So viel Geld auf einmal hat eine deutsche Leichtathletin wohl noch nie gewonnen, und als Gewinnerin in London im April sowie in Berlin Ende September in atemberaubend guten 2:19:19 ist sie in diesem Jahr endgültig zur Größe im Laufgeschäft aufgestiegen.
Ruhm zweiter Klasse – Die Briten sehen Paula Radcliffe als Lauf-Idol – die Deutschen Irina Mikitenko nur als Major-Siegerin – Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung
New York/München – Die Windschattenfrage war schnell geklärt auf dem löchrigen Asphalt der großen Stadt, und Paula Radcliffe fügte sich. Kalt und streng blies der Gegenwind auf der Verrazano-Narrows-Brücke kurz nach dem Start zum New York Marathon, was ihre Rivalinnen dazu veranlasste, sich geschlossen im Rücken der Weltrekordlerin zu versammeln. Paula Radcliffe stellte fest, dass "alle im Gänsemarsch hinter mir" waren, dann zog sie ihr Tempo erbarmungslos durch.
Marathon ist die Kunst, trotzdem weiterzulaufen, Paula Radcliffe beherrscht sie wie niemand sonst, und so lief sie also trotz des Windes und der ängstlichen Konkurrenz weiter und weiter und weiter mit kantigen Schritten, immer in Front, keine Schwäche zeigend, bis sie in 2:23:43 Stunden das berühmteste 42,195-Kilometer-Rennen der Welt zum dritten Mal gewonnen hatte. "Mein Papa hat immer gesagt, zurückschauen ist ein Zeichen von Schwäche", sagte Paula Radcliffe, und daheim in Großbritannien kürte sie der Guardian dankbar zur "Mutter aller Marathons".
Das ist natürlich eine Übertreibung gewesen, Paula Radcliffe ist nämlich lediglich die Mutter von Isla, 1, welche die Reise in die USA mitmachen durfte und der Siegerin im Zielraum noch vor Union Jack und Finisher-Medaille gereicht wurde. Aber Übertreibung macht anschaulich, und mit diesem Ausflug ins Pathos wollte die seriöse Zeitung eben der Hochachtung Ausdruck verleihen, die Paula Radcliffe in ihrer Heimat genießt.
Der britische Sport ist schon ziemlich stolz darauf, ausgerechnet in der Leichtathletik eine solch überragende Figur aufbieten zu können, wo doch der olympische Kernsport den europäischen Höchstleistern im Wettstreit mit Amerikanern, Afrikanern und Asiaten zusehends zu entgleiten scheint. Zumal die Karriere der Radcliffe nicht nur von denkwürdigen Leistungen erzählt (ihr Weltrekord von 2:15:25 steht seit 2003), sondern vor allem von Rückschlag und Wiederkehr.
Ihren ersten New-York-Sieg erreichte sie 2004, drei Monate nachdem sie bei den olympischen Spielen in Athen auf geradezu epische Art gescheitert war: erst als Favoritin im Marathon, dann als verzweifelte 10 000-Meter-Teilnehmerin (jeweils aufgegeben). Diesmal siegte sie nach einem fast rührend unvernünftigen Olympia-Einsatz in Peking, bei dem sie kaum genesen von einem Ermüdungsbruch auf Rang 23 humpelte. Und 2007 bewegte sie die Herzen, weil sie den New York Marathon nur zehn Monate nach Islas Geburt gewann.
Überdies verdient Paula Radcliffe ziemlich gut, was auch ein wichtiges Merkmal für den Helden des modernen Business-Sports ist; allein der Sieg am Sonntag brachte ihr 130 000 Dollar. Womit man in der Geschichte dieses Marathon-Wochenendes endlich bei Irina Mikitenko vom TV Wattenscheid angekommen wäre und bei der Frage, ob es eine spätberufene Straßenläuferin mit kasachischen Wurzeln wie sie mit einigen höchst einträglichen Marathon-Erfolgen in Deutschland zum Nationalidol im Radcliffschen Sinne bringen kann.
Irina Mikitenko, 36, war in New York nicht am Start. Trotzdem wurde sie am Montag im Central Park als große Gewinnerin geehrt, weil sie wie Kenias Martin Lel in der Endabrechnung der World-Marathon-Majors-Serie an der Spitze stand. Weltmeisterin Catherine Ndereba aus Kenia und Gete Wami aus Äthiopien hätten sie noch abfangen können, doch beide landeten zu weit hinten. Und weil Irina Mikitenko ihre 65 Punkte in nur drei Rennen erzielt hatte, die punktgleiche Wami ihre aber in vier, erhielt Mikitenko die stattliche Belohnung von 500 000 Dollar.
So viel Geld auf einmal hat eine deutsche Leichtathletin wohl noch nie gewonnen, und als Gewinnerin in London im April sowie in Berlin Ende September in atemberaubend guten 2:19:19 ist sie in diesem Jahr endgültig zur Größe im Laufgeschäft aufgestiegen. Zu einem der wenigen deutschen Leichtathletik-Stars, könnte man sagen.
Die deutsche Radcliffe ist sie deswegen noch lange nicht. Dafür ist sie zu lange auf der Bahn geblieben, auf der sie unter anderem 5000-Meter-Fünfte bei Olympia 2000 wurde; noch 2006 nahm sie über 10 000 Meter an der EM in Göteborg teil. Zweitens finden viele Deutsche nach diversen Radsporterfahrungen Erfolge im professionellen Ausdauersport nicht sofort vertrauenswürdig. Drittens liegt Irina Mikitenko das Spiel mit den Medien nicht so. Noch im Glanz ihres neuen Reichtums klang sie ziemlich schüchtern, als sie der Deutschen Presse-Agentur sagte: "Es ist leichter für mich, einen Marathon zu laufen, als jetzt zu realisieren, um wie viel es eigentlich ging."
Nur in einer Wertung liegt Irina Mikitenko vorne gegen Paula Radcliffe. Im Kinderkriegen, mit zwei zu eins.
Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung, Dienstag, dem 4. November 2008
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