Mara Yamauchi glaubt, dass die Liebe der Japaner zum Marathonlauf in der Volksseele begründet liegt. "Die japanische Kultur schätzt die Qualitäten, die ein guter Marathonläufer braucht. Ausdauer, Beharrlichkeit, Geduld." Sie hat es wohl auch deswegen nicht gemocht, dass die ausländischen Teilnehmer bei der WM 2007 so über Osaka schimpften.
Reichtum auf Asphalt – Die Hitze-WM in Osaka gilt als Zugeständnis ans japanische Sponsoring – die Läuferin und Diplomatin Mara Yamauchi hat dort eine Kultur der Nachsicht erlebt – Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung
Am 15. August beginnen die 12. Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Berlin. Es ist das größte Sportereignis auf deutschem Boden in diesem Jahr und der Saisonhöhepunkt eines Sports, der die Extreme bündelt. Die Leichtathletik mit ihren 47 Disziplinen gilt immer noch als der wichtigste Kernsport des olympischen Programms. Kein anderer Sport bringt Sieger aus so vielen verschiedenen Ländern hervor wie sie. Andererseits leidet sie besonders unter den Phänomenen der Moderne wie Kommerzialisierung oder Doping.
08.08.2009 Sie weiß, damals schimpften die Gäste über das Land, an das sie ihr Herz vergeben hat, und Mara Yamauchi, geborene Myers, hat es verstanden. Sie kennt doch die atemberaubende Schwüle des japanischen Sommers, sie flüchtet regelmäßig vor ihr aus dem Großraum Tokio, wo sie wohnt, in die Berge von Nagano, nach Europa oder Amerika.
Und bei der WM 2007 in Osaka hat sie die feuchte Hitze selbst ertragen müssen als Teilnehmerin des Marathons für Großbritannien, nicht nur die anderen Sportler und die Funktionäre, die sich so bitter über die Bedingungen beklagten. "Ja", sagt Mara Yamauchi, "vielleicht war es ein bisschen heiß." Aber der Kluge ist nachsichtig, nicht wahr?
Und deswegen hat sie es wohl doch etwas oberflächlich gefunden, dass die kritischen Ausländer die ganze WM in Osaka seinerzeit als Diktat kommerzieller Interessen tadelten. Bloß weil in Japan die meisten Sponsoren des Weltverbandes IAAF sitzen. "Die Japaner sind wirklich gerne Gastgeber dieser WM gewesen", sagt Mara Yamauchi, die Wahljapanerin aus Oxford, "ich bin froh, dass sie dort war."
Mara Yamauchi, 35, ist das, was man eine Weltbürgerin nennt: geboren in England, aufgewachsen in Kenia, Absolventin der Universität Oxford und der London School of Economics, dann Diplomatin im Außenministerium und hochbegabte Teilzeitläuferin, später in die britische Botschaft nach Tokio versetzt, sich dort verliebt, verheiratet, schließlich als Laufprofi niedergelassen.
Und heute ist sie nicht nur eine profilierte Leichtathletin, Olympia-Sechste, Zweite des London-Marathons 2009, die allerdings eine Fußverletzung von einer WM-Teilnahme in Berlin abhält. Als Britin in Japan ist Mara Yamauchi auch eine Vermittlerin zweier Sportwelten, die sich schlecht verstehen und doch miteinander auskommen müssen auf der Suche nach einer Zukunft für Olympias größten Kernsport.
Die Leichtathletik bringt Sieger aus allen Ländern der Welt hervor. 46 Nationen gewannen bei der WM in Osaka Medaillen, 43 bei Olympia 2008 in Peking, so viele wie in keiner anderen Sportart. Gebeutelte Nationen wie Kenia, Äthiopien oder Jamaika, in denen es kein Geld gibt für die teuren Materialschlachten des modernen Spektakelsports, sind hier Weltmächte. Wo die menschliche Kraft den Anspruch bestimmt, triumphiert nun mal die Natur der entlegenen Welten: Leichtgewichte aus dem ostafrikanischen Hochland, Hochgeschwindigkeitsmenschen aus den karibischen Sonnenstaaten. Trotz des Dopingproblems wird die Leichtathletik dadurch zu einer einzigartigen Bühne der Menschenbiologie.
Allerdings nicht reich, eher im Gegenteil, weil die Stars aus den armen Ländern die Elite aus den reichen von der Spitze verdrängen und sich Sponsoren und Publikum aus den Konsumnationen abwenden. Europas Leichtathletik-Krise hat auch damit zu tun. Die Heimat der afrikanischen Nationalhelden hingegen ist kein ergiebiger Markt. Und Amerikas Leichtathletik, die das medaillenreichste Nationalteam stellt, verschwindet tief im Schatten des US-Profisports.
In Asien dagegen liegen die Chancen: wirtschaftskräftige Länder mit vielen potentiellen Leichtathletik-Zuschauern. "Man geht sehr gerne dorthin, wo man Wachstumsmärkte hat", sagt das deutsche IAAF-Council-Mitglied Helmut Digel. Vor allem nach China mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern. Südkorea, Gastgeber der WM 2011 in Daegu und Heimat eines IAAF-Hauptsponsors, interessiert die Business-Leichtathleten ebenfalls sehr. Und eben Japan, das sportlich ein Zwerg war zuletzt mit ein Mal Bronze bei der Heim-WM 2007 und zwei Mal Bronze bei Olympia 2008 – das für die IAAF aber eine Art Lebensversicherung ist.
Fernsehverträge, Sponsoren und die Ausschüttungen aus den Spiele-Einnahmen des Internationalen Olympischen Komitees sind die Säulen, auf denen das 60-Millionen-Dollar-Budget der IAAF ruht. Summen bleiben geheim, Sprecher Nick Davies erklärt nur, der Vertrag mit dem japanischen Sender TBS sei "extrem wichtig für die IAAF, sowohl finanziell als auch was die Reichweite angeht". Hinter vorgehaltener Hand aber heißt es, der TBS-Vertrag sei der wertvollste aller IAAF-Fernsehverträge. Unter den sieben IAAF-Hauptsponsoren sind vier japanische Firmen. Und Inhaber aller WM-Werberechte sowie TV-Lizenzen außerhalb Europas ist die japanische Vermarktungsagentur Dentsu. Unterm Strich kann man sagen: Viele Weltklasse-Leichtathleten hat Japan nicht – dafür fließt aus keinem anderen Land so viel Geld in den olympischen Kernsport.
Japan ist Leichtathletik-Paradies und -Diaspora in einem, ein Paradox, das auch die Läuferin Yamauchi bezeugen kann. Ihre Disziplin ist Japans einzige echte Leichtathletik-Stärke. Das Land hat eine stattliche Zahl von Marathon-Gewinnern hervorgebracht, die Olympiasiegerinnen Naoko Takahashi (2000) und Mizuki Noguchi (2004) zum Beispiel. Dabei passt das irgendwie gar nicht zur Natur des Landes, die oft gar keine Natur mehr ist, weil riesige Metropolen über sie hinweggewuchert sind. Mara Yamauchi lief einst durch die Wälder von Oxford, sie liebte die Ruhe dort, den weichen Untergrund, das sanfte britische Klima. Dann kam sie nach Japan. "Ich dachte, wie in aller Welt können die Leute hier laufen. Es ist alles Asphalt." Aber bald sah sie, dass die Japaner sich angepasst hatten, dass manche von ihnen aus der Enge der Städte sogar eine eigene Stärke entwickelt hatten. Toshihiko Seko etwa, Gewinner des Boston- und London-Marathons in den achtziger Jahren, lief im Training auf einer 1,3-Kilometer-Runde. Immer im Kreis. Stundenlang. "In gewisser Weise macht das einen guten Marathonläufer aus, weil es ihn im Kopf stark macht", sagt Mara Yamauchi. Sie selbst läuft im Training den Fluss Tamagawa auf und ab, wenn sie in Tokio ist.
Jedenfalls ist Japan eine Laufnation geworden mit Wettkampfserien, die das Fernsehen live überträgt und die ein Niveau aufweisen, von dem Mara Yamauchi nur schwärmen kann. Auch die Zahl der Volksläufer ist enorm, Zehntausende nehmen an den Straßenläufen teil, 30 000 allein beim Tokio-Marathon – und es könnten viel mehr sein. "Der Tokio Marathon ist überbucht mit ungefähr sieben Läufern auf eine Startnummer", sagt Mara Yamauchi, "beim London Marathon ist das Verhältnis drei zu eins."
Ein Heer an Kunden trabt da durch die Hochhausschluchten, kein Wunder, dass Japan der Sportartikelindustrie gefällt, und sportfremde Firmen nutzen dankbar den Werbewert einer Marathonübertragung, bei der die Athleten stundenlang ihr Logo durchs Bild tragen. Firmenteams sind das Rückgrat des japanischen Sports. Sie haben die Athleten fest angestellt, bieten ihnen perfekte Trainingsbedingungen, Betreuung sowie Loyalität und soziale Sicherheit, was den Sportlern die Angst vor dem Versagen nimmt.
Mara Yamauchi glaubt, dass die Liebe der Japaner zum Marathonlauf in der Volksseele begründet liegt. "Die japanische Kultur schätzt die Qualitäten, die ein guter Marathonläufer braucht. Ausdauer, Beharrlichkeit, Geduld." Sie hat es wohl auch deswegen nicht gemocht, dass die ausländischen Teilnehmer bei der WM 2007 so über Osaka schimpften.
Für Mara Yamauchi selbst hätte die WM auch besser laufen können. Sie hat sie gar nicht richtig erlebt. Ihr Rennen fand erst am letzten WM-Sonntag statt, und zwar in der Früh um sieben, um der großen Tageshitze zu entgehen, weshalb sie ihren Schlafrhythmus in den Tagen davor umstellte: um drei Uhr nachts aufstand, abends früh ins Bett ging. Zwei Wochen vor dem Start plagte sie zudem ein lästiger Husten, und im Rennen beging sie einen taktischen Fehler. "Ich hatte meine Energie zu früh verbraucht." Platz neun. "Ich war ein bisschen enttäuscht."
Sie war mit Shigetoshi Yamauchi, ihrem Mann, Trainer, Betreuer, Manager, nach Japan gezogen, weil sie glaubte, sich dort besser auf die Bedingungen bei der WM und bei Olympia vorbereiten zu können. Und sie dachte, einen medaillenwerten WM-Heimvorteil zu haben gegenüber den Konkurrentinnen, weil sie Japan kannte und Japan sie.
Trotzdem. "Es war eine sehr positive Erfahrung." Auch weil sie in Osaka wieder diesen japanischen Sportsgeist spürte, der die Qualität einer Leistung nicht nur nach Medaillen und Namen bemisst. Mara Yamauchi kennt sich aus mit dem europäischen Sportdenken. Sie ist die Frau hinter Großbritanniens Marathon-Idol Paula Radcliffe, erst bei Olympia hat sie wieder spüren müssen, wie hinfällig für die Landsleute ein sechster Platz ist, wenn die Weltrekordlerin aus Loughborough als 23. ins Ziel humpelt.
"In Großbritannien hat dich jeder lieb, wenn du gewinnst. Wenn du nicht gewinnst, bist du nichts." Sie gibt zu, dass sie etwas übertreibt, aber im Grunde sei die Atmosphäre so. Und in Japan? "Japaner nehmen wahr, wenn jemand hart arbeitet, auch wenn er nicht gewinnt. Sie identifizieren sich mit dem Kampf und mit der Beharrlichkeit eines Athleten."
Mara Yamauchi mag diese Art der Japaner, Anspruch und Moral zu verbinden. Ihren gesunden Ehrgeiz, ihre kluge Genügsamkeit, ihre Besinnung auf das, was möglich ist. Die Japaner geben ihr das gute Gefühl, nicht etwas jagen zu müssen, was sie nicht jagen kann.
Mara Yamauchi findet, dass die Leichtathletik aus Japan mehr mitnehmen kann als nur das große Geld.
Thomas Hah in der Süddetuschen Zeitung, Sonnabend, dem 8. August 2009