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30
06
2008

Das Talent von Claudia Marx liegt im 400-Meter-Lauf. Die Stadionrunde ist zu lang für einen Sprint, doch sie wird so gerannt. Nur wer bereit ist, sich sehr weh zu tun, hat in dieser Disziplin Aussicht auf Erfolg.

Schmerzensfrau – Ein Leben voller Hürden: Leichtathletin Claudia Marx will nicht aufgeben – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

DRESDEN. "Kann sein, dass mir der Knochen wegbricht, weil die Belastung doch zu hoch ist. Kann sein, dass ich mir ein Magengeschwür hole von all den Schmerzmitteln, die ich nehme." So spricht eine Läuferin, die von der Teilnahme an den Olympischen Spielen träumt. So kämpft eine Athletin um die Erfüllung ihres Traums.

Claudia Marx ist die Schmerzensfrau der deutschen Leichtathletik. Sie rennt einem Trainingsrückstand von drei Wochen hinterher, seit im Wadenbein eine Stressreaktion aufgetreten ist: ein schmerzhaftes Knochenmarködem, die Vorstufe eines Ermüdungsbruchs. Nach zehn Tagen Training im Schwimmbecken und auf dem Fahrradergometer in einer Unterdruckkammer läuft sie nun wieder. Auch wenn der Termin viel zu früh kommt: Spätestens bei den deutschen Meisterschaften in Nürnberg am ersten Juli-Wochenende muss Claudia Marx die Qualifikationszeit von 55,35 Sekunden unterbieten, um sich über 400 Meter Hürden für Peking zu qualifizieren.

Mit Ermüdungsbrüchen kennt sich die Neunundzwanzigjährige aus. Schon im vergangenen Jahr musste sie mit zusammengebissenen Zähnen eine Fraktur im Fuß auskurieren. Anderthalb Jahre war sie schließlich ohne Wettkampf und schier verzweifelt bei dem Versuch, sich fit zu halten. Irgendwie zu trainieren, fand sie, war allerdings immer noch besser, als den Traum von den Olympischen Spielen aufzugeben. Ihm jagt sie nach, seit sie in Berlin aufwuchs und die Leichtathletik entdeckte. Ihr Schicksal scheint es zu sein, dass immer neue Hindernisse im Weg stehen.

Das Talent von Claudia Marx liegt im 400-Meter-Lauf. Die Stadionrunde ist zu lang für einen Sprint, doch sie wird so gerannt. Nur wer bereit ist, sich sehr weh zu tun, hat in dieser Disziplin Aussicht auf Erfolg. Claudia Marx hält große Schmerzen aus. Als Siebzehnjährige erlitt sie ihren ersten Ermüdungsbruch. Noch im selben Jahr, 1996, startete sie bei der Junioren-Weltmeisterschaft in Sydney. Im Vorlauf eingesetzt, trug sie dazu bei, dass das deutsche Team Gold gewann. Der Wunsch, zu den Olympischen Spielen 2000 zurückzukehren, erfüllte sich nicht. Claudia Marx scheiterte an einer Knieverletzung.

Das war eine lächerliche Kleinigkeit im Vergleich zu dem, was sie da schon hinter sich hatte. Im Mai 1998 drängte ein nie ermittelter Autofahrer den Wagen mit ihr, ihrem Trainer und einem befreundeten Sportler nahe Berlin von der Autobahn. Claudia Marx wurde bei dem Unfall schwer verletzt. Die Ärzte versetzten sie in ein Koma. Nicht die sechs Rippenbrüche waren das Schlimmste, fand sie, als sie nach drei Tagen erwachte, sondern die eingefallene Lungenhälfte. Die Neunzehnjährige befürchtete, nie wieder Sport treiben zu können. Als sie realisierte, dass es so schlimm nicht kommen würde, begann sie, praktisch im Krankenbett, mit dem Training. Vier Monate nach dem Unfall stand Claudia Marx wieder auf der Bahn. Ihr Ziel: Olympia.

2004 qualifizierte sie sich für die Spiele in Athen. Da gehörte sie bereits zum Establishment im 400-Meter-Lauf. Bei der Weltmeisterschaft in Edmonton 2001 hatte sie zum Gewinn der Silbermedaille über 4 × 400 Meter beigetragen. Im Jahr drauf wurden sie und die Staffel in München Europameister. Beide Male lief Claudia Marx als Dritte und übergab den Stab Schlussläuferin Grit Breuer.

Auf die Medaillen aus jenen Jahren ist Claudia Marx so stolz, dass sie sie in einer Vitrine in ihrem Arbeitszimmer in Dresden ausstellt. Doch der Rückblick ist nicht nur schön. Athen war eine Enttäuschung. Durch späte Anreise und frühes Ausscheiden erlebte Claudia Marx nichts von dem, was sie sich von Olympischen Spielen versprochen hatte. Zwischen den Erfolgen von Edmonton 2001 und München 2002 stürzte sie beim Staffelwechsel während des Europacups in Annecy 2002 und fiel aufs Gesicht. Sie erlitt einen Kieferbruch.

Am schlimmsten allerdings ist die Frage, ob das so erfolgreiche Team damals sauber war. Startläuferin Florence Ekpo-Umoh wurde 2003 des Dopings überführt und für zwei Jahre gesperrt. Gerade hat sie ihr Comeback in der Nationalmannschaft gegeben. Schlussläuferin Grit Breuer ist schwer belastet, seit ihr Mann und Trainer Thomas Springstein vom Amtsgericht Magdeburg wegen Dopings einer Minderjährigen verurteilt wurde. Springstein korrespondierte mit seinem Doping-Arzt über Gesundheitszustand und Saisonplanung von "G." und "G.B.".

Sie habe nie erwogen, die Medaille zurückzugeben, sagt Claudia Marx. "Ich verstecke sie", dachte sie, als der Doping-Verdacht in jenem Januar 2006 mit Händen zu greifen war. "Das ist meine Medaille." So viel Erinnerung und Quälerei sei mit dem Goldstück verbunden. Und der Verdacht? "Man will das nicht wahrhaben."

Dabei war es auch Doping, vor dem sie zu diesem Zeitpunkt schon davongelaufen war. "Ich kann nicht unter 51 Sekunden laufen ohne fremde Hilfe", sagt Claudia Marx. Deshalb ist sie 2005 von der flachen Strecke zum Hürdenlauf gewechselt. Da er technisch anspruchsvoller sei, habe sie bessere Erfolgsaussichten, sagt sie. Sie zog nach Dresden, um bei Dietmar Jarosch trainieren zu können. Auf Anhieb wurde sie deutsche Meisterin. Bei der Europameisterschaft 2006 in Göteborg lief sie im Finale in 54,99 Sekunden auf Platz vier; im Halbfinale hatte sie ihre Bestzeit auf 54,80 verbessert. "Das Ergebnis von Göteborg ist für mich viel mehr wert als die Staffel-Medaillen", sagt Claudia Marx. Sie wollte nicht die ewige Mannschaftsläuferin sein, der niemand eine Einzelleistung zutraut. "Wenn ich jetzt aufhöre", sagt sie wie zu sich selbst, "muss ich mir nichts vorwerfen. Mit sauberem Sport kommt man nicht weiter."

Doch genau das will sie: an Göteborg anknüpfen, mit ihrer Kraft und ihrer Härte, mit Fortschritten im Sprung noch weiter kommen. Und dann kommt sie nicht in Tritt: Als sich im vergangenen Jahr ein chronischer Schmerz im Fuß als Ermüdungsbruch erwies, lag sie beim Arzt auf der Liege und weinte. Als der Fuß schließlich eingegipst und die Saison definitiv beendet war, kaufte sie eine Tüte Chips und guckte sich Sport im Fernsehen an. Seit 16 Jahren quälte sie sich für Spitzenleistungen; faul sein fühlte sich an wie zum ersten Mal im Leben.

Im vergangenen Winter genoss sie es, endlich wieder Rennen zu bestreiten. Von der deutschen Meisterschaft verabschiedete sie sich mit dem Titel über 400 Meter und der Hoffnung: "Das war die Hallensaison. Jetzt beginnt Peking." Jetzt ist Peking vielleicht schon vorbei.

Denn wieder einmal liegt das Schicksal wie ein unüberwindliches Hindernis zwischen Claudia Marx und ihrem Ziel. Nur zehn Tage hat sie pausiert nach der Diagnose ihrer jüngsten Verletzung. Eigentlich müsste sie sich in Ruhe auskurieren. Stattdessen schluckt sie Schmerzmittel, um am 1. Juli in Bydgoszcz in Polen ihr erstes Freiluft-Rennen seit Göteborg 2006 bestreiten zu können. Der Strohhalm ihrer sinkenden Hoffnung ist die Qualifikation der Staffel. Ins Quartett der besten vier deutschen Läuferinnen würde sich Claudia Marx nun gern einreihen. "Wenn es nicht Olympia wäre . . .", sagt sie.

Auch finanziell sind die Ressourcen erschöpft. Noch hat sie einen Ausrüster, noch helfen Verein und Verband. Das reicht allerdings nicht für die Miete, das ist zu wenig, um ohne Unterstützung der Eltern über die Runden zu kommen. "Wenn ich mich nicht qualifiziere, ist es absolut unmöglich, meinen Sport noch zu finanzieren", sagt Claudia Marx. Dann blitzt eine neue Hoffnung auf. "Was ist mit Berlin 2009?" sagt sie. Die Weltmeisterschaft zu Hause ist das Ziel des nacholympischen Jahres. Danach will Claudia Marx Schluss machen mit dem Sport.

MICHAEL REINSCH in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Donnerstag, dem 26. Mai 2008

author: GRR

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