Radrennen - Symbolbild - Foto: Horst Milde
Radsport bleibt in Flandern das Maß aller Dinge – trotz Fußball – Von KLAUS BLUME
OUDENAARDE – Am Sonntag begeht man in Belgien einen Feiertag, der als solcher gar nicht im Kalender steht: Zu Ehren der „Ronde“, wie sie hier die 106. klassische Flandern-Rundfahrt über 272,5 Kilometer von Antwerpen nach Oudenaarde nennen.
Einen Teil der flämischen Identität, geliebt von jedermann, wenn er denn flämisch und nicht französisch spricht. Gemessen an der Zahl der Fans mag zwar auch in Belgien Fußball am populärsten sein, doch für die 6,5 Millionen Flamen unter den rund zwölf Millionen Belgiern besteht kein Zweifel, dass der Radsport das Maß aller Dinge ist und fortan auch bleiben wird.
Denn Flandern ohne Radsport kann man sich ebenso wenig vorstellen, wie Deutschland ohne Frankfurter Würstchen und Mutters Kartoffelsalat. Und hier, zwischen Nordsee und Ardennen, vermag jeder die Namen der großen flämischen Radsport-Helden herbeten, wie das flämische Alphabet: Buysse, van Steenbergen, Schotte, van Looy, de Vlaeminck, Godefroot, Merckx, Boonen. Der Radsport – so scheint‘s – ist offenbar zum Teil ihrer Seele geworden; gewissermaßen Teil der flämischen DNA.
Ich reiste 1964 zum ersten Male an die „Ronde“, als damals der unvergessene Rudi Altig gewann. Als ich 1968 wieder hierher kam, mit dem strikten Auftrag aus Frankfurt, mich unbedingt von einem erfahrenen belgischen Kollegen, gleich einem Sherpa, führen zu lassen. Am Bahnsteig „Brüssel-Nord“ empfing mich, wie verabredet, Harry van den Bremt, Reporter bei der „Sportwereld“, deren Redaktion damals noch mitten im Rotlicht-Bezirk lag. Er brachte mich aber nicht dort, sondern in einem winzigen Hotel in Sind Niklaas unter, jahrelang dem Startort der „Ronde“. Gefrühstückt wurde um sechs Uhr in der Früh‘, eine Stunde später holte ich mir bei dem ehemaligen belgischen Profi Raymond Impanis meinen Presseausweis ab, dazu zwei Papp-Schilder mit meiner „Ronde“-Nummer, eine Handvoll Blumendraht, ein Auto-Radio und ein kleinen Schraubenzieher. Mit alledem präparierte ich mit klammen Fingern mein Auto für die „Ronde“.
Raymond kontrolliere alles, überaus skeptisch, dann knurrte er: „Am Mittwoch, bei Gent-Wevelgem, schaffst du das aber schneller.“
Sie glauben eben, sie haben den Radsport für sich gepachet, diese Flamen. Es gibt in Belgien zwar nur etwa 6,5 Millionen von ihnen, doch ihre Rad-Profis dominieren diesen Sport weltweit – und das seit mehr als einhundert. Warum? Sie lieben Bier, Fritten, das Lamentieren – und das Radfahren. Sie gehen nicht gern aus, aber sie wohnen gern, gemütlich hinter ihren Tüllgardinen, wo sie in Ruhe eine ihrer 280 Biersorten genießen. Nirgendwo auf der Welt gibt es schließlich mehr Biersorten, als in Belgien. So nannte der große flämische Sänger Jacques Brel seine Hymne an die Heimat denn auch „La Biere“.
Aber zurück zur „Ronde“.
Sie ist eine ganz besonders brutale Ausdauer-Prüfung, im vielleicht einem der schlimmsten sportlichen Wettbewerbe, den sich der Mensch ausgedacht hat. Die Flamen mögen das – alle ihre großen berühmten Rennen finden übrigens zwischen Ende Februar und Anfang April statt. Dann, wenn es Katzen und Hunde regnet. Ununterbrochen. Wenn die eisige Luft die Gelenke auf dem Fahrrad anschwellen lässt, wenn das Kopfsteinpflaster die Fahrer durchrüttelt, bis endlich deren Nase blutet. Man könnte zwar alles – bei lauen Lüften – in den Spätsommer verlegen – doch wäre das noch flämisch?
Harry van den Bremt, von dem ich so viel gelernt habe, erzählte mir dann immer gern von Karel Van Wijnendaele, der eigentlich Carolus Steylaert hieß, und noch vor dem ersten Weltkrieg die „Sportwereld“ aus der Taufe gehoben hat. 1918 veranstaltete er dann die erste „Ronde“. Auf Schotterpisten aus Hochofenschlacke und matschigen schmalen Kuh-Wegen. Der Sieger brauchte damals zwölf (!) Stunden – übrigens ein Fahrradhändler aus Westflandern.
Und heute? Die „Sportwereld“ veröffentlichte in ihrer Freitagausgabe , wie immer, Fotos der schlimmsten Anstiege der „Ronde“ – doch diesmal tief verschneit! Und noch etwas ist anders: Die Buchmacher sehen am Sonntag keinen Flamen auf dem Siegerpodest, sondern den slowenischen Tour-Triumphator Tadej Pogacar. Vor allem aber favorisieren sie den dänischen Vorjahrssieger Kasper Asgreen.
Der sagte der „Sportwereld“ denn auch keck: „Warum nicht? Schließlich habe ich die Beine dafür.“
Klaus Blume
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