Paul Sievert bei „Quer durch Berlin", Mitte der 20er Jahre. © Willy Kohlmey-Kreis-Archiv im Forum für Sportgeschichte (Berlin)
Paul Sievert – Aus dem Leben eines Weltrekordlers – Sportmuseum Berlin
Paul Sievert
* 12. März 1895 in Braunschweig
+ 18. Dezember 1988 in Berlin
Aus dem Leben eines Weltrekordlers
Wer ein guter Artist werden will, muß schon als Kleinkind anfangen. Ähnlich liegen die Dinge auch im heutigen Leistungssport. Auch ich mußte, wenn auch ungewollt und unbewußt, sehr früh mit meinem Training beginnen. Als ich 5 Jahre alt war, verlor ich meinen Vater; da war die Not sehr
groß.
Kaum konnte ich Treppen steigen, da half ich schon meiner Mutter beim Zeitung austragen. Auf der Suche nach' einer billigen Fleischquelle kam ich u.a. in die Schillstraße am Lützow-Platz, wo man 1 Pfd. Fleisch für 0,25 Mark kaufen konnte. Neben dem Schlächter befand sich ein Hutladen,
dessen Besitzer mich eines Tages fragte, ob ich nicht nachmittags nach 14 Uhr für ihn Hüte austragen möchte. Ich sagte erfreut zu und verdiente damit meinen ersten fürstlichen Lohn von 4,50 Reichsmark pro Woche. Allein der tägliche Hin- und Rückweg von unserem Wohnsitz in Moabit zum Lützow-Platz und zurück war für mich Dreikäsehoch ein gutes Training. Meine Schularbeiten machte ich damals ab 4 Uhr früh.
Nach der Schulzeit begann ich eine 4jährige Lehre als Schlosser. Da mir mein inzwischen aufgetauchter Stiefvater vorwarf, er müsse mich (den ungeliebten Stiefsohn) ernähren, trug ich jeden Morgen vor Beginn meiner Lehrlingsarbeit noch Backware aus. Hierfür bekam ich 10,- Reichsmark im Monat und jeden Tag für 30 Pfg. Backwaren; das war damals eine große Tüte voll.
Sonntags machte ich damals einsame Spaziergänge in der Natur. 1911 hörte ich mal von einem Kollegen, daß er in einem Sportverein war. Auf mein Bitten nahm er mich mal mit. Es war ein weiter Weg von Moabit bis zum Spandauer Schiffahrts-Kanal, zu dem man über eine Stunde brauchte. Später stellte ich mich in Fritz Blankenburgs Verein, der BTSV 1850, vor. Ich wurde mitleidig belächelt und man sagte mir, daß aus mir niemals ein Sportsmann werden würde. Das erweckte in mir Trotz und Ehrgeiz.
Entsprechend intensiv trainierte ich dann auch und zwar auf der Straße oder am Wiesenrand, mit dem Erfolg, daß schon wenig später in der Vereins-Zeitung zu lesen stand, der Sievert möge nicht alle Übungen mitmachen, da er sonst Gefahr laufe, die Ehrenpreise nicht unterbringen zu können. Alle diese Preise hatte ich übrigens in Langsfreckenläufen für Jugendliche errungen.
Dann wurde die Clubmeisterschaft im 15 km Gehen ausgetragen und ich wurde auf Anhieb Zweiter.
Als 18jähriger meldete ich 1913 erstmals zu den Berliner Meisterschaften im 50 km Gehen. Der Versuch mißlang, denn nach 42 km war ich so erschöpft, daß ich in ein Auto gezerrt wurde, wo mir Dr. Mallwitz eine Spritze gab. Ich hatte wohl zu wenig trainiert. 1914 machte ich es dann besser. In einem 20 km Vorgabe-Gehen des BÄK bekam ich 2 Minuten Vorgabe vor Brockmann und Bukow. Ich stellte mich aber zu den beiden bekannten Meistern ans Mal und wurde hinter
dem mit hoher Vorgabe bedachten Bialoblocki sensationeller Zweiter, hatte also die beiden vorgenannten bekannten Meistergeher hinter mir gelassen.
Da ich 1914 auch alle sonstigen Wettbewerbe gewonnen hatte, sollte in einem Ausscheidungs- gehen zwischen Meister B. (BÄK) und mir entschieden werden, wer von uns beiden zu einem 10 km Gehen bei den Baltischen Spielen in Malmö entsandt wird. Der weitaus erfahrenere B. überredete mich, mit ihm totes Rennen zu machen, war aber im Ziel dann doch einen Schritt vor mir. Da Fritz Blankenburg aber die Sache durchschaut hatte, fuhr ich dann doch als deutscher Vertreter nach Schweden.
Meine erste Traumreise! In Malmö gab es dann gemeinsam mit einem anderen Deutschen eine abenteuerliche mindestens einstündige Suche nach unserem Quartier, bei der wir Sprachunkundige mit dem Wort Triangel hin und her geschickt wurden, bis uns eine zufällig des Weges kommende deutsche Dame auf den richtigen Weg brachte.
Triangel war ein großer Platz, an dem unsere Pension lag. Im Vergleich zu meinem Zuhause, wo Schmalhans immer noch Küchenmeister war, befand ich mich hier plötzlich in einem Schlaraffenland, in dem man essen und trinken konnte, was man wollte.
Vom Wettkampf selbst habe ich auch heute noch das Gefühl, daß ich nicht gewinnen sollte, so oft haben mich auf der Strecke die Kampfrichter behindert und ermahnt. Erst im Stadion selbst, wo mich niemand mehr behinderte, bewies ich in einem rasanten Rundenendspurt, was in mir steckte.
Ich wurde Zweiter und bekam bei der Preisverteilung, bei der der schwedische Sieger überschwenglich und lautstark gefeiert wurde, vom damaligen schwedischen Kronprinzen die Silbermedaille überreicht.
Die deutsche Mobilmachung, einen Tag vor den deutschen Leichtathletikmeisterschaften begrub für mich und viele, viele andere empor strebende junge deutsche Leichtathleten alle Hoffiiungen, Wünsche und Ziele. Ich wollte 1914 unbedingt die 3000 m Meisterschaft im Gehen gewinnen und war mit aller Energie dabei, mich für die Olympischen Spiele 1916 in Berlin in Hochform zu bringen, für die ich als Kandidat bereits benannt worden war.
Daß ich während des nun folgenden 1. Weltkrieges drei Gepäckmärsche gewann und 16 Jahre zu spät 1932 in Los Angeles als 37jähriger doch noch Olympiakämpfer und als sechster im 50 km Gehen relativ erfolgreich wurde, ist und bleibt für mich nur ein schwacher Trost für die mir in der Jugend entgangenen sportlichen Möglichkeiten.
Paul Sievert, Berlin 1979
Erfolge
Brandenburgischer Meister:
1919 50 km Gehen
1923 25 km
1923 5 km "
1924 5 km "
1926 50 km "
1928 50 km "
1929 50 fern "
1931 50 km "
1932 50 fern "
1934 50 km "
1934 SO km Geher-Mannschaft
Deutscher Meister:
1924 50 km Gehen
1925 50 km "
1933 50 km "
1934 50 km Geher-Mannschaft
Olympische Spiele:
1932 50 km Gehen: 6. Platz
Rekorde:
Deutsche Rekorde:
25 km Gehen: 2:05:12,8 h
15 km Gehen: 1:11:05 h (1927)
1-h-Paargehen mitJenkel: 14,936 km
Weltrekord:
50 km Gehen: 4:34:03 am 5. Oktober
1924 bei der DM in München. Dieser
Rekord bestand bis zum 28. Juli 1951.
Die Paul-Sievert-Medaille wird vom
Willy Kohlmey-Kreis (WKK) jährlich an
den Deutschen Meister im 50 km Gehen
verliehen. Paul Sievert war seit dem 6.
Januar 1958 Mitglied des WKK, er regte
das „Ehrenalbum" an und beteiligte sich
mit großem Engagement am Auflau des
WKK-Archivs.
Die persönlichen Erinnerungsstücke und
Sportauszeichnungen von Paul Sievert,
die den II. Weltkrieg überstanden haben,
werden im Willy Kohlmey-Kreis-Archiv
im Forum ftir Sportgeschichte – Fördererverein
für das Sportmuseum Berlin bewahrt. (Tel.: 030-3 05 83 00)
Sportmuseum Berlin – geste/Berlin, Mai 1997