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Revolution durch Reform – Tabula rasa bei Leichtathletik-Rekorden – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Anders als beim Versuch des DLV, zur Jahrtausendwende Doping-Rekorde loszuwerden, habe der Versuch nun die Unterstützung des Präsidenten, sagte er. 1999 scheiterte der Versuch des damaligen DLV-Präsidenten Helmut Digel auch am Widerstand des damaligen Patriarchen der Leichtathletik, Lamine Diack. Er ist inzwischen in Korruptionsverfahren rund um Doping-Fälle verwickelt.
Sein Nachfolger, Sebastian Coe, hat sich bereits zustimmend geäußert. „Das gefällt mir“, sagte der Brite, „denn es unterstreicht, dass wir Doping-Kontroll-Systeme und -Technologien etabliert haben, die robuster und sicherer sind als vor fünfzehn oder sogar zehn Jahren.“
Coe selbst lief in den achtziger Jahren auf den Mittelstrecken acht Weltrekorde (plus drei in der Halle). „Es wird Sportler geben, aktuelle Rekordhalter, die das Gefühl haben, dass wir dadurch, dass wir die Geschichte neu kalibrieren, ihnen etwas wegnehmen“, sagte er. „Aber ich glaube, dass dies ein Schritt in die richtige Richtung ist und dass wir die Chance haben, auf diesem Gebiet Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.“
Der europäische Präsident Svein Arne Hansen aus Norwegen nannte das Projekt bei dessen Vorstellung am Montag in Paris „revolutionär“.
„Dies ist sicher eine radikale Lösung“, sagte er, „aber diejenigen, die die Leichtathletik lieben, haben die Nase voll von Verdächtigungen und Unterstellungen, die schon zu lange über unseren Rekorden schwebt.“ Die Reform basiert darauf, Doping-Kontrollen lange vor und nach einem Rekord zur Bedingung für dessen Anerkennung zu machen. „Man kann Leistungen nur vergleichen, wenn die Rahmenbedingungen gleich sind“, sagt Prokop: „Das gilt vom Rückenwind bis zu Anti-Doping-Maßnahmen. Die Rahmenbedingungen sind heute andere.“
Paula Radcliffe, die seit 2002 den Europarekord über 10 000 Meter ( 30:01,09 Minuten) und seit 2003 den Weltrekord im Marathon (2:15:25 Stunden) hält, schreibt auf Twitter, sie sei verletzt, denn die Reform beschädige ihr Ansehen und ihre Würde. Noch dazu sei es feige, alle Rekorde wegzuwischen, statt vor Gericht dafür zu sorgen, dass die wirklich illegalen gestrichen werden.
Den Ansatz, bei jedem einzelnen kritischen Rekord Beweise für Doping erbringen und dessen Aberkennung juristisch durchsetzen zu müssen, hat die Reform-Kommission verworfen. Wenn die betroffenen Athleten nicht des Dopings geständig wären, hätte dieser Ansatz zu Entscheidungen auf Basis subjektiver Indizien geführt. Dies aber schade dem Ziel, Rekorde fairer zu machen. Nicht nur die Ersten, sondern jeder einzelne Athlet einer Rekordliste müsste überprüft werden. Auch die Idee, technische Bedingungen wie das Gewicht von Wurfgeräten, Laufdistanzen oder die Regeln von Wettbewerben zu verändern, um mit den Rekorden neu beginnen zu können, die sogenannte „Speerwurf-Option“, wurde verworfen.
Bedingung für die Anerkennung eines Weltrekordes sollen stattdessen von 2018 an eine Mindestzahl von Kontrollen des Athleten in den zwölf Monaten vor dem Rekord sein sowie die Aufbewahrung von dessen Proben für Analysen über zehn Jahre nach dem Rekord; dies wird seit der Verlängerung der Verjährung von acht auf zehn Jahre erst seit 2015 praktiziert.
Die Kommission nannte den Ansatz nach dem Gründungsjahr der IAAF die „1913-Option“. Treffender wäre die Option „Tabula rasa“ genannt worden. Denn von den Weltrekorden in den 47 olympischen Disziplinen der Leichtathletik würden, ginge der Vorschlag der Europäer unverändert durch, höchstens zehn bestehen bleiben. Erst zum 1. Januar 2015 nämlich wurde die Verjährungsfrist von Doping und damit die Aufbewahrung von Proben von acht auf zehn Jahre verlängert.
Weltrekorde von Bolt und Bekele wären von gestern
Die Zahl der Kontrollen im Jahr vor dem Rekord zu bestimmen könnte die Liste weiter kürzen. Damit wird der Verband nach den vorgeschlagenen Bedingungen nicht nur seine sogenannten toxischen Weltrekorde aus der Hochzeit des Anabolika-Dopings los, zu denen die 10,49 Sekunden der amerikanischen Sprinterin Florence Griffith-Joyner von 1988 gehören, die 47,60 Sekunden der Rostocker 400-Meter-Läuferin Marita Koch von 1985, die 76,80 Meter im Diskuswurf von Gabriele Reinsch aus Cottbus von 1988 sowie die 22,63 Meter im Kugelstoßen der Russin Natalja Lissowskaja.
Auch die drei Weltrekorde von Usain Bolt über 100 und 200 Meter sowie mit der Staffel wären von gestern, die Rekorde von Kenenisa Bekele über 5000 und 10.000 Meter, die 6,16 Meter von Renaud Lavillenie im Stabhochsprung wie die 2,09 Meter im Hochsprung von Stefka Kostadinowa und die 72,28 Meter im Speerwurf von Barbora Špotáková.
Grundgedanke der Reform ist, dass ein Rekord nicht nur eine Bestleistung, sondern auch die Verpflichtung des Verbandes ist, die Einhaltung von Rahmenbedingungen für dessen Anerkennung durchzusetzen. Dazu gehört, dass der- oder diejenige, die sie aufgestellt haben, im weiteren Verlauf ihrer Karriere nicht des Dopings überführt werden dürfen. Rekordhalter seien verantwortlich dafür, ihre sportliche Integrität zu bewahren, heißt es in den Empfehlungen des europäischen Verbandes. Doper verlieren demnach nicht nur ihr Startrecht, sondern auch ihre Rekorde, selbst wenn nicht bewiesen werden kann, dass Doping Einfluss auf die Rekord-Leistung hatte.
Rekorde sollen zudem nur anerkannt werden, wenn sie bei Veranstaltungen auf höchster Ebene mit Kontrollen stattfinden, in welche der Verband völliges Vertrauen haben kann. „Ein Rekord ist nicht eine Auszeichnung an sich“, schreibt die Arbeitsgruppe, „und einen Rekord zu ,halten‘ bedeutet nicht, dass er im Besitz des Athleten ist.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 3. Mai 2017
Autor: Michael Reinsch, Korrespondent für Sport in Berlin.