Blog
22
03
2008

Das Erfolgsrezept der wirklich guten Athleten war und ist es, keinem Rennen und keinem Wettkampf aus dem Weg zu gehen. Dabei muss man akzeptieren, auch mal zu verlieren. Aber das ständige bloße Vorbereiten auf den einen Höhepunkt macht keinen Sinn.

Professor Helmut Digel über die Leichtathletik in Deutschland – „Man wundert sich“ – Interview von Christian Ermert in leichtathletik

By GRR 0

Auch nach dem Verlust des Vize-Präsidenten-Amtes ist Helmut Digel der einflussreichste Deutsche im Leichtathletik-Weltverband IAAF. Der 64 Jahre alte Professor leitet das Institut für Sportwissenschaften an der Uni Tübingen und gehört seit 1995 als Council-Mitglied dem höchsten IAAF-Gremium an. Ihm bereitet die mangelnde TV-Präsenz der Leichtathletik Sorgen.

Herr Professor Digel, wie wird die deutsche Leichtathletik derzeit in der internationalen Szene wahrgenommen?

In der IAAF wundert man sich über das Bild, das die deutsche Leichtathletik bei den Hallen-Weltmeisterschaften in Valencia abgegeben hat. Viele Experten betrachten die Entwicklung mit Sorge, hoffen allerdings auch auf den Heimvorteil, den die deutschen Leichtathleten bei den Weltmeisterschaften 2009 in Berlin haben werden, und darauf, dass die deutsche Leichtathletik dort ein Comeback feiert. Der Weltverband benötigt jedenfalls Deutschland als starke Leichtathletik-Nation.

Da kommt der Verlust der Laufbahn im Stuttgarter Gottlieb Daimler-Stadion, der unabwendbar scheint, extrem unpassend, oder?

Wo soll denn die Welt-Leichtathletik künftig in Deutschland stattfinden, wenn wir das schönste Leichtathletik-Stadion der Welt beerdigen? Die Chance, die das Weltfinale für den Erhalt der Bahn geboten hat, wurde nicht genutzt und außerdem haben die Leichtathleten nicht alle Kräfte mobilisiert, um das Stadion zu retten. Mir fallen viele hochrangige Persönlichkeiten ein, die sich sicher für die Leichtathletik im Gottlieb Daimler-Stadion eingesetzt hätten. Die Liste fängt beim Alt-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker an, geht über zahlreiche Vorstandsvorsitzende großer Unternehmen bis zu Pop-Stars und anderen Prominenten.

Was kann sich bis Peking noch tun, damit sich das Bild zum Positiven wandelt?

In den verbleibenden fünf Monaten kommt es auf die einzelnen Athleten und deren Heimtrainer an. Und darauf, dass sich die Deutschen im Vorfeld von Olympia stärker der internationalen Konkurrenz stellen. Das Erfolgsrezept der wirklich guten Athleten war und ist es, keinem Rennen und keinem Wettkampf aus dem Weg zu gehen. Dabei muss man akzeptieren, auch mal zu verlieren. Aber das ständige bloße Vorbereiten auf den einen Höhepunkt macht keinen Sinn.

In Valencia reichten in den meisten Disziplinen „menschliche“ Leistungen zum Sieg und es gab keinen Dopingfall. Ist das ein Indiz dafür, dass die Welt-Leichtathletik auf einem guten Weg im Anti-Doping-Kampf ist?

Es ist seit längerem zu erkennen, dass immer mehr Athleten zu einer sauberen Leichtathletik zurückgefunden haben. Dennoch ist die Doping-Mentalität immer noch sehr weit verbreitet und ich gehe davon aus, dass es in der Leichtathletik eine Zwei-Klassen-Gesellschaft gibt: Auf der einen Seite stehen die ehrlichen Athleten und auf der anderen diejenigen Betrüger, die es sich finanziell leisten können, zu dopen, ohne dabei erwischt zu werden. Was die Verbände gegen diese kriminellen Netzwerke tun, reicht nicht aus. Wir müssen die ehrlichen Athleten noch stärker schützen.

Also hat eine junge Athletin wie Anna Battke recht, wenn sie nicht an die Sauberkeit der Hochleistungs-Leichtathletik glaubt?

Ihr Appell in Valencia war richtig und mutig. Und er zeigt, dass es für die Ehrlichen immer noch schwer ist, an die eigene Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit zu glauben.

Trotz des Aufschwungs, den die deutsche Leichtathletik seit Olympia 2004 genommen hat: Auch im Olympiajahr 2008 scheint die Sportart hierzulande in der öffentlichen Wahrnehmung auf dem Rückzug. Ist der Abwärtstrend bei der TV-Präsenz aufzuhalten?

Die Entwicklung der TV-Präsenz ist in der Tat dramatisch, die Fernsehanstalten reagieren auf die Einschaltquoten, die bei Leichtathletik-Übertragungen nicht mehr die Qualität von früher haben. Das hat die Leichtathletik zum Teil mitverursacht, weil sie sich nicht attraktiv genug darstellt. Aber die Fernsehsender haben auch ihren Teil dazu beigetragen: Sie präsentieren die Leichtathletik nicht so brillant, wie sie es könnten.

Was macht man dort falsch?

Die Konzentration auf die Läufe ist eine Fehlkonzeption, man kann Sprünge und Würfe nicht attraktiv präsentieren, wenn man nur ab und zu einen Versuch einblendet. Dabei geht für den Zuschauer die Dramatik der Wettkämpfe verloren.

Die Leichtathletik ist nicht die einzige Sportart, die von den öffentlich-rechtlichen Sendern neben Fußball, Boxen und Wintersport immer weniger berücksichtigt wird…

…ich halte es für einen Skandal, dass die Leichtathletik und viele andere Sportarten so vernachlässigt werden. Was hat es mit dem öffentlich-rechtlichen Informationsauftrag zu tun, wenn ARD und ZDF am Samstagabend Profi-Boxkämpfe in einer teilweise widerlichen Art inszenieren? Es ist an der Zeit, dass die Rundfunkräte die Interessen der Sportarten wahrnehmen, die immer weniger im Fernsehen stattfinden.

Was kann denn die Leichtathletik tun, um sich für Zuschauer und Fernsehmacher aufzuhübschen?

Vor allem muss die Langeweile verschwinden. Die Wettkämpfe dürfen nicht länger als zweieinhalb Stunden dauern, die Pausen müssen auf ein Minimum reduziert werden. Um das zu erreichen, könnte im Hoch- und Stabhochsprung die Gesamtzahl der Versuche limitiert werden. Auch die Streichung von Disziplinen darf kein Tabu sein. Bisher haben sich die Disziplinen in der Leichtathletik ohne Rücksicht auf den Unterhaltungswert immer stärker vermehrt, das kann so nicht weitergehen. Wir sollten auch darüber nachdenken, Wettkämpfe aus den Stadien auszulagern. Müssen bei einer Hallen-WM die Kugelstoßer in einem Käfig in der Hallenmitte antreten? Für ihren Auftritt kann ich mir attraktivere Schauplätze vorstellen…

Welche Disziplinen sind aus Ihrer Sicht komplett verzichtbar?

Wir müssen sicher nicht alle Läufe akzeptieren. Eine Strecke ist verzichtbar, darüber muss es eine faire Diskussion mit allen Beteiligten geben. Die Athleten müssen zu Opfern bereit sein, schließlich wollen sie mit ihrem Sport Geld verdienen und das geht nur, wenn er insgesamt attraktiv ist.

Wird es bis zur WM 2009 in Berlin gelingen, unserer Sportart wieder zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen?

Ich bin mir sicher, dass die WM 2009 ein großes Fest wird. Es ist natürlich eine große Herausforderung, an jedem WM-Tag das Olympiastadion zu füllen, dazu brauchen wir Gäste aus ganz Deutschland. Um die nach Berlin zu locken, benötigen wir starke Partner. Ich denke dabei auch an die Kirchengemeinden. Die sind flächendeckend vertreten und könnten für ihre Mitglieder Ausflüge nach Berlin und zu den Weltmeisterschaften organisieren.

Interview von Christian Ermert in "leichtathletik" vom 18. März 2008 Nr. 12/13

author: GRR

Comment
0

Leave a reply