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01
2024

Symbolbild - Mini-Marathon der Berliner Schulen - Foto: Horst Milde

Schöne, neue Schulsport-Welt – Mit dem kommenden Anspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule entsteht ein Milliardenmarkt. Bei den Großvereinen herrscht schon jetzt Goldgräberstimmung. Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Kooperation mit sieben Grundschulen, 120 Mitarbeiter, dreieinhalb Millionen Euro Umsatz: Die Trägerschaft des Ganztags ist ein gutes Geschäft. Feriencamps seien eine schöne Einstiegsvariante, empfiehlt der Vereinsvorsitzende, und er klingt enthusiastisch wie der Gründer eines Start-ups.

1200 Kinder bringen seine Leute Woche für Woche an den Schulen in Bewegung. Lernförderung sei eine weitere schöne Möglichkeit, Gutes zu tun und etwas Geld zu verdienen, empfiehlt er. Und: „Schulbegleitung, das ist ein wichtiges und tolles Geschäftsfeld, wo ihr ebenfalls unterwegs sein könnt.“

Sein Kollege aus München ist nicht ganz so weit. Gerade mal dreißig Kinder holt sein Klub jeden Nachmittag von der fünf Minuten entfernten Grundschule in Bogenhausen aufs Vereinsgelände. Noch einmal so viele Kinder stehen auf der Warteliste. Die Schule verfügt nicht über Räume für Sport. Im laufenden Schuljahr macht der Sportverein damit rund 100.000 Euro Umsatz und beschäftigt drei Mitarbeiterinnen. „Als ich das erste Mal gesehen habe, was in Bayern an Bildungsträger gezahlt wird im Vergleich zur Sportförderung . . .“, sagt der Vereinsmanager und bricht den Satz ab.

Sein Rat: „Jeder, der es noch nicht macht: unbedingt starten mit egal welchem Projekt als Träger!“

Was klingt wie der Pitch von Jungunternehmern, ist der Austausch von Repräsentanten einiger der größten und ältesten Sportvereine Deutschlands. Für den Turn-Klub Hannover, der seit 1858 existiert und mehr als 8000 Mitglieder hat, spricht Hajo Rosenbrock. Sven Lommatzsch vertritt die Turnerschaft Jahn München 1887 mit rund 5000 Mitgliedern. Sie und ihre Kollegen im Freiburger Kreis, dem Zusammenschluss der größten Sportvereine, nehmen sich des vermutlich gewichtigsten Themas an, das den deutschen Sport derzeit bewegt: seine Rolle bei der gesetzlichen Einführung des Anspruchs auf Ganztagsbetreuung an den rund 15.000 Grundschulen Deutschlands.

Und die Folgen.

Knapp 840.000 Kinder sind in diesem Jahr eingeschult worden, so viele wie seit zwanzig Jahren nicht. Legt man diese Zahl zugrunde und die aus der Erfahrung freier Träger abgeleiteten 3300 Euro jährlicher Kosten pro Kind, entsteht 2026, sobald das Gesetz zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter (Ganztagsförderungsgesetz – GaFöG) in Kraft tritt und im ersten Jahr allein Erstklässler betrifft, ein Markt mit einem Volumen von etwa 2,7 Milliarden Euro. Rechnerisch wird er sich mit der Ausweitung des Anspruchs auf die ersten vier Klassen bis 2029 auf knapp elf Milliarden Euro vervierfachen. 1,3 Milliarden Euro werden für den laufenden Betrieb vom Bund kommen – zusätzlich zu den 3,5 Milliarden für Investitionen.

Die freien Träger kämpfen bereits um ihre Anteile an einem Markt, der längst existiert. „Die Schulen werden jetzt verteilt“, mahnt Boris Schmidt von der TSG Bergedorf in Hamburg, der Vorsitzende des Freiburger Kreises: „Sport und Vereine konkurrieren mit anderen Trägern. Der Zug ist abgefahren, sobald Schulen die Kooperation mit einem Träger eingegangen sind.“

Der Zugang zum Bildungsmarkt sei schwierig gewesen, berichtet Lommatzsch. Gemeinsam kämpften die drei Münchner Großvereine ESV, MTV und Jahn, alle Träger des Ganztags, „unter Schweiß und Tränen und manchmal auch ein bisschen Verzweiflung“ um eine andere Wahrnehmung des Sports. Diese ist noch mehr wert als das viele Geld in den Budgets der Verwaltung. Durch ihre Beteiligung am Ganztag qualifizieren Sportvereine sich als Akteure im Bereich der Bildung. Von Politik, Verwaltung und Gesellschaft werden sie dadurch auf einer neuen Ebene als kompetent wahrgenommen.

Vereine bekommen, selbstverständlich, harte Konkurrenz zu spüren. „Die Sozialmafia ist gar nicht daran interessiert, dass der Sport dort Fuß fasst“, schimpft Schmidt. Julian Lagemann aus dem Vorstand der Deutschen Sportjugend fordert: „Wir sollten uns als Sport und Sportvereine nicht die Butter vom Brot nehmen lassen.“ Er ermutigt die Großvereine zur Offensive in ihren Kommunen: „Der Sport ist ein relativ kleines Licht. Ihr seid die Ausnahme.“

Hamburg, Berlin und die Länder Ostdeutschlands mit ihrer Tradition der Horte sind führend beim Ganztag. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte sich schon vor seiner Zeit als Erster Bürgermeister der Hansestadt die Ganztagsbetreuung an den Grundschulen auf die Fahne geschrieben, um Eltern Berufstätigkeit zu ermöglichen. 2012, im zweiten Jahr an der Spitze der Stadt, setzte er den Anspruch darauf durch. 99 Prozent der Grundschulkinder können sie in Anspruch nehmen. Bayern mit lediglich 39 Prozent der Grundschulen und Schleswig-Holstein mit 33 Prozent haben noch den weitesten Weg zum Ganztag der Grundschulen. Doch nach Ländern lässt sich die Landschaft nicht aufteilen.

Fast jede Kooperation zwischen Verein und Schule ist ein Einzelfall, geprägt von unterschiedlichen Fördermöglichkeiten und dem Einfallsreichtum der Beteiligten. Deshalb sind die Vorreiter vernetzt und tauschen sich aus, deshalb herrscht bei kleinen Vereinen Sorge. Sie sind nicht dabei beim Goldrausch Ganztag, im Gegenteil. Sie machen sich Sorgen darüber, dass die Schule den Sport am Nachmittag anbietet und ihnen, den zumeist vom Ehrenamt getragenen kleinen Klubs, sowohl die Kinder als auch die Sportstätten entzieht.

Auch deshalb ist ein gewichtiger Player auf diesem Feld der Stadtsportbund Duisburg. Vor zwanzig Jahren begann er sich im Ganztag von Grundschulen zu engagieren. Heute kooperiert er mit 36 Schulen und beschäftigt dafür 400 Angestellte, davon 24 Azubis. „Irgendwann geht’s nicht mehr mit Ehrenamtlichkeit“, sagt Christoph Gehrt-Butry, stellvertretender Geschäftsführer der Organisation und seit dem ersten Tag dabei: „Irgendwann muss aus Projekten eine dauerhafte Aufgabe werden.“ Vereinen und Verbänden wachse eine neue Rolle zu: „Ich definiere uns bald als Sozialverband.“ Gemeinsam mit dem Evangelischen Bildungswerk hat der Stadtsportbund Duisburg eine eigene Ausbildung für die Ganztagsbetreuung entwickelt. „Wir würden jedem ein gemeinsames Vorgehen mit Großvereinen in den Kommunen empfehlen“, sagt Gehrt-Butry.

Die Duisburger bemühen sich darum, den Vereinen die Furcht vor einer Zukunft zu nehmen, die allein Profis gehört. Sie suchen die Kooperation der Schule mit Vereinen in der Nachbarschaft, auch mit kleinen. Diese sollen ihre Sportarten in Arbeitsgemeinschaften anbieten, Tennis, Judo, Hockey, was immer in der Nachbarschaft Tradition oder Konjunktur hat.

Weil die Unternehmung als freier Träger nicht nur eine Chance für Sportvereine ist, sondern auch ein wirtschaftliches Risiko, fordert die Deutsche Sportjugend, die Verträge zwischen Schulen und Sportvereinen langfristig anzulegen. Nicht dass eine kurzfristige Trennung einen Sportverein wegen hoher Investitionen und wegen Personal, das man nicht so schnell wieder loswird, in Schwierigkeiten bringt. Um die Kompetenz der Vereine auszuspielen, fordert die Organisation, in den Qualitätsrahmen für den Ganztag Bewegungs-, Spiel- und Sportangebote, mithin qualitative Mindeststandards aufzunehmen. In der Tat sind die Qualitätsunterschiede beim sportlichen Angebot der Ganztagsschulen sehr groß.

Frank Prüße, Bürgermeister von Lehrte in Nordrhein-Westfalen und ehemaliger Vorsitzender des viereinhalbtausend Mitglieder starken Lehrter Sport-Vereins, stellt fest: „Kommunen und Schulen brauchen Sportvereine als Partner. Das ist auch wirtschaftlich eine Riesenchance.“ Er macht kein Geheimnis daraus, dass er den Beschluss seines Stadtrates, das Ganztagsangebot nicht von den Schulen oder freien Trägern, sondern von der Kommune selbst bestreiten zu lassen, für falsch hält. „Ich hätte lieber Sie als Partner, statt das selbst zu machen“, ruft er den Delegierten im Freiburger Kreis zu, als er bei deren Herbstseminar in Dortmund spricht. „Verheizen Sie nicht Ihre Ehrenamtlichen durch Dumping-Angebote“, warnt er: „Sonst verlieren Sie sie.“

Auch für Schulkinder sind der Ganztag und das Engagement von Sportvereinen eine Chance.

In der Schule kommen auch diejenigen mit Sport in Berührung, denen sportliche Bewegung fremd ist, deren Eltern ihnen nie und nimmer Zugang zu einem Sportverein ermöglicht hätten, deren unbändiger Bewegungstrieb sie als schwierig gelten lässt. Praktiker wissen aber auch: Manchmal ist der Sport nur deshalb erste Wahl, weil es als das geringste Übel angesehen wird.

Zigtausende Kinder lernen nur deshalb schwimmen, weil sich Vereine dafür ins Zeug legen. Zwar steht das Schwimmenlernen praktisch im Lehrplan jedes Landes. Doch an einer Vielzahl von Schulen ist das Utopie: wegen Lehrermangels, fehlender oder geschlossener Schwimmbäder, der Pandemie. Der Turn-Klub Hannover steht für die Vielzahl von Angeboten der Vereine, dieses Defizit durch die Organisation von Schwimmkursen, durch die Ausbildung von Schwimmlehrern und die Qualifikation von Grundschullehrern wettzumachen. Gerade hat er dafür den Silbernen Stern des Sports von Niedersachsen bekommen. Die Kosten der Schwimm-Offensive trägt, weil Bildung, die öffentliche Hand.

Als Leuchtturm im vielfältigen Angebot lobt Jessica Süßenbach, Leiterin des Instituts für Bewegung, Sport und Gesundheit an der Leuphana Universität in Lüneburg, „Sport vernetzt“, die Übertragung des Kooperationsmodells von Alba Berlin, dem größten Basketballverein Deutschlands, auf Schulen und Vereine in ganz Deutschland. Den Anspruch an den Ganztag formuliert Henning Harnisch, ehemaliger Basketball-Nationalspieler und bei Alba Berlin Initiator und Motor vielfältiger Schulsport-Engagements, so: „Wir brauchen eine neue Schulsportkultur und eine neue Vereinssportkultur. Das Vereinssportsystem ist nicht mehr schlüssig, vor allem dort nicht, wo Eltern sich nicht kümmern.“ Labor von Alba und Harnisch ist die Gropiusstadt,

Hochhaussiedlung und sozialer Brennpunkt mit knapp 40.000 Einwohnern im Süden Berlins. Schule ist der Ort für Sport, dort entsteht er, dorthin verlagert er sich. Der Ganztag verändert die Vereinslandschaft. Alba Berlin hat sich entschieden, nicht Getriebener, sondern Treiber der Entwicklung zu sein.

Zu den rund fünfzig Vereinen, die bei „Sport vernetzt“ mittun, von Werder Bremen bis zum TSV Gräfelfing bei München, von den Dresden Titans bis zur SG Saarlouis/Dillingen, gehören auch der TK Hannover wie der TV Jahn Rheine mit 9000 Mitgliedern. Seit 15 Jahren engagiert sich Jahn Rheine im schulischen Ganztag und macht mit der Betreuung von 1200 Kindern an sieben Grundschulen 2,7 Millionen Euro Umsatz. 90 Mitarbeiter sind damit beschäftigt.

Ralf Kamp, Vorstandsvorsitzender, hat sich gegen die naheliegende Ausgliederung in eine Tochtergesellschaft entschieden. „Träger des offenen Ganztags und eines Bewegungskindergartens zu sein ist ein unglaublich wertvoller Teil unseres Vereins“, sagt er: „Wir sehen den offenen Ganztag als zentralen Weg, unsere Vereinsstrategie zu entwickeln. Wenn wir unsere Strategie nur im Mitgliedsbereich entwickeln ließen, glauben wir, dass wir keine gute Zukunft hätten.“

Das Ansehen macht selbstbewusst. Noch gibt es keine eingespielte Lösung dafür, den Sport im Ganztag – Montag bis Freitag – in den Schulferien aufrechtzuerhalten, wie es das Gesetz verlangt, und in die Wochenenden zu verlängern, wie es der Spielbetrieb notwendig macht. „Wir wollen“, sagt Kamp, „als offener Ganztag und Verein der Lösungsanbieter sein.“

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 27. Dezember 2023

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

author: GRR