Silber mit links – Matthias de Zordo galt immer als großes Talent – der Zeitpunkt seines Erfolgs überrascht dennoch – Frank Bachner im Tagesspiegel
Die Rolle der Mütze darf man nicht unterschätzen. Matthias de Zordo hatte ohne seine Baseballkappe geworfen, das ist so, als würde Heino ohne Sonnenbrille auftreten. Noch nie hatte de Zordo ohne Mütze geworfen, in einem wichtigen Wettkampf zumindest nicht. Aber in Barcelona sagte Werner Daniels, der Trainer von Speerwurf-Vize-Europameisterin Christina Obergföll: „Lass doch mal die Mütze weg. Du kannst doch auch ohne weit werfen.“ Obergföll formulierte es deutlicher: „Werf’ weiter als bisher, sonst zerschneide ich dir deine Mütze.“
Also hat de Zordo experimentiert: Er trug keine Mütze, ausgerechnet im EM-Finale. Ein Experiment, bei dem seinem Trainer Boris Henry schon nach dem ersten Versuch „die Spucke weg geblieben ist“. Und da hatte sich de Zordo erstmal nur warm geworfen: Mit 86,22 Meter hatte er seinen eigenen Rekord um 1,84 Meter verbessert. Richtig ernst machte er im zweiten Versuch: 87,81 Meter weit segelte der Speer und das ganze Stadion schrie „oh“. Weltmeister und Olympiasieger Andreas Thorkildsen wusste, dass er nun ein ziemlich großes Problem hatte. Doch der Norweger konterte mit einem Kraftakt von 88,37 Metern. Damit sicherte er sich noch Gold vor dem Saarbrücker.
Für de Zordo, den Linkshänder, war das Ganze auch zwei Stunden später noch „einfach unfassbar, gigantisch“. Dreimal warf er über 86 Meter. Wenn es nur einmal passiert wäre, hätte sein Trainer das noch als Ausnahme eingeordnet. „Da hätte ich gesagt, den hat er mal im richtigen Moment optimal getroffen“, erklärte Henry. Aber drei? „Das ist keine Eintagsfliege, das zeigt, dass er diese Weiten drauf hatte.“ 87,81 Meter, das ist Weltrekord für Linkshänder.
Bei seinem besten Versuch ist de Zordo so schnell angelaufen „wie noch nie im meinem Leben“ und als der Speer gleich bei 86,22 Metern landete, schoss dem Außenseiter der Gedanke durch den Kopf: „Ach Du Scheiße. Damit bekommst Du ja vielleicht eine Medaille.“ Geplant war das nicht, denn eigentlich sollte das EM-Finale eine nette Erfahrung werden – mehr nicht. „Du bist im Finale, du hast alles erreicht“, hatte Henry vor dem Finale gesagt. „Lerne was.“ De Zordo hatte bei der Team-EM in Bergen im Juni mal Thorkildsen besiegt, aber da hatte der Norweger für seine Verhältnisse eher schlecht geworfen.
Zu viel Respekt brachte de Zordo den Gegnern bei der EM nicht entgegen. „Da sieht man die großen Namen an der Anzeigentafel, aber man darf sich davon auch nicht verrückt machen lassen“, sagte er. Und so waren die Stars dann auch mehr von diesem Deutschen beeindruckt als umgekehrt. Nach den 87,81 Metern des Saarbrückers klatschte Thorkildsen sogar Beifall. Der Norweger hatte sich eigentlich auf ein Duell mit dem Finnen Tero Pitkämäki eingerichtet, ihre Zweikämpfe gehören normalerweise zum festen Bestandteil der Leichtathletik. Aber nun pfuschte ihm dieser 22 Jahre junge Deutsche dazwischen. Bronze mit 86,67 Metern, mehr blieb Pitkämäki nicht.
Auch der Zeitpunkt von de Zordos Erfolg überraschte. So früh hätte niemand damit gerechnet. Dass er mal stark sein würde, das war ziemlich sicher. Der Bundestrainer hatte 2007 schon gesagt: „Du bist einer, der mal ganz weit werfen kann. Wenn Du athletisch noch zulegst, dann wirst Du mal einer der Tollsten.“ Das war ein bisschen dick aufgetragen, aber der Coach musste ja auch einen virtuellen Gegner ausstechen.
Der junge Matthias de Zordo spielte zu dieser Zeit auch noch Handball; bis zur Oberliga hatte er es als A-Jugendlicher gebracht. Damals wusste er noch nicht so recht, ob er ganz aufs Speerwerfen setzen sollte. Aber dann gewann er 2007 den Titel bei den U-20-Europameisterschaften . „Das war mein entscheidendes Jahr“, sagt de Zordo. Vom Handball bringt er wohl auch seinen schnellen Armzug mit. Dass er einen langen Beschleunigungsweg hat, haben ihm Biomechaniker auch schon gesagt.
Der Rest ist eine Sache der Nerven. Niemand erwartete etwas von dem Saarbrücker, das half schon mal. Den größten Druck machte er sich selber. Die Speerwerferinnen, Linda Stahl (Gold) und Christina Obergföll (Silber), hatten schließlich schon vorgelegt. Da fühlte sich de Zordo in der Pflicht „nachzulegen“. Gesagt, getan.
Und über die Geschichte mit der Mütze kann er sich noch mal mit seinem Trainer unterhalten. Boris Henry dürfte aus altem Aberglauben wohl für die Baseballkappe plädieren. Schließlich trug er selber ständig eine. Und mit Kappe warf er weiter als Matthias de Zordo ohne: Henrys Bestleistung steht bei 90,44 Metern.
Frank Bachner im Tagesspiegel, Montag, dem 2. Ausgust 2010