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25
04
2023

Sifan Hassan (NED) siegt in London -Foto: TCS London Marathon

Sieg beim London Marathon 2023 – Die Furchtlose – Eiserner Wille und jeder Schritt ein Genuss: Debütantin Sifan Hassan lässt sich beim London Marathon von Schwierigkeiten nicht bremsen. Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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Mal kennenlernen wollte Sifan Hassan den Marathon, „einfach mal treffen“. Daraus wurde eine eindrucksvolle Begegnung am Sonntagvormittag in London. Die niederländische Olympiasiegerin über 5000 und 10.000 Meter von Tokio 2021 gewann den ersten Lauf ihres Lebens über 42,195 Kilometer und sorgt damit weiter für Erstaunen.

Auf der Zielgeraden kurz vor dem Buckingham Palace besiegte die Königin des Langlaufs im Spurt nach nur 2:18:34 Stunden die Äthiopierin Alemu Megertu (2:18:37) und die kenianische Marathon-Olympiasiegerin Peres Jepchirchir (2:18:38).

Die Veranstalter hatten stolz angekündigt, dass es ein so starkes Feld, wie sie es ins Frauenrennen schickten, zuvor bei keinem Marathon der Welt gegeben habe. Wie üblich hatten die Frauen die Bühne für sich und gingen dreißig Minuten vor den Männern auf die Strecke. Pacemaker sind in London zugelassen, im Frauenrennen allerdings nur weibliche. Neben Olympiasiegerin Peres Jepchirchir ging die Olympia-Zweite und Schnellste der Welt, Bridgid Kosgei, ebenfalls aus Kenia, an den Start; sie hält den Weltrekord von 2:14:04 Stunden. Offenbar von einer Beinverletzung behindert, gab sie noch während des ersten Kilometers auf.

Die ehemalige 10.000-Meter-Weltmeisterin Almaz Ayana war im Rennen; auf halber Strecke verlor sie den Anschluss (Siebte in 2:20:44). Genzebe Dibaba, die den Weltrekord über 1500 Meter hält, war am Start ebenso wie die schnelle Vorjahressiegerin und dritte Äthiopierin unter den Besten, Yalemzerf Yehualaw (Fünfte in 2:18:53). Keine von ihnen konnte mit der Spitze mithalten. Selbst Sifan Hassan musste zweimal abreißen lassen. Obwohl sie dabei fast eine halbe Minute verlor, kam sie zurück. Nicht einmal die Unaufmerksamkeit eines Begleitmotorradfahrers konnte sie stoppen, als dieser sie fast überfuhr. Nach einer Schrecksekunde schlüpfte sie von einem Verpflegungsstand zurück auf die Strecke.

„Ich hätte niemals gedacht, dass ich hier gewinnen könnte“, sagte Sifan Hassan so begeistert, wie sie beim Überqueren der Ziellinie gejubelt hatte. Jeden Kilometer habe sie glücklich und dankbar genossen an der Spitze von insgesamt 40.000 Läuferinnen und Läufern und vor einem Millionenpublikum an der Strecke. Nichts außer ihrem eisernen Willen und ihrem unvergleichlichen Biss hatte für den Sieg von Sifan Hassan gesprochen. Den Trainingsauftakt in Sudan im Januar hatte sie wegen einer Lebensmittelvergiftung unterbrechen und zur Behandlung in die Niederlande fliegen müssen. Den vergangenen Monat aß und trank sie, den Regeln des Islam für den Ramadan folgend, nicht vor Sonnenuntergang. Wegen einer nicht auskurierten Hüftverletzung musste sie den Lauf zwei Mal unterbrechen und gymnastische Übungen machen – und der Spitze hinterherlaufen.

Das Schwierigste im Rennen, so sagte sie hinterher, war für sie, im vollen Lauf an den Verpflegungsstationen die Flasche zu greifen und genug zu trinken für den langen Lauf. Das Schwierigste im Training, so erzählte ihr Trainer Tim Rowberry, sei gewesen, ihr beizubringen, langsam zu laufen. „Das war es schon?“ dachte sie, als sie die Ziellinie sah. Gegen ihre Sprintfähigkeit hatten die Konkurrentinnen keine Chance.

Am Freitag noch hatte die Dreißigjährige davon gesprochen, dass sie wie fast jeder Anfänger auf der langen Strecke aufgeregt sei vor ihrem Debüt: „Manchmal wache ich auf in der Nacht und frage mich: Warum zum Teufel habe ich mich entschieden, einen Marathon zu laufen?“ Das war kokett. Die in Äthiopien geborene Hassan liebt Herausforderungen.

Bei Olympia nahm sie sich das unglaubliche Triple von 5000 und 10.000 sowie 1500 Metern vor – und gewann drei Medaillen; zu den zwei goldenen auf den Langstrecken kam die Bronzemedaille für die dreieinhalb Runden im Stadion. Bei der Weltmeisterschaft von Doha 2019 wählte Hassan die höchst ungewöhnliche Kombination von 10.000 und 1500 Meter und gewann beide Titel. Nun also hatte sich die Furchtlose entschieden, die Königsdisziplin des Straßenlaufs auszuprobieren. Das Treffen war eindrucksvoll. Sifan Hassan hat nun die Wahl, ob sie Olympia-Favoritin im Stadion oder auf der Straße werden will.

Bei den Männern unterbot der Kenianer Kelvin Kiptum mit einem Solo auf den letzten zehn Kilometern und der Zeit von 2:01:25 Stunden den Streckenrekord des zweimaligen Olympiasiegers Eliud Kipchoge. Nur bei dessen Weltrekord von Berlin 2022 in 2:01:09 Stunden war je ein Marathonläufer schneller. Zweiter wurde Geoffrey Korir, Sieger von Boston und New York, in 2:04;23 vor dem Äthiopier Tamirat Tola (2:04:59). Die äthiopische Lauflegende Kenenisa Bekele gab abgeschlagen auf.

Mo Farah, der Doppel-Olympiasieger von London 2012, lief im letzten Marathon seines Lebens in 2:10:12 Stunden auf Platz neun. Er hatte vor mehr als dreißig Jahren beim Minimarathon seiner Heimatstadt London mit dem Laufen Bekanntschaft geschlossen.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 24. April 2023

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

author: GRR