Mahnmal Synagoge Levetzowstraße - Foto: Dina Fiehn
Solange du dich an mich erinnerst, bin ich nicht tot. – Acht Synagogen auf 13 Kilometern – Jüdisches Leben in Berlin-Charlottenburg – gestern und heute – Gedanken über einen Erinnerungslauf am 27. Januar 2023 von Dr. Erdmute Nieke
Solange du dich an mich erinnerst, bin ich nicht tot.
Die Gedenkstunde im Plenarsaal des Bundestages zum Holocaustgedenktag ist längst vorbei, als sich um 18 Uhr am Rande des Tiergartens elf Läufer:innen treffen, um sich auf eine besondere Spurensuche jüdischen Lebens in Berlin-Charlottenburg zu begeben.
Vor einhundert Jahren lebten in Charlottenburg, dem aufsteigenden bürgerlichen Stadtteil von Berlin, über 30 000 Menschen jüdischen Glaubens. Endlich konnten sie ihren Glauben gleichberechtigt leben, endlich konnten sie eigene und auch repräsentative Versammlungsstätten errichten und so entstanden zwischen 1890 und 1923 auf engstem Raum in Charlottenburg sechs Synagogen.
KZ Auschwitz – Birkenau – Bahngleise der Entladerampe – Foto: Wikipedia-Commons-
Am Abend des 27. Januar 2023 – 78 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz – laufen wir 13 Kilometer und machen Pause an acht Orten, an denen Synagogen standen oder stehen:
EINS Synagoge Levetzowstraße – 1914 eingeweiht – 2120 Sitzplätze – 9.11.1938 angezündet – danach Sammellager für 20 000 Menschen, die von hier aus in die Gettos und Konzentrationslager deportiert wurden – 1955 abgerissen – heute Sportplatz und Mahnmal Flammenwand
ZWEI Synagoge Behaimstraße – 1890 eingeweiht – 280 Plätze – 9.11.1938 demoliert – 1957 Ruine abgerissen – heute Wohnhaus mit Erinnerungstafel
Gedenktafel Synagoge Behaimstraße – Foto: Dina Fiehn
DREI Synagoge Herbartstraße – 1981 eingeweiht – mit Jeanette-Wolff-Seniorenzentrum und Leo-Baeck-Altenwohnheim
Gruppe vor der Synagaoge Herbartstraße – Foto: Iki Freiwald
VIER Synagoge Friedenstempel Markgraf-Albrecht-Straße – 1923 eingeweiht – 1450 Sitzplätze – 9.11.1938 angezündet – 1959 Ruine abgerissen – heute Wohnhaus mit Erinnerungstafel
Synagoge in der Markgraf-Albrecht-Straße – Foto: Dina Fiehn
FÜNF Synagoge Kantstraße – 1908 eingeweiht – 280 Sitzplätze – 9.11.1938 Anwohner verhindert Brandstiftung, weil die Synagoge im 2. Hinterhof eines Wohnhauses steht – 1939 Aufgabe der Synagoge – heute Kunstatelier
Ehemalige Synagoge in der Kantstraße – Foto: Iki Freiwald
SECHS Synagoge Pestalozzistraße – 1911 eingeweiht – 1400 Plätze – 9.11.1938 schwer demoliert, nicht in Brand gesteckt, weil im Hinterhof zwischen Wohnhäusern – 1947 wieder eingeweiht
SIEBEN Synagoge Fasenenstraße – 1912 eingeweiht – 1720 Sitzplätze – 9.11.1938 in Brand gesteckt – 1939 Zwangsverkauf – 1957 Abriss der Ruine – 1959 Errichtung des jüdischen Gemeindehauses
ACHT Synagoge Joachimsthaler Straße – 1960 eingeweiht – 300 Sitzplätze
Die hier nüchtern aufgelisteten Fakten füllen sich bei unserem Lauf mit viel mehr Lebendigkeit.
An vier Orten gibt es heute jüdisches Leben, wir bemerken es immer an der Polizeipräsenz an diesen Gebäuden. Die Polizisten schauen aufmerksam, was wir da tun. Wir erzählen ihnen, dass wir auf den Spuren jüdischen Lebens unterwegs sind an diesem besonderen Tag.
An den zerstörten Orten legen wir weiße Rosen nieder. Wir betrachten Bilder von den zerstörten Gebäuden und können die einstige Pracht auf den alten Fotos erahnen. Wir hören Geschichten, die zum Bau der Synagogen geführt haben und was das Leben in den jeweiligen Gemeinden prägte.
Wir hören Biographien von Menschen, die mit den Orten in Verbindung standen und stehen.
Wir erinnern uns an Jeanette Wolff (1888-1976), Jüdin und Sozialdemokratin, Holocaust-Überlebende, Berliner Stadtverordnete und Bundestagsabgeordnete.
Dr. Joachim Prinz (1902-1988) war Rabbiner am Friedenstempel, konnte 1937 in die USA emigrieren und sprach 1963 gemeinsam mit Martin Luther King beim Marsch auf Washington.
Dr. Charlotte Klein (1914-1984) hat als Kind mit ihren Eltern in der Hinterhofsynagoge in der Kantstraße gebetet und berichtet kurz vor ihrem Tod davon. Sie wandert mit ihrer Familie nach Palästina aus, konvertiert, wird Nonne und schreibt Bücher über den Antijudaismus in der christlichen Theologie.
Rabbiner Yitshak Ehrenberg (*1950 in Jersalem) ist seit 1997 amtierende Rabbiner in der askenasisch-orthodoxen Synagoge in der Joachimsthaler Straße.
Wir finden unterwegs auch einige Stolpersteine, die heute mit Rosen und Kerzen geschmückt sind. Diese Orte halten die furchtbaren Taten wach und mahnen uns Nachgeborene, Antisemitismus nicht zuzulassen. Beim Laufen unterwegs haben wir Zeit für Gespräche und Gedanken über das jüdische Leben einst, nach 1945 und heute.
Nach 13 Kilometern kommen wir gute zwei Stunden später wieder am Tiergarten an. Bei heißem Tee, Salzigen und Süßem hören wir Musik von Daniel Kahn (*1978 Detroit), der seit 2005 in Deutschland lebt und jiddische, englische, russische und deutsche Texte mit Klezmer und Rockmusik verbindet.
Wir sammeln eine Spende für die Neve Hanna Kinderhilfe e.V., die in Israel seit 1974 ein Kinderheim für jüdische und muslimische Kinder betreibt und sich so für den Frieden zwischen den Religionen einsetzen.
Am Ende sind sich alle einig: Der Weg und die Zeit haben sich gelohnt. 78 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz sterben allmählich die letzten Zeitzeugen des Holocausts. Die Orte in der Stadt sind stumme Zeugen, an denen wir im Alltag oft achtlos vorüber laufen. Eine Gedenktafel oder ein Gedenkstein ist leicht zu übersehen. Bei diesem Lauf haben wir diese stummen Zeugen zum Sprechen gebracht.
Eingang zum KZ Auschwitz-Birkenau – Foto: Horst Milde
So lange wir die Geschichten der Menschen von diesen Orten erzählen, sind diese Menschen nicht gestorben. Tova Friedmann (*1938 in Gdynia/Polen), die Auschwitz überlebt hat, formuliert es so. Denn sie erzählt, dass ihr eine Grabinschrift gefällt: „Solange du dich an mich erinnerst, bin ich nicht tot.“ (TAZ vom 28.01.2023, S. 31)
Mögen Jüdinnen und Juden in Charlottenburg, in Berlin, in Deutschland und auf der ganzen Welt in Frieden leben können!
SCHALOM!
Dr. Erdmute Nieke
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