt, als plötzlich die aktuelle Ausgabe der Runner’s World auf dem freien Sitz neben mir landet. Aha, die junge Dame aus Kiel ist ebenfalls Läuferin. Sie ist zwar genau wie ich unterwegs nach Andalusien, aber nicht zum Maratón de Sevilla, sondern zu einem Laufcamp an der Costa de la Luz. Runner’s World, Greif, Laufwerk Hamburg und diverse Proficamps, da unten am Mittelmeer müssen sich die Läufer gerade stapeln, denke ich, während sich auch noch das Pärchen hinter uns, als Teilnehmer des Greif-Camps outet.

Läufer sind schon ein umtriebiges Völkchen. Bei einem kurzen Zwischenstopp auf des Deutschen liebster Urlaubsinsel trennen sich unsere Wege und für mich geht es in einem gut einstündigen Flug weiter in Richtung Sevilla. Das eigene Gepäck ist schnell zwischen all den anderen schwarzen Rollkoffern gefunden und der Flughafenbus der Línea EA spuckt mich für schlappe 4 Euro nach gut 30 Minuten Fahrt direkt am Torre del Oro am südwestlichen Ende der Altstadt aus. Von dort sind es nur ein paar Minuten bis zur Rezeption vis a vis der größten gotischen Kirche der Welt.

Nach dem Check-In geht es dann noch zwei Gassen weiter und 62 Stufen hoch zu meinem Appartment in den vierten Stock. Mein Glück in Sachen Unterkunft lässt mich auch diesmal nicht im Stich, denn neben einer modern eingerichteten Wohnung, samt Küche und Waschmaschine habe ich auch noch eine gemütliche Terasse über den Dächern der Altstadt mit Blick auf die Giralda, dem Wahrzeichen der Stadt an dem man noch deutlich die wechselvolle Geschichte zwischen maurischen Einflüssen und katholischer Rückeroberung ablesen kann. Der Blick hinunter in die mit Flaneuren gefüllten Gassen und die milde Frühlingsluft laden zu einem ersten abendlichen Rundgang und die gemütliche Bar an der Ecke lockt mit Tellern voll appetitlicher Tapas.
 
Am nächsten Morgen ziert sich Señorita Sevilla noch etwas und hält sich in Sachen Wetter eher bedeckt. Ein guter Zeitpunkt also, den Pflichtteil des Tages, die Marathon-Messe, zu erledigen, aber nicht ohne zuvor in dem kleinen Café da unten in der Altstadt noch Chocolate con Churros als kleine Stärkung für den Tag zu sich zu nehmen. Glücklicherweise bin ich Süßspeisen nicht übermäßig zugetan, aber die frittierten Ringe aus Brandteig in die verflüssigte Schokolade zu tauchen, ist schon etwas ausgesprochen Leckeres.

Mit gefülltem Hüftgold-Depot und leicht erhöhten Blutzuckerwerten geht es dann los in Richtung Bushaltestelle. Den Maratón de Sevilla kann man leider nicht als Marathon der kurzen Wege bezeichnen. Denn während sich Start und Ziel des Marathons am Olympiastadion auf der westlichen Seite der Stadt befinden, ist die Messe relativ weit draussen in den östlichen Randgebieten unter der goldenen Kuppel des Kongresszentrums “Fibes” platziert. Da beides aber relativ gut mit dem Bus zu erreichen ist, stört es eigentlich nicht wirklich und so kommt man auch mal in Stadtteile, in die sich Touristen sonst eher nicht verirren und in denen die ganz normalen Sevillanos leben. Da ich bereits zehn Minuten nach Öffnung der Messe eintrudel, ist die Startnummer fix abgeholt und die Freude über die leichte Jacke, die es statt des obligatorischen Shirts als Zugabe zu den Startunterlagen gibt, sehr groß.

Danach grase ich noch die Messestände nach weiteren Startmöglichkeiten für die nächste Saison ab und werfe die Gewinnspielkarte um den Startplatz beim Maratón de Málaga in die Lostrommel. Das angebotene Radler nehme ich so früh am Vormittag dann doch lieber in Dosenform für den späteren Gebrauch mit und während ich der gerade eintrudelnden Masse an Lauftextil in Richtung Bus entgegenstrebe, blinzelt die Sonne bereits schüchtern zwischen den Wolken hervor.
 
Ich verlasse den Bus der Linie 27 an der Plaza Encarnatión, vielen Sevilla Besuchern wohl eher bekannt durch die organische Holzkonstruktion, die den Platz seit einigen Jahren als neues und nicht unumstrittenes Wahrzeichen füllt. Der Metropol Parasol des deutschen Architekten J. Mayer H. wirkt wie ein Ufo, eine hölzerne Wolke oder eben die namensgebenden Pilze, die dort aus dem Boden wachsen und die Altstadtarchitektur durchbrechen. Ob man das Ensemble nun mag oder nicht, ist natürlich Geschmackssache, aber ein Hingucker ist die überdimensionale Gitterstruktur auf jeden Fall. Von unten, wie von oben.

Ein futuristisch gestalteter Fahrstuhl führt mich in die Cafébar auf dem Dach der Pilze und auf dem Rundweg, der sich über die künstliche Hügellandschaft windet, bieten sich mir beeindruckende Ein-, Aus- und Durchblicke. “Was für ein herrliches Wetter”, geht mir durch den Kopf, während ich mir die erste Cerveza über den Dächern Sevillas bei inzwischen strahlendem Sonnenschein schmecken lasse.

Nur beim Gedanken an den längeren Lauf, der da am nächsten Tag stattfinden soll, wird mir aufgrund der Temperaturen etwas mulmig. Für den heutigen Sightseeing-Ultramarathon aber, könnte man sich kaum bessere Bedingungen wünschen und so führt mich der Weg vorbei an den Sehenswürdigkeiten der Altstadt, durch die engen Gassen des Barrio Santa Cruz, über belebte Plätze und durch Parks voll überreifer Früchte, die sich in der Absicht, als Orangenmus zu enden, von den Bäumen stürzen und die Besucher dabei oft nur knapp verfehlen. An der prächtigen Plaza de España wird im Schatten der Treppenhäusern Tangounterricht gegeben und an der den hohen Aussenmauern der Alcázar virtuos die Transkriptionen von Isaac Albéniz auf den Saiten einer Konzertgitarre gezupft.
 
Ich lasse mir gerade das erste Freilufteis des Jahrgangs 2015 schmecken, als sich die Straßen mit Musik südamerikanischen Ursprungs füllen und farbenfroh gekleidete und aufwändig kostümierte Damen, Herren und Kinder beginnen, über das Kopfsteinpflaster zu tanzen. Die Art der Hüte, die Muster der Kleidung und die mitgeführten Fahnen lassen vermuten, dass es sich um ein Fest der indigenen Völker Boliviens und Perus handelt, welches den Sevillanos und Touristen gleichermaßen ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Gut gelaunt geht es dem Sonnenuntergang in Richtung Alameda de Hércules entgegen.

Die große Freifläche im Herzen der Innenstadt ist umsäumt von netten Bars und Cafés, in denen man genüßlich speisen oder entspannt einen abendlichen Absacker zu sich nehmen kann. Das Publikum rekrutiert sich vornehmlich aus jungen, hippen und kreativen Sevillanos, die ihre Bärte und Gitarrenkunst zur Schau stellen. Das Viertel vibriert, überall ist Musik, angeregte Gespräche und tobende Kinder, ein buntes Treiben, Bohemian Rhapsody. „Is this the real life, is this just fantasy?” Berauscht von Stimmung und Cerveza geht es nun mit reichlich Bettschwere zurück in Richtung Appartment, wo noch schnell die Startnummer am Shirt fixiert und der Wecker für den kommenden Morgen gestellt wird.

Nach einer erholsamen Nacht trällert das Mobiltelefon um Punkt Sieben Uhr sein morgendliches Wecklied und die Pre-Marathon-Routine zwischen Vaseline und Heftpflaster beginnt. Jedes Fältchen aus Socken und Funktionsfaser streichen und sorgsam die Laufschuhe auf kleinste Krümel oder Steinchen absuchen, denn jede noch so kleine Unachtsamkeit könnte sich später bitterlich rächen. Schnell noch ein schlabberiges Schokocroissant inhalieren und dann geht es auch schon mit dem Klamottenbeutel über der Schulter hinaus in den finsteren und mit 6 Grad noch recht kühlen Morgen. Scheinbar bin ich hier mitten in der Altstadt der einzige Läufer, ja der einzige Mensch überhaupt, der um diese Zeit unterwegs ist.

Statt mit dem Bus zu fahren, entscheide ich mich, die drei Kilometer zum Start zu Fuß zurückzulegen und folge der grünen Markierung auf dem Pflaster der Altstadt. Gasse um Gasse, Avenida um Avenida lasse ich hinter mir, bevor ich einen orangenen Plastikbeutel und damit den ersten anderen Verrückten erblicke. Aus zwei werden vier, aus vier werden zehn. Als ich die Barqueta-Brücke überquere sind es schon einige hundert Läufer, die aus allen Richtungen zusammenkommen und auf ihrem weiteren Weg zum Stadion einen breiten Strom aus aufgeregt plappernder Funktionskleidung formen.

Das in den Neunziger Jahren erbaute Olympiastadion ist eine kantige Trutzburgs mit leichten Gebrauchsspuren in der Ästhetik eines Parkhauses, also nicht unbedingt eine Augenweide.

Im Inneren findet sich zwischem grauem Beton die straff und gut organisierte, komplett orange gehaltene Tütenablage. Da der Startbereich gut 800 Meter vom Stadion entfernt ist, übergebe ich meine Habseligkeiten schon jetzt 45 Minuten vor Startschuss an den freundlichen Herrn in dem mir zugeteilten Nummernblock und mache mich bei immer noch kühlen 8 Grad in kurzer Hose und Laufshirt auf den Weg. Die ersten Sonnenstrahlen klettern mühsam über die Dächer und werden auf der leichten Anhöhe neben den Startblöcken dankbar von der bibbernden Menge absorbiert. Mehr als elftausend gemeldete Läufer stehen hier auf der Avenida Carlos III und lassen die Luft über ihren Köpfen flirren, wie man es sonst von heißem Asphalt im Hochsommer kennt.

War ich bis zu diesem Moment erstaunlich entspannt, so beginnt nun doch langsam das Kribbeln im Bauch und die Lautsprecherdurchsagen, die Applauswellen und der Countdown zum Start tun auch auf Spanisch ihr Übriges. Diez … Nueve … Ocho … Siete … Seis … Cinco … Cuatro … Tres … Dos … Uno … PENG! Los geht’s!

Nur drei Minuten dauert es, bis auch mein Startblock über die Messmatten an der Startlinie trabt. Auf den ersten drei Kilometern ist dank der vierspurigen Straße genügend Platz, um erstmal sein Tempo zu finden und in den eigenen Laufrhythmus zu kommen. Kein Gedränge, kein hastiges Überholen sondern eine homogene Tempogruppe, die ich in der Form bisher selten erlebt habe. Als ich den ersten blauen Ballon der Pacemaker überhole, wundere ich mich ein wenig, war doch der magische Vier-Stunden-Ballon hinter mir im Starterfeld und nun überrunde ich den 4:15er? Seltsam.

Noch sonderbarer kommt mir aber der 4:30er vor, den ich dann bei Kilometer fünf hinter mir lasse. Da ist wohl etwas schief “gelaufen”. Etwa einen Kilometer vorher wird das Feld von vier auf zwei Fahrbahnen zusammengeführt, was aber auch reibungslos klappt. Ich bin zu diesem Zeitpunkt in einem Tempo von 5:40 Minuten pro Kilometer unterwegs und es fühlt sich absolut entspannt an. Den ersten Getränkepunkt bei Kilometer 5 lasse ich aus und kurz danach geht es über den Canal de Alfonso XIII zurück an den Rand der Altstadt, am Torre del Oro spielt die erste Band druckvollen Punkrock und schickt uns vorbei an der Stierkampfarena (Plaza de toros de la Real Maestranza de Caballería de Sevilla) immer am Ostufer des Kanals entlang bis zu der von Santiago Calatrava gestalteten Alamillo Brücke. Statt sie zu überqueren, lenkt uns die Strecke nach rechts und wir erreichen Kilometer Zehn.

An dem kurz dahinter platzierten Getränkepunkt greife ich bei einem Becher Wasser zu, wohlwissend, dass die Temperaturen noch deutlich steigen werden und auch jetzt schon knapp 12 Grad im Schatten erreicht sind. Bis zur Halbmarathonmarke kann ich das Tempo bei 5:45 halten und es fühlt sich auch weiterhin sehr entspannt an. Die Strecke geht durch die nördliche Vorstadt und das Bahnhofsviertel und hält sowohl lange schnurgerade Passagen gänzlich ohne Zuschauer als auch sehr belebte Plätze mit frenetischem “¡Vamos!”, “¡Ánimo!” und “¡Bravo!” parat.

Puh, die Hälfe ist geschafft, aber die Sonne steht nun zunehmend senkrecht über den Straßenschluchten am wolkenlosen Himmel und heizt die Luft auf 20 Grad im Schatten.

Nur hat Schatten auf den folgenden Passagen echten Seltenheitswert und so sind die realen Temperaturen auf der Strecke wohl eher bei 25 Grad angesiedelt. Eigentlich Bedingungen unter denen man durchaus gut laufen kann, da aber meine gesamte Vorbereitung bei Temperaturen um den Gefrierpunkt stattgefunden hat, bin ich an dieses Klima schlicht nicht gewöhnt und spüre, wie mir die Sonne zunehmend zusetzt. Die Frequenz der Pausen an den Versorgungspunkten erhöht sich und ich nehme nun an jedem Stand im Abstand von 2,5 km Wasser und Isodrink im Wechsel zu mir. Das scheint mir bis Kilometer 30 auch ganz zu bekommen. Ich klatsche mit Kindern ab, die mir eifrig ihre kleinen Hände entgegenstrecken und spende den Trommelgruppen am Streckenrand Applaus.

Das Tempo habe ich inzwischen aber herausgenommen und laufe nur noch einen Schnitt von 6:00 bis 6:15, befinde mich damit aber immer noch auf Bestzeitkurs. Die Strecke führt uns an das südliche Ende der Stadt und durch die Seitenstraßen kann ich immer wieder einen Blick auf die entgegenkommenden Läufer auf der Avenida la Palmera erhaschen, bevor auch ich am Wendepunkt angekommen bin und selbst auf die mit Palmen gesäumte lange Gerade abbiege. Für eine vierspurige Hauptstraße ist die Palmera zwar wirklich schön anzuschauen, bietet aber leider keinen Quadratzentimeter Schatten und zwingt mich so zu meiner ersten längeren Gehpause.

Auch die freundlichen Sevillanos, die mich mit “¡Bravo, Andreá, Vamos … Go Go Go!” zum Weiterlaufen motivieren, haben nur kurzzeitig Erfolg. Ein paar Meter laufen und dann doch wieder Schritttempo, so holpere ich die endlose Gerade hinunter, bis ich endlich den schattigen María Luisa Park erreiche und wieder einen Rhythmus finde. Leider ist das Teilstück durch den Park nur gut 800 Meter lang und schon wartet wieder die pralle Sonne an der Plaza de España, wo ich mich gerade noch mit Mühe und Not für die Fotografen aufraffen kann, ein Stück zu laufen.
 
Wenn es bei Kilometer 36 schon so holprig läuft, sollte man sämtliche Zeitambitionen über Bord werfen, was ich dann auch tue. Im Minutentakt werde ich hunderte Plätze nach hinten durchgereicht, freue mich aber trotzdem auf das Teilstück, welches nun vor mir liegt. Die Kilometer 37 bis 40 befinden sich komplett in der Innenstadt Sevillas und vor der Kathedrale, an der Plaza Nueva und auf der Alameda de Hércules läuft man durch ein Spalier von Menschen, die uns Läufer lautstark anfeuern und auch mich immer wieder motivieren können, ein Stück weiterzulaufen.

Kurz vor der Barqueta-Brücke taucht dann aber eine dieser Steigungen auf, die man bei einem gemütlichen Spaziergang warscheinlich nicht mal bemerken würde, die einem bei Kilometer 40 eines Marathons aber die letzte Kraft aus den Beinen saugt. Dieser popelige Höhenunterschied von vielleicht drei oder vier Metern führt dazu, dass der nächste Kilometer im wahrsten Sinne des Wortes ein Spaziergang wird. Am Getränkepunkt bei Kilometer 40,5 werden schon die ersten Tische zusammengeklappt, als ich erschöpft über die plattgetretenen Pappbecher wanke.

Wohlwissend, dass mir in den nächsten zwei Stunden aber noch einige tausend Läufer folgen werden, spende ich den Freiwilligen, die dort stundenlang für uns in der Sonne stehen, Applaus und ernte im Gegenzug abermals die Motivation den letzten Kilometer dann doch läuferisch zu bewältigen. Ein letzter Kreisverkehr ist zu umrunden, bevor der Stadionklotz in Sichtweite auftaucht, unter der Schnellstraße hindurch, ab in den Tunnel unter der Südkurve und dann kommt dieser Moment, den einige der geneigten Leser eventuell vom Olympiastadion Berlin kennen.

Man erblickt sich selbst auf einer überdimensionalen Videowand und bekommt unweigerlich Gänsehaut, während man sich selbst beim Einlauf ins Stadion zuschauen kann. Huuuuaaah! Von innen ist das Olympiastadion dann auch gar nicht so häßlich, wie es die schroffe Aussenhaut suggeriert. Eine halbe Stadionrunde auf der abgewetzten Tartanbahn bevor auf den blauen Gummimatten eine Armada von Fotografen und das herbeigesehnte Ziel warten.

Ein Moment der Rührung und Erschöpfung. Nicht stehenbleiben, bloß nicht stehenbleiben! Ein lächelndes Gesicht hängt mir mit einem “¡Enhorabuena!” auf den Lippen das schwere zur Giraldillo geformte Metall um den Hals und ich bin überglücklich.

In den Katakomben unter den Rängen werden die obligatorischen Plastiktüten verteilt, die die Läufer für ein paar Minuten wärmen sollen, um dann die Mülleimer und Container rund ums Stadion zu verstopfen. Ich lehne dankend ab, denn die Restwärme für die 5-10 Minuten bis zur Kleideraufbewahrung habe ich dann doch noch. Ein Verpflegungsbeutel wird mir gereicht und diverse Getränkestände bieten von Wasser über Gatorade und Cola bis zum Radler alles was das Läuferherz begehrt.

Die scheinbar unendliche Rampe, die man dabei zurücklegt, führt dann aber doch irgendwann zu der Beutelablage und danach auf die sonnige Wiese vor dem Stadion. Kurz ein Lebenszeichen nach Deutschland absetzen und in frischen Klamotten die Sonne geniessen, bevor es durch den Alamillo Park und über die Alamillo Brücke am Ostufer des Kanals wieder zurück in Richtung Appartment geht.

Die Tatsache, dass mir die Treppen in den vierten Stock dann doch nicht so sehr zusetzen, wie erwartet, legen wiederum die Vermutung nahe, dass ich zu meiner Schande wohl doch nicht Alles beim Marathon gegeben habe. Die durchnässte Wäsche in die Maschine und der geschundene Körper unter die Dusche. Ein Radler auf der Dachterasse später fühle ich mich auch langsam wieder wie ein Mensch und breche zur Nachmittagsrunde durch die Stadt auf. Am Vorabend hatte ich dieses charmante Lokal namens “La Estraza” in dem bunten Bohème-Viertel oberhalb der Alameda de Hércules entdeckt, welches seine Speisekarten auf alte 7-Inch-Plattenhüllen druckt und zwischen diversen Rock’n’Roll- und Film-Memorabilien appetitlich aussehende Burger und Tapas’n’Roll aus der Soulkitchen kredenzt.

Genau das Richtige nach gut 42 Kilometern durch die andalusische Hauptstadt, denke ich mir und ordere die “Chorizo criollo in Hell” (das Würstchen aus der Hölle) und noch einen Iberischen Burger als kleine Beilage. Laufen macht hungrig und die enthaltenen Kalorien habe ich ja quasi im Voraus verbrannt.

Überall in Sevilla erblickt man nun Menschen, die leicht humpeln, ein Bein nachziehen oder an den Bordsteinkanten deutlich hörbar stöhnen. Man nickt sich anerkennend zu und muss schmunzeln, wenn man wieder einen Leidensgenossen erblickt, wie er ängstlich zögernd vor einer Treppe steht. So richtig schlimm aber, das weiß ich inzwischen nur zu gut, wird es erst am nächsten Morgen. Selbiger beginnt genau wie der am Vortag zunächst bewölkt und ist damit perfekt geeignet für eine Besichtigung der Kathedrale in deren unendliche Wartegemeinschaft ich mich am Wochenende partout nicht einreihen mochte.

Am heutigen Montagvormittag steht aber nur eine handvoll Touristen am Hauptportal unterhalb der Vorlage des Medaillenmotivs El Giraldillo und wartet auf Einlass in die heiligen Hallen. Deutsche Rentner sind omnipräsent und üben sich auch hier in ihren Lieblingsdisziplinen, dem Meckern und Mosern. Schnell die neun Euro zahlen, nix wie weg von der misanthropen Reisegruppe und hinein in den über und über mit Blattgold, Marmor und edlen Hölzern gefüllten Sakralbau.

Riesige Altäre, opulent verzierte Kapellen, gigantische Orgeln, üppig gefüllte Schatzkammern und Gold, Gold, Gold auf insgesamt 23.500 Quadratmetern … Ich bin erschlagen!

Etwas Erholung für die Augen verspricht der Weg hinauf, auf den Glockenturm, das ehemalige Minarett, die Giralda. 35 Stockwerke und nur 17 Stufen? Wie soll das möglich sein, überlege ich noch, während die Antwort bereits hinter der nächsten Ecke lauert. Oha, der Weg nach oben führt über Rampen und was schmerzt am Tag nach einem Marathon noch mehr als Treppen? Richtig … Steigungen!

Nach der zehnten Rampe haben sich die Beine aber langsam wieder daran gewöhnt, gefordert zu werden und so geht es zunehmend leichtfüßig bergauf. Auf Ebene 22 brechen die ersten Sonnenstrahlen durch die Scharte in der meterdicken Aussenwand und oben angekommen, strahlt sie schon wieder in ihrer ganzen Pracht über den Dächern der Stadt. Wow, da ganz hinten bei der Schrägseilbrücke von Calatrava waren wir unterwegs und da unten an der Plaza de España und da drüben und da auch. Von oben sieht so eine Marathonstrecke schon beeindruckend aus und ich frage mich wieder einmal: “Wie hast du das bloß geschafft…?

Dieser Text kann natürlich nur einen winzig kleinen subjektiven Einblick in diese wunderbare Stadt und in das hintere Teilnehmerfeld des Marathons geben. Jede Sehenswürdigkeit und jeder Streckenabschnitt hätte sicherlich mehr Worte und Bilder verdient, aber das würde den Rahmen dieses Blogs dann doch zu sehr sprengen.

Sollten Fragen offen sein, dann scheut euch nicht, sie unten in den Kommentaren zu stellen.

Andreas (Rundreas) Palm

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